Archiv

Ulrich Herbert
Überraschende Thesen zur deutschen Geschichte

Nationale Geschichte sei eigentlich ein Anachronismus, schreibt Ulrich Herbert im Vorwort seines Buches "Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert". Er schafft es jedoch, mit Blick auf das historische europäische Umfeld neue Perspektiven zu eröffnen.

Von Nils Beintker | 19.05.2014
    Blick in ein Frankfurter Kaufhaus am 3.12.1963, Schwarz-Weiß-Aufnahme, Menschen stehen an Kassen und Verkaufsständen
    Frankfurter Kaufhaus am 3.12.1963: Das Wirtschaftswunder hat die Zustimmung der westdeutschen Bevölkerung zur Demokratie enorm gesteigert, schreibt Ulrich Herbert. (dpa/picture alliance/Roland Witschel)
    Die Zahlen waren traumhaft: In den Jahren zwischen 1870 und 1900 stieg die Roheisen-Produktion in den deutschen Stahlhütten von 1,6 auf acht Millionen Tonnen im Jahr. Die noch jungen Chemie-Unternehmen wurden in kurzer Zeit führend auf dem Weltmarkt, ein Drittel der Weltproduktion in der elektrotechnischen Industrie wiederum entfiel auf die deutschen Firmen, zur Jahrhundertwende lagen die Wachstumsraten in diesem Sektor bei sagenhaften 16 Prozent. Ulrich Herberts große "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert" beginnt mit einer Bilanz der noch jungen Hochindustrialisierung. Alle diese Statistiken markieren auch eine Fallhöhe, die für das wirtschaftlich mächtige, politisch aber rückständige Deutsche Kaiserreich spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verheerend wurde.
    "Deutschland war - neben den USA - das erfolgreichste neue Industrieland der Welt und wenn man das dann mit der unverstandenen Niederlage des Ersten Weltkriegs multipliziert, dann versteht man etwas von der unglaublichen Spannung, die nun aufkam in Deutschland, weil doch ein Großteil der Menschen der Überzeugung war, dass dieses politische System, das man in Deutschland hatte, nicht die richtige Antwort sein konnte auf diese Veränderungen hin zur Industriegesellschaft."
    Die gut 100 Jahre währende Phase der Hochindustrialisierung gibt den Rahmen für Ulrich Herberts Neuvermessung der deutschen Geschichte vor. Seine breite und perspektivenreiche Darstellung beginnt nicht erst im Jahr 1900, sondern führt zurück in die Gründerzeit und reicht bis in unsere Gegenwart, bis zum Ausbruch der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Der Kapitalismus und die mit ihm verbundene Idee einer liberalen, demokratisch fundierten gesellschaftlichen Ordnung werden dabei zu Leitmotiven in der Darstellung eines Landes, das im 20. Jahrhundert wie kein anderes die Geschichte Europas und der Welt prägte, mit allen Extremen, ungeheuer brutal.
    "Wenn man sieht, dass der liberale Kapitalismus, die liberale Ordnung, mal mehr oder weniger demokratisch, mal mehr oder weniger sozial, in den verschiedenen Ländern nach 1918/19 ja obsiegt hatte - oder jedenfalls schien es so - während auf der anderen Seite mit dem Bolschewismus, später dann, ab 1929 mit dem Stalinismus eine radikale linke Ordnungs-Alternative bereits existierte und dann die rechtsradikale Variante in Deutschland aufschien: Hier gab es zwei radikale Alternativen zur liberalen Gesellschaft. Und diese liberale Gesellschaft schien abgewirtschaftet zu haben."
    Synthese der gegenwärtigen historischen Forschung
    Die Ursprünge dieser - Zitat - "radikalen Alternativen" zur liberalen Demokratie datiert Ulrich Herbert, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurück, findet sie etwa im stumpfen, völkischen Radikalnationalismus des Alldeutschen Verbandes. Sie waren Teil der Moderne, keine rückwärtsgewandten Gegenentwürfe.
    "(...) die Erschütterung der Gesellschaften des westlichen Europa hatte mit der Phase der Hochindustrialisierung und den damit verbundenen fundamentalen Veränderungsprozessen der Jahrhundertwende eingesetzt. Alle großen politischen Massenbewegungen, die das 20. Jahrhundert so nachhaltig prägten, waren in dieser Zeit entstanden."
    Ulrich Herbert legt mit seiner Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert insofern eine Synthese der gegenwärtigen historischen Forschung vor. Er greift viele wichtige Diskussionen auf, etwa, am Beispiel des Nationalsozialismus, die über die Frage nach der radikalen Modernität des "Dritten Reiches", ebenso die über die schrittweise Enthemmung der Gewalt und die Vernichtung der europäischen Juden. Dann wiederum gibt er einzelnen historischen Entwicklungen mehr Raum und Recht als etwa Hans-Ulrich Wehler, der in seiner wegweisenden "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" die DDR als - Zitat - "sowjetische Satrapie" beschrieb. Und schließlich formuliert Herbert immer wieder überraschende, originelle Thesen, etwa mit Blick auf die Entwicklung der jungen Bundesrepublik zu einer mehr oder weniger stabilen Demokratie.
    "Die wirtschaftliche Entwicklung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hat die Zustimmung der westdeutschen Bevölkerung zu diesem neuen, zunächst ja nur aufs Provisorische gerichteten Staatswesen enorm gesteigert, ja eigentlich erst begründet. Nach einem halben Jahrhundert der Katastrophen und angesichts der Lage nach dem 8. Mai 1945 kam dieser explosionsartige Boom ganz überraschend, und in dem Begriff des 'Wirtschaftswunders' schlug sich diese Form der positiven Überwältigung ja auch sinnfällig nieder."
    "Ein Glücksfall für die Deutschen war es, dass der Kalte Krieg begann. Denn dadurch, dass diese Weltmachtzuspitzung nach 1945 so schnell so scharf wurde, wurde das deutsche Wirtschaftspotenzial von den Alliierten dringend gebraucht, sodass ein Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft geradezu eine Voraussetzung für das Wiedererstarken der westeuropäischen Wirtschaft wurde - auf der anderen Seite aber auch die Deutschen fest in das westliche System integriert und dadurch gewissermaßen domestiziert wurden."
    Bereicherung für das Nachdenken über deutsche Geschichte
    Immer wieder vergleicht Ulrich Herbert die Geschichte Deutschlands mit der anderer europäischer Länder im 20. Jahrhundert - auch das spricht sehr für diese Darstellung, die Teil einer neuen Reihe von Monografien über einzelne Staaten ist. In diesen Büchern werden einzelne Jahre ausführlicher in eigenen Kapiteln beschrieben - eine Einladung zum Vergleich. In Ulrich Herberts deutscher Geschichte sind das unter anderem die Jahre 1926 und 1965: erhellende, kenntnisreiche Skizzen über ein Land einmal zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise, zum anderen mitten in einer modernen Planungseuphorie.
    "Wenn man sieht, wie zu dieser Zeit gebaut wird: Die Innenstädte werden umgebaut, die Hochhaus-Systeme entstehen. Das ist in der DDR ganz ähnlich, das ist eigentlich in allen Industrieländern ähnlich, weil man jetzt das Gefühl hat: So, jetzt lösen wir die soziale Frage, jetzt bauen wir endlich Wohnungen, und zwar reihenweise. Jetzt haben wir die Energiefrage gelöst durch das Atom - also das ist doch ein sehr aufschlussreiches Jahr. Einerseits durch das sehr stark gepolsterte Selbstbewusstsein des Fortschritts. Und andererseits: Hier beginnt die kulturelle Diversität, die Pluralisierung wird hier schon erkennbar."
    Auch da ist vieles bekannt, etwa aus den erhellenden Forschungen Stefan Wolles zur DDR. Trotzdem ist Ulrich Herberts Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ein wichtiges Buch. Einerseits, weil es viele historische Detailfragen der vergangenen Jahre bündelt und zusammenfasst. Zum anderen weil es versucht, die deutsche Geschichte vor dem Hintergrund der europäischen zu deuten und zu verstehen. Ein Grundlagenwerk, das das Nachdenken über die deutsche Geschichte in der Moderne unbedingt bereichert.
    Ulrich Herbert: Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. 1451 Seiten, C.H.Beck Verlag, 39,95 Euro.