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Ulrich Wickert zu 40 Jahre "Tagesthemen"
Nachrichten sind "die Stärke der Öffentlich-Rechtlichen"

15 Jahre lang prägte Ulrich Wickert als Moderator die Nachrichtensendung ARD-"Tagesthemen", die heute 40 Jahre alt werden. Für ihn sind seriöse Nachrichten noch heute die Stärke der öffentlich-rechtlichen Programme: "80 Prozent sagen, das ist sehr glaubwürdig, was da gebracht wird", betonte Wickert im Dlf. "Das finde ich schon sensationell."

Ulrich Wickert im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Ulrich Wickert, aufgenommen im Oktober 2017 auf der 69. Frankfurter Buchmesse.
    Ulrich Wickert bei der Frankfurter Buchmesse 2017. (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Mario Dobovisek: 40 Jahre "Tagesthemen" in der ARD. Ulrich Wickert wird heute noch gern "Mister Tagesthemen" genannt. 15 Jahre lang moderierte er die Sendung, von '91 bis 2006, war außerdem Korrespondent in Frankreich und in den USA. Jetzt ist er bei uns am Telefon. Ich grüße Sie, Herr Wickert!
    Ulrich Wickert: Morgen, Herr Dobovisek!
    Dobovisek: Machen wir gemeinsam einen Ausflug in die Vergangenheit. Vor einer blauen Wand, der "Tagesthemen"-Schriftzug darauf, saßen einst die Moderatoren. Gab es irgendwo ein Erdbeben zum Beispiel, dann wurde eine Landkarte eingeblendet, auf ihr die Kreise rund um das Epizentrum. Dazu die nüchterne Meldung, in So-und-so sind heute bei einem Erdbeben mindestens 200 Menschen ums Leben gekommen. Dazu dann ein nüchterner Bericht. Heute dagegen Breaking News, die Moderatoren stehen dank Computertechnik und Riesenhintergrundbildern mittendrin im Geschehen, schalten dann zu ihrem Korrespondenten, der sich aus den Trümmern meldet. Schnell, unmittelbar, nah dran - wie sehr, Herr Wickert, wünschen Sie sich manchmal die alten, die zurückgenommenen "Tagesthemen" zurück?
    Wickert: Ach, wissen Sie, ich habe nicht das Gefühl, dass sich Wesentliches geändert hat. Es hat sich einiges geändert dadurch, dass die Technik jetzt besser ist. Sie werden sich wahrscheinlich daran erinnern, dass man häufig sagte: "Ich schalte jetzt zu meinem Korrespondent Leclerque nach Kairo", und dann hörte man den immer nur "I want to speak to Germany, I want to speak to Germany, hallo, hallo". Diese Dinge sind vorbei. Ja, das Studio ist schick und elegant, keine Frage. Aber so nachrichtlich, wie Sie das eben dargestellt haben, waren die "Tagesthemen" nie.
    "Ich habe nicht das Gefühl, dass sich Wesentliches geändert hat"
    Dobovisek: Fernsehmacher sagen trotzdem immer gern, die Sehgewohnheiten, die verändern sich und mit ihnen auch das Fernsehen. Wahrscheinlich wird auch andersherum ein Schuh draus, denn das Fernsehen verändert uns und die Gesellschaft - zu einem Besseren?
    Wickert: Ach, wissen Sie, ich glaube, dass das Fernsehen vieles bietet, und es gibt verschiedene Arten von Fernsehprogrammen. Wir haben gelernt, dass es inzwischen doch eine Aufsplitterung in Programm- ich will mal sagen -gebiete gibt. Sie haben einen Kinderkanal, Sie haben Phoenix für die Dokumentation und die Politik. Sie haben ARTE für mehr das Art-volle. Und dann haben Sie die großen Programme. Man spricht ja heute nicht mehr von dem Ersten, sondern von der Familie des Ersten.
    Dobovisek: Und es gibt ja über die Familie hinaus auch noch die Privaten. Was ändert sich in diesen 40 Jahren am Gravierendsten, wenn Sie zurückblicken?
    Wickert: Ich würde schon sagen, das Entstehen der privaten Sender und der privaten Konkurrenz hat dazu geführt, dass auch die Öffentlich-Rechtlichen sich fragen mussten, wer sind wir. Und sie waren am Anfang völlig verunsichert und gingen ganz stark auch in das Unterhaltende. Dann hatten wir das Glück, dass es ein paar ganz wichtige politische Großereignisse gab, also der Zusammenbruch der Sowjetunion, die deutsche Einheit. Und plötzlich haben die Öffentlich-Rechtlichen gemerkt, das ist unsere Stärke. Und das ist auch die Stärke der Öffentlich-Rechtlichen geblieben. Die 20-Uhr-"Tagesschau" ist, und das glaubt man in Deutschland gar nicht, die am meisten gesehene Nachrichtensendung auf der Welt. Selbst in den USA gibt es keine Nachrichtensendung, die täglich im Schnitt zehn Millionen Zuschauer hat.
    Dobovisek: Wird das so bleiben?
    Wickert: Ich wage keine Vorhersage. Aber das Erstaunliche ist, dass die "Tagesschau" und die "Tagesthemen" in den letzten Jahrzehnten nicht abgenommen haben. Die 20-Uhr-"Tagesschau" hat zugenommen, und zwar auch bei den jungen Zuschauern.
    Glaubwürdigkeit weiterhin hoch
    Dobovisek: Jetzt hören wir immer wieder Schlagworte wie "Lügenpresse", "Staatsfunk", "Fake News". Die Journalisten hätten die AfD groß gemacht und die Jamaika-Koalition kaputt gemacht. Was ist dran an dieser Kritik?
    Wickert: Das sind ganz gleich ganz viele Fragen auf einmal. Erstens mal, "Lügenpresse" ist etwas, was von den Kommunisten Anfang des 20. Jahrhunderts benutzt wurde gegen die freie Presse, später von den Faschisten benutzt wurde gegen die freie Presse. Das nehme ich gar nicht so ernst und sage meinen Kollegen, die das manchmal ernst nehmen: Seid nicht so weinerlich.
    Zum Zweiten: Wenn Sie seriöse Umfragen sich anschauen, dann bekommen gerade die Nachrichtensendungen, ob das nun Deutschlandfunk ist oder die anderen Sendungen in den Radioanstalten oder aber im Fernsehen, einen unglaublichen Zuspruch. 80 Prozent sagen, wir glauben das, das ist sehr, sehr glaubwürdig, was da gebracht wird. Das finde ich schon sensationell.
    "Informationen aus dem Internet sind sehr oberflächlich"
    Dobovisek: Aber das ändert sich. Wir sehen auch, wie sich diese Umfragewerte verschieben, und wir reden über die vergangenen 40 Jahre. Wenn wir 40 Jahre weiter die Uhr drehen - sehen Sie weiterhin eine Legitimationskrise, wie sie ja oft auch heraufbeschworen wird, vielleicht, auch ein Stück weit.
    Wickert: Das Schlimme ist, dass die Legitimationskrise politisch gefärbt ist. Die kommt natürlich von der AfD, auch von Teilen der CSU und der CDU, die das infrage stellen. Aber die wollen natürlich, dass die Privaten, sozusagen das vom Markt bestimmte Fernsehen stärker wird. Und das halte ich für sehr gefährlich.
    Aber die sehr viel größere Gefahr entsteht natürlich dadurch, dass die Leute sagen, wir bekommen ja jetzt unsere Informationen aus dem Internet, und die Informationen aus dem Internet sind eben doch sehr, sehr oberflächlich und zum großen Teil falsch. Von den zehn Nachrichten im Internet, die im letzten Jahr am meisten betreffend Angela Merkel angeklickt wurden, waren sieben Fake News. Und das ist das Problematische.
    Dobovisek: Greifen wir uns da mal einen aktuellen Fall heraus. Greifen wir uns die Jamaika-Sondierungen noch einmal heraus. Da sahen wir twitternde Politiker, Journalisten, die alles sofort aufgegriffen haben, und wir sahen dann die Protagonisten aus den Verhandlungen allabendlich in den Talkshows sitzen. War das, Herr Wickert, ein Medien- oder ein Politikdebakel?
    Wickert: Politikdebakel würde ich sagen. Es gab ein Mediendebakel vorher, das Kanzlerduell, das war meines Erachtens ein Mediendebakel, völlig falsch von den Anstalten angesetzt, völlig falsch von den Kollegen dann auch geführt, weil die nur rückwärtsgewandt waren und nicht vorwärtsgewandt. Aber ich glaube, dass diese Balkongeschichten und die Twitter-Geschichten meines Erachtens ein falsch verstandener Informationsfluss von den Politikern gewesen ist.
    "Auch Politiker müssen lernen, sehr viel präziser zu sein"
    Dobovisek: Was lernen wir daraus?
    Wickert: Vielleicht, wir brauchen alle einen Medienunterricht, und auch die Politiker brauchen Medienunterricht.
    Dobovisek: Das bedeutet?
    Wickert: Das bedeutet, dass wir lernen müssen, damit umzugehen. Der Verbraucher muss wissen, wie kann ich seriöse Nachrichten unterscheiden von unseriösen Nachrichten. Als Politiker wiederum müsste ich lernen, wie kann ich denn politische Informationen so vermitteln, dass sie einen positiven Effekt haben. Ich will Ihnen ein Beispiel von Silvesterabend geben, wo der Macron eine Silvesteransprache von 19 Minuten gehalten hat. Der wollte natürlich erklären, wie Politik, so was er alles noch vorhat. Und da gab es sofort eine große Reaktion von allen Leuten, die haben gesagt, das ist zu lang. Dann hat Macron sofort, am selben Abend noch, eine Ein-Minuten-Zusammenfassung über Twitter gegeben. Und das Interessante war, wenn Sie sich das anguckten, sagte man, das war sehr viel präziser. Und ich glaube, auch Politiker müssen lernen, sehr viel präziser zu sein.
    Dobovisek: Zuschauer vielleicht genauso, wenn sie zuhören. Und wenn wir auch allgegenwärtig immer das Wort "Krise" hören, das Wort "Katastrophe" - die globale Krise, in der wir stecken, die uns immer so verkauft wird als: Krieg in Syrien, Konflikte in der Ukraine, im Jemen, die EU steckt in der Krise, aus dem Weißen Haus in Washington hören wir mehr verstörende als erhellende Töne - ist diese globale Katastrophe tatsächlich so groß, wie wir sie in den Medien immer gern zeichnen?
    Wickert: Ich muss Ihnen zugestehen, dass ich es furchtbar finde, dass in den Nachrichten es sofort heißt, Regierungskrise, wenn sich zwei Minister mal widersprechen. Das ist eine ganz normale Geschichte und ist keine Krise. Was mich sehr ärgert, ist, wenn auch in den deutschen Hörfunknachrichten plötzlich dann, meistens am Wochenende, von der großen Wasserknappheit gesprochen wird. Dann denke ich immer, Deutschland, hier, wo es dauernd regnet, da wird das Wasser knapp. Was für eine furchtbare Vorstellung. Nein, es ist vielleicht in Sibirien oder in Afrika so, aber es wird sozusagen in den Nachrichten gebracht, Wasserknappheit, das ist was ganz Schreckliches. Aber es wird nicht gesagt "nicht bei uns", und dann ist es schon wieder keine Meldung.
    Individalisierung der Medienlandschaft
    Dobovisek: Sie haben sich mal vor Studenten als Handwerker bezeichnet. Beherrschen wir Handwerker unser Handwerkszeug, die Werkzeuge nicht mehr?
    Wickert: Na ja, es gibt Handwerker, die können ganz fein Ebenisten-Arbeiten machen, und manche machen doch einen groben Klotz. Das ist bei manchen Handwerkern so und so.
    Dobovisek: Und wird es dieses Handwerk, so wie wir es jetzt kennen, in 40 Jahren noch geben?
    Wickert: Ich glaube, ja. Ich hoffe auch, dass es das wird. Alles andere wäre schrecklich. Ich glaube, das Handwerk wird es noch geben, weil es auch noch den Bedarf gibt. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir eine Veränderung der Presselandschaft nicht nur dadurch haben, dass die Tageszeitungen immer weiter zurückgehen, sondern die Gesellschaft verändert sich. Sie ist so individualisiert, dass die Leute jetzt nicht mehr eine große Illustrierte lesen wollen, sondern der eine will "Beef" haben, wo er seine Erfahrungen über das Fleisch erfährt, der andere will etwas haben, wo er wandern gehen kann. Der Dritte will etwas haben, wo er das gemütliche Leben hat. Also, die Leute werden immer spezieller in der Auswahl dessen, was sie wahrnehmen wollen.
    Dobovisek: 40 Jahre "Tagesthemen". Ihr früherer Moderator Ulrich Wickert. Und noch so ein "Tagesthemen"-Klassiker, Achtung, jetzt kommt er: Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.