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Ulrike Ackermann vs. Jana Hensel
Unerreichbar oder unverzichtbar: Gibt es ein "Wir"?

Ost/West, arm/reich, Radikalisierungen von rechts und links - die Spaltungen in Deutschland sind vielfältig. Wie lässt sich Gemeinsamkeit herstellen? Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann fordert weniger Aufspaltung in Partikularinteressen, die Journalistin Jana Hensel plädiert für mehr Teilhabe durch politische Entscheidungen.

Moderation: Anja Reinhardt |
Eine Illustration zeigt zwei Hände, die eine Kette von bunten Papierfiguren halten.
Zusammenhalt der Gesellschaft (Symbolbild) (imago images / fStop Images / Malte Mueller)

Ulrike Ackermann: Zerfall in immer neue, kleinere Kollektive

"Über Jahrhunderte haben wir beobachten können, wie im Prozess der Zivilisation der Einzelne sich aus Zwangskollektiven befreit hat. Also aus der Sippe, aus dem Stamm, aus der Dorfgemeinschaft, später aus der Gutsherrenschaft, aus der Zunft. In diesen Individualisierungsprozessen hat er sich aus kollektiven Verstrickungen herausgelöst, und die freien Bürger sind entstanden. Wir haben heute eine freiheitliche Gesellschaft, in der die Pluralität der Lebensstile, die unterschiedlichen Interessen zählen, aber wir Konflikte eingehen, Konsens wieder stiften können. Und wir in freiwilligen Zusammenhängen und in freiwilligen Bindungen leben.
Aber in Krisenzeiten ist der Wunsch, sich in einem Kollektiv wärmend aufzuhalten und das "Ich" so ein wenig an den Nagel zu hängen, besonders stark. Natürlich müssen auch alle zusammenrücken. Aber was wir seit ein paar Jahren unabhängig von Corona beobachten können, dass die Gesellschaft in immer neue, kleinere Kollektive zerfällt, die ganz vehement für ihre partikularen Interessen eintreten und dieses freiheitliche allgemeine 'Wir' ein wenig aus dem Blick gerät. Das heißt, dieser neue Kollektivismus sorgt dafür, dass die Gesellschaft sich weiter fragmentiert."
Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin, Soziologin und Gründerin des John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung. Zuletzt erschien ihr Buch "Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle".

Jana Hensel: "Wir plädieren für ein neues 'Wir'"

"Ich freue mich sehr über diesen Themenschwerpunkt 'Die Suche nach dem Wir'. Ich glaube, wir müssen ein neues "Wir" suchen, ich glaube, unsere alte Definition taugt nicht mehr. Mit der Migrationsforscherin Naika Foroutan habe ich gerade ein Buch gemacht, 'Die Gesellschaft der Anderen', wir erzählen die Geschichte Deutschlands seit der Wiedervereinigung völlig neu, nämlich aus postmigrantischer und ostdeutscher Perspektive, weil wir erkannt haben, dass die entscheidenden Diskurse, Streit und auch Auseinandersetzungen der vergangenen 30 Jahre, dass die Gruppen der Migranten, Menschen mit Einwanderungsgeschichte und die Ostdeutschen im Zentrum vieler Konflikte und Auseinandersetzungen stehen, ohne dass wir das Recht haben, aus hegemonialer Perspektive diese Erfahrungen erzählen zu können.
Und wir plädieren für ein neues 'Wir', das auch diese Gruppen einschließt, das sind keine marginalen Gruppen, aber es sind marginalisierte Gruppen – 25 Prozent der Deutschen haben eine Migrationsgeschichte, rund 25 Prozent der Deutschen sind Ostdeutsche, wenn wir sie analog des Migrationshintergrundes erheben – also, wir haben doch entscheidende Teile der Gesellschaft, die sich in dieser Mehrheitsgesellschaftlichen – und ja, häufig westdeutschen, häufig weißen, häufig männlichen Perspektive – nicht mehr wiederfinden.
Autorin und Journalistin Jana Hensel
Jana Hensel ist Journalistin und Autorin, sie schreibt für die Wochenzeitung "Die Zeit" und ist Autorin von u.a. den Büchern "Zonenkinder" und zusammen mit Naika Foroutan: "Die Gesellschaft der Anderen."