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Ulrike Moser: "Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte"
Vom Dichterleiden zur Schmutzkrankheit

Als Teenager schwärmte Ulrike Moser nach eigenem Bekunden für schwindsüchtige russische Dichter in der nervösen Zeit des frühen 20. Jahrhunderts. Nun hat die Historikerin die historisch-gesellschaftliche Dimension der lebensgefährlichen Krankheit Tuberkulose zum Thema eines spannenden Buches gemacht.

Von Brigitte van Kann | 27.12.2018
    Ulrikes Mosers Buch "Schwindsucht" vor der Ausblick auf die Alpen in Davos
    Die Schwindsucht - einst eine romantisch verklärte Krankheit (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag / Hintergrund: Dietrich Karl Mäurer, ARD-Studio Zürich)
    Die Tuberkulose ist eine bekanntlich eine Infektionskrankheit, ausgelöst durch das mycobacterium tuberkulosis. Es kann viele Organe des menschlichen Körpers befallen, nistet sich aber bevorzugt in der Lunge ein. Im Volksmund wird die Lungentuberkulose auch als Schwindsucht bezeichnet. Wie kommt man darauf, ein Buch ausgerechnet über diese Krankheit zu schreiben?
    "Die Schwindsucht beschäftigt mich tatsächlich schon ziemlich lange, als literarisches Sujet, wenn man an den "Zauberberg" denkt, sie war aber schon Teil meiner Jugend- und Pubertätserfahrung: Ich war unheimlich begeistert von der Zeit der Jahrhundertwende, sah mich als exzentrische femme fatale über die Champs- Elysées schlendern, einen schwarzen Panther an der Leine, und natürlich auf dem Weg zu einem jungen, schwindsüchtigen russischen Dichter. [...] Ich glaube nicht, dass mir damals bewusst war, dass Schwindsucht und Tuberkulose dasselbe sind. Tuberkulose, das war eine gefährliche Infektionskrankheit, aber Schwindsucht – das musste etwas mit Literatur und Dichtung zu tun haben, das musste etwas Feines, Edleres sein."
    Schwindsucht – die edle Krankheit der Dichter
    Bei diesem romantisch verklärten Bild der Krankheit ist Ulrike Moser damals nicht aufgegangen, welche politisch-sozialen Dimensionen der Zeitgeschichte sich in der Wertung der Schwindsucht und im Umgang mit den Erkrankten spiegeln.
    "Ich glaube, dass man an Krankheiten sehr viel erzählen kann. Wie wir Krankheit sehen, wie wir sie deuten, erzählt viel über eine Zeit, über das Menschenbild, den Umgang mit Schwachen ... Ich glaube, dass Krankheit ein Fokus ist, mit dem man sowohl Alltagsgeschichte erzählen kann, als auch die großen Linien: Krankheiten prägen Kunst, Krankheiten befördern Gesetze, Institutionen wie zum Beispiel Sanatorien. Ich glaube, man kann daran ein ganzes Panorama entfalten."
    Das ist Ulrike Moser in ihrem Buch über die Schwindsucht dann auch gelungen: durch das Prisma der Krankheit ein Panorama deutscher Gesellschaftsgeschichte von der Romantik bis heute aufzuziehen. Dazu hat die Autorin Gemälde betrachtet, Opernlibretti, Romane, Erzählungen und Memoiren gelesen, aber auch Statistiken von Todesursachen analysiert, das Massenelend, das mit der Industrialisierung einherging, ebenso studiert wie Städtebau, die Geschichte der Heilstätten und die Medizingeschichte von der Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch im Jahr 1882 bis zur Entwicklung des Streptomyzins 1944. Mit dem Streptomyzin brach die Ära der Antibiotika an, der ersten Medikamente, die in der Lage waren, Tuberkulose selbst in fortgeschrittenem Stadium zu heilen. Ulrike Moser betont den dramatischen Image-Wandel, den die Krankheit in den letzten beiden Jahrhunderten erfahren hat – und der ein bezeichnendes Licht wirft auf den Umgang mit der Krankheit und mit den Erkrankten. In diesem Sinne bezeichnet sie die Lungentuberkulose als "Signalkrankheit".
    Tuberkulose - eine Abstiegsgeschichte
    "Es gibt natürlich auch andere Krankheiten, die mal positiv, mal negativ gedeutet wurden, aber die Schwindsucht ist eigentlich eine Abstiegsgeschichte, die Geschichte einer Abwertung, von der Verklärung in der Romantik, wo sie zum Stigma des sensiblen Künstlers wurde, zur Schmutzkrankheit, als sie mit dem Fortschreiten der Industrialisierung zur Massenkrankheit und in Zusammenhang mit mangelnder Hygiene, aber auch abweichendem, unbürgerlichem Verhalten gebracht wurde. Dann wird die Krankheit abgewertet durch den Eugenik-Diskurs, wo sie als Krankheit minderwertiger Menschen bezeichnet wird, und dann schließlich der Tiefpunkt in der NS-Gesundheitspolitik, wo Kranke in regelrechte Krankengefängnisse gesperrt werden, wo sie nicht nur nicht versorgt werden, sondern ihr Sterben auch noch beschleunigt wird: eine Zeit, in der grauenhafte Menschenversuche auch an Tuberkulosekranken vorgenommen wurden. Diese Kranken gehören auch zu den ersten Opfern der Euthanasie."
    Durch die enge Fokussierung auf die Schwindsucht entsteht ein Gesellschaftsbild, das dennoch weit gefasst ist und das man so noch nicht betrachtet hat: Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die gründerzeitliche Architektur großer, eleganter Touristenhotels mit den zur Südseite balkonbewehrten Fassaden sich der Anlage von Lungensanatorien mit ihren obligatorischen Liegekuren verdankt. Dass Robert Koch, der 1905 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, nicht nur ein verdienter Wissenschaftler, sondern auch ein skrupelloser Geschäftemacher war, der ein absolut unwirksames, ja schädliches Medikament namens Tuberkulin in Umlauf brachte. Oder dass ein ideologischer Weg von der bürgerlichen Definition der Schwindsucht als Krankheit schmutziger Leute mit zweifelhaftem Lebenswandel hinführt zu eugenischen Vorstellungen vom gesunden Volkskörper, die Sauberkeit, Disziplin und Leistungsbereitschaft zur völkischen Pflicht erheben. Und dass es von dort nicht weit ist bis zur nationalsozialistischen Euthanasie, der Ausmerzung angeblich minderwertigen Lebens, zu denen Tuberkulosekranke ebenfalls gezählt wurden.
    KZ-Versuche an Tuberkulosekranken
    Man weiß natürlich von medizinischen Versuchen in Konzentrationslagern. Welche Ausmaße dabei die skrupellosen Experimente mit Tuberkelbazillen an wehrlosen Menschen annahmen, erfährt man in diesem Buch. Durch das Prisma der Tuberkulose betrachtet, offenbart sich das Menschenverachtende der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis mit ganzer Wucht.
    Einen ausführlichen Exkurs widmet die Autorin der Strafverfolgung der Täter in der Nachkriegszeit: Haarsträubend milde ist die Nachkriegsjustiz mit den an diesen Verbrechen beteiligten Ärzten umgegangen!
    Immer wieder biegt Ulrike Moser zu solchen Exkursen ab, die dem Thema eine weitere Dimension verleihen. Dazu gehören auch die in loser Folge eingestreuten bewegenden Tuberkulose-Biographien etwa von Novalis, Chopin, Klabund und Kokoschka.
    Die Fülle des gesichteten Materials muss geradezu erdrückend gewesen sein. Für den Leser hat die Historikerin Ulrike Moser es zu einer facettenreichen Erzählung über die Geschichte der Schwindsucht aufbereitet – in bündiger, gleichwohl eleganter Sprache, die dem Sachbuch jede Trockenheit nimmt. Zugriff und Stil verraten die Journalistin: Ulrike Moser schreibt unter anderem für Geo.
    Zum Schluss ein Blick auf die Tuberkulose heute: Ist die Krankheit durch den Einsatz von Antibiotika besiegt? Mitnichten: Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verhalf Aids dem Tuberkelbazillus zu einem "dramatischen Comeback", wie Ulrike Moser schreibt. Resistente Tuberkulosestämme breiten sich aus. TBC gehört heute zu den zehn häufigsten Todesursachen weltweit. Zwei Drittel der Infizierten leben in den Armutsregionen Afrikas, Osteuropas und Zentralasiens. In den reichen westlichen Ländern ist die Schwindsucht im wahrsten Sinne des Wortes kein Thema mehr.
    "Ich denke, dass sie heute als historisches Leiden wahrgenommen wird, obwohl sie höchst gegenwärtig ist. In unseren Breiten, in Deutschland wird kaum jemand mit ihr in Kontakt kommen, auch wenn sie nach wie vor da ist: Aber sie ist eher zur Krankheit von Randgruppen geworden, der Armut, der Obdachlosigkeit, der Migration. Da sie heute eine Randerscheinung geworden ist, ist sie auch nicht mehr wahrnehmbar in Kunst und Literatur. Es sind heute einfach andere Krankheiten, zum Beispiel Demenz-Erkrankungen. Alzheimer – das wäre die Krankheit, die heutige Ängste nährt."
    Ulrike Moser: "Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte"
    Matthes & Seitz, Berlin 2018.
    264 Seiten. 22 Euro.