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Ultra-orthodoxe Schulen in Israel
Aussteiger protestieren gegen Bildungsdefizite

In Israel leben etwa zehn Prozent der Bevölkerung streng religiös. Die Kinder der Ultraorthodoxen lernen an Talmud-Thora-Schulen. Kernfächer wie Mathematik und Englisch stehen selten auf dem Lehrplan. Eine Gruppe junger Menschen, die sich von der strengen Orthodoxie abwenden, kämpfen für das Grundrecht auf Allgemeinbildung. Ein Politikum, das die Regierung in Jerusalem beschäftigt.

Von Ruth Kinet |
    An ultra-Orthodox Jewish boy helps his father with a large palm branch as they shop for materials to build their family's 'succa' or hut before the start of the week-long Jewish holiday of Sukkot, in the Mea Shearim neighborhood of Jerusalem on 19 September 2010. Sukkot commemorates the Israelites 40 years of wandering in the desert and a decorated hut or tabernacle is erected outside religious households as a sign of temporary shelter. EPA/YOSSI ZAMIR ISRAEL OUT |
    Kinder in einem ultra-orthodoxen Viertel in Israel (epa)
    Chaim Rubinstein ist in Bnei Brak aufgewachsen, der israelischen Hauptstadt des orthodoxen Judentums. Bnei Brak ist eine Vorstadt von Tel Aviv mit etwa 180.000 Einwohnern, von denen 95 Prozent streng religiös leben, als so genannte Charedim, Gottesfürchtige. Chaim hat sieben Geschwister. Acht Jahre lang hat er an der Talmud-Thora-Schule gelernt, der "Yeshiva Kol Thora". Mit 15 begann er seinen Weg aus Bnei Brak hinein ins säkulare Tel Aviv.
    "Ich habe meine heutige Welt durch das Radio entdeckt. Ich hatte ein kleines Radio. Das habe ich unter mein Kissen gelegt. So konnte ich heimlich im Bett Radio hören. Ich habe 103 FM gehört, einen sehr säkularen und liberalen Sender mit vielen Sendungen, bei dem die Leute anriefen an und erzählten, 'ich habe mit meinen Eltern gestritten' oder 'ich habe mit meiner Freundin gestritten'. Und so habe ich plötzlich eine Vorstellung davon bekommen, wie das Leben der Menschen aussieht, die außerhalb meiner Community lebten. Durch das Radio."
    Nach und nach hat Chaim Rubinstein seine schwarz-weiße Kleidung, seine Schläfenlocken und mit 18 schließlich auch die Kippa abgelegt. Heute ist er 24, trägt Flip-Flops, Shorts und T-Shirt. Auf seinem Weg habe ihn keiner unterstützt, sagt er. Schon gar nicht seine Familie:
    "An dem Tag, als ich mich zum Armeedienst gemeldet habe, habe ich die Kippa abgelegt. Ich war zu Hause in einem Umfeld, wo sich jeder um jeden kümmert - und nun war ich plötzlich auf mich gestellt. Denn auch die säkulare israelische Gesellschaft hat kein Verständnis dafür, was das bedeutet, diesen zu Weg gehen. Das ist sehr, sehr schwer."
    "Der Staat verletzt seine Aufsichtspflicht"
    Chaim Rubinstein musste nicht nur eine neue Identität entwickeln und die säkulare israelische Gesellschaft verstehen lernen. Er musste sich auch Englisch und Computerkenntnisse aneignen und das Abitur nachmachen. Sonst würde er nie an einer Universität studieren können. Deshalb ist Chaim Rubinstein vor zwei Jahren einer Initiative beigetreten, die den Namen trägt: "Ausstieg für den Wandel". Die rund 50 Aussteiger machen Staat verantwortlich für ihre Misere. Sie verklagen den Staat auf Schadenersatz.
    "Meine Eltern haben mich zu einer staatlich subventionierten Schule geschickt. Aber der Staat hat nicht kontrolliert, ob an dieser Schule, die er subventioniert, die Fächer des Kern-Curriculums unterrichtet werden. Er hat seine Aufsichtspflicht verletzt. Stell’ dir einen 15-jährigen vor, der nicht weiß, was "Yes" und "No" heißt. Ich hatte keine Ahnung von Geschichte. Ich wusste nicht, wann der Staat Israel gegründet worden war. Ich hatte keine Ahnung, dass die Erde eine Kugel ist. Ich wusste nicht, wie man eine Regierung wählt. Und Mathe! Nach der vierten Klasse, in der ich das Einmaleins gelernt habe, gab es an meiner Schule keinen Mathe-Unterricht mehr. Wie soll ich mit diesen Voraussetzungen als Bürger meinen Weg machen?"
    Regierung will religiöse Schulen nicht reglementieren
    Nach dem Willen von Shai Piron, dem liberalen Vorgänger des jetzigen rechtsnationalen Bildungsministers Naftali Bennett, sollten staatliche Subventionen für streng religiöse Schulen ab 2017 an den Unterricht der Kernfächer gebunden werden. Die Knesset hatte ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Jetzt will Naftali Bennett dieses Gesetz außer Kraft setzen und es den religiösen Schulen selbst überlassen, ob sie Mathematik und Englisch unterrichten. Dass der Bildungsminister beabsichtigt, den Zugang eines Teils seiner Bürger auf Bildung zu verbauen, hält Chaim Rubinstein für widersinnig. Und so stehen die Chancen zurzeit schlecht, dass das, was die Initiative "Ausstieg für den Wandel" fordert, auch umgesetzt wird: ein Einsteigerprogramm für Aussteiger aus der streng religiösen Gesellschaft.
    "Wer die streng religiöse Community verlässt, ist wie ein Neueinwanderer innerhalb Israels. Obwohl er in Israel aufgewachsen ist, hat er nicht in Israel gelebt. So wie der Staat Neueinwanderern bei der Integration in die Gesellschaft hilft, soll er auch uns helfen, unseren Weg in die säkulare Gesellschaft zu finden und unsere Wissenslücken zu füllen."
    Inzwischen hat der Staat auf die Klage der Aussteiger reagiert. Er weist den Vorwurf der Verletzung der Aufsichtspflicht zurück und macht die Eltern der ehemaligen streng religiösen Schüler dafür verantwortlich, dass ihren Kindern die grundlegenden Kenntnisse in Mathematik, Englisch, Geschichte und Erdkunde fehlen. Auch Maoz Kahana ist in der streng religiösen Gemeinschaft aufgewachsen. Aber er ist geblieben. Heute lehrt er Geschichte des Judentums an der Universität Tel Aviv. Kahana hält es für problematisch, wie der Staat auf die Klage der Aussteiger reagiert:
    Israelische Siedler unterhalten sich am 18.12.2003 in einer Yeshiva, einer religiösen Schule, in der israelischen Siedlung Migron im Westjordanland beim Studium der Thora. Die auf palästinensischem Gebiet errichtete Siedlung ist das Zuhause von 40 israelischen Familien.
    Studium der Thora in einer religiösen Schule (EPA)
    "Jetzt die Schuld auf die Eltern abzuschieben - das ist einfach eine Katastrophe. Das bedeutet nämlich, dass der Staat seine Aufgaben im doppelten Sinne nicht erledigt. Einmal übernimmt er keine Verantwortung für das, was an ultraorthodoxen Schulen unterrichtet wird. Und zweitens überträgt er den Eltern die Verantwortung, für diese Bildung zu bezahlen. Denn die streng religiösen Schulen haben nichts gegen die allgemeinbildende Fächer, sondern sie haben kein Geld und keine professionellen Lehrer, um diese Fächer überhaupt anzubieten. "
    Maoz Kahana hält also wenig von dem Vorhaben des neuen Bildungsministers, die Verantwortung an Eltern und Schulen zu delegieren. Er hofft, dass das Gesetz des liberalen Vorgängers von Naftali Bennett nicht gekippt wird. Das soll innerhalb der kommenden Wochen entschieden werden. Zu einer Stellungnahme war das Bildungsministerium nicht bereit. Die Beratungen seien noch nicht abgeschlossen, heißt es aus Jerusalem.