Regentropfen prasseln auf den schwarzen Schirm von Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Staatspräsident ist im strömenden Regen gekommen, um seinen Bündnispartner zu besuchen: Devlet Bahceli, den Vorsitzenden der rechtsextremen türkischen Nationalistenpartei. "Elhamdulillah, rahmetle geldik", mit Gottes Segen komme er, sagt Erdogan zur Begrüßung. Dann ziehen sich die beiden zu Beratungen ins Haus zurück.
Scherereien in Erdogans Regierung
Die dürften nicht einfach werden, meint der Journalist und langjährige Erdogan-Beobachter Rusen Cakir: "Das ist schon das dritte Treffen von Erdogan mit Bahceli in kurzer Zeit. Ich glaube, dass es derzeit nicht so glatt läuft zwischen den beiden. Erdogan will Reformen verkünden und die Beziehungen zur Europäischen Union und zu den USA verbessern – damit bekommt er Scherereien mit Bahceli."
Scherereien mit Bahceli kann sich Erdogan nicht leisten, denn er ist zum Erhalt seiner Macht auf dessen kleine Partei der Nationalistischen Bewegung, die MHP, angewiesen. Mehr noch, meinen Beobachter wie der Journalist Can Dündar: Erdogan sei den Nationalisten inzwischen regelrecht ausgeliefert, warnte Dündar kürzlich in seinem Exilsender "Özgürüz".
"Alle denken, dass Bahceli nur als Mehrheitsbeschaffer für Erdogan dient, aber in Wirklichkeit hat er Erdogan in seine ideologische Ecke gezwungen und kann ihm alles diktieren: welche Minister er in sein Kabinett holt, welche Berater er entlässt, welche Mafiosi er begnadigt. Und wenn Erdogan nun Reformen verspricht, kann Bahceli ihn zwingen, seine Worte wieder herunterzuschlucken. Bahceli hat mit seiner kleinen Partei den mächtigsten Mann der Türkei als Geisel genommen. Erdogan trägt die Trommel, doch Bahceli schlägt den Takt."
Intransparente Machtverhältnisse
Wie die Machtverhältnisse im Bündnis genau austariert sind, ist unter Beobachtern umstritten, wie der amerikanische Türkei-Experte Nicholas Danforth von der Athener Denkfabrik ELIAMEP sagt. Fest steht aber auch nach seiner Einschätzung, dass die Regierung immer nationalistischer wird.
"Seit Beginn von Erdogans Bündnis mit Bahceli streiten die Gelehrten darüber, welcher der beiden darin tatsächlich das Sagen hat. Manche argumentieren, dass die MHP Erdogan kontrolliert und seine pragmatischen Instinkte erstickt, um ihre eigenen, radikalen Ziele zu verfolgen. Andere argumentieren, so wie ich, dass Erdogan noch immer das Sagen hat und dass es ihm ganz recht ist, dass Bahceli öffentlich auf eine radikale Politik drängt - auf ein Verbot der Kurdenpartei und ein aggressives Auftreten gegen den Westen."
Devlet Bahceli ist außerhalb der Türkei nicht sehr bekannt, obwohl er schon viel länger in der Politik ist als Erdogan. Der 73-Jährige reist nie ins Ausland, wenn man vom türkischen Teil Zyperns absieht, und legt keinen Wert auf Rampenlicht. Das erschwere es dem Ausland manchmal, die wahren Machtverhältnisse in der Türkei klar zu erkennen, sagt der Politikwissenschaftler Halil Karaveli, Autor des Buches "Warum die Türkei autoritär ist".
Karaveli: "Viele glauben, dass alles in der Türkei von Erdogan bestimmt wird, dass er ein allmächtiger Sultan ist. Aber das ist falsch und war es schon immer. Erdogan ist schon immer auf andere Kräfte angewiesen, um regieren zu können."
Rechtsextreme nahmen Platz von Gülenisten ein
Ein Jahrzehnt lang waren das die sogenannten Gülenisten – die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der Erdogan von seinem Amtsantritt als Ministerpräsident im Jahr 2003 zehn Jahre lang an der Macht unterstützte, bis die beiden sich 2013 überwarfen. Seither sind Bahceli und seine Nationalisten in die Lücke gestoßen, sagt der frühere Parlamentsabgeordnete Aykan Erdemir, der heute bei der Denkfabrik FDD in Washington arbeitet.
"Der Korruptionsskandal um Erdogan und seinen inneren Kreis von Angehörigen und Ministern im Dezember 2013 führte zum Bruch seines zehnjährigen Bündnisses mit dem Prediger Fethullah Gülen und dessen Anhängern", so Erdemir.
Und weiter: "Als die AKP dann im Juni 2015 ihre parlamentarische Mehrheit verlor, veranlasste das Erdogan, sich mit Bahceli und der MHP zusammenzuschließen, was ihm bei den Neuwahlen im November 2015 wieder zur Mehrheit verhalf. Seither ist Erdogan auf Bahceli angewiesen, um sich die parlamentarische Mehrheit zu sichern."
Mehrheit für Erdogan dank Nationalisten
Das hat bisher auch funktioniert. Mit seiner Unterstützung konnte Erdogan auch die Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems von 2017 knapp für sich entscheiden und sich 2018 zum Präsidenten wiederwählen lassen.
Die MHP selbst schafft es bei den Parlamentswahlen zwar stets nur mit Ach und Krach über die türkische Zehn-Prozent-Hürde. Seit der letzten Wahl muss sie aber nicht mehr um den Einzug ins Parlament zittern – Erdogans Regierung ließ eigens das Wahlrecht ändern, so dass die MHP nun per Listenverbindung von der AKP in die Volksvertretung gehievt werden kann. Von dem Bündnis profitieren beide Seiten, sagt Erdemir.
Den Deal mit der MHP bezahlt Erdogan sowohl mit inhaltlichen Konzessionen an die Nationalisten, die seine Politik nun mitbestimmen können, als auch mit Posten im Staatsapparat, sagt Erdemir: "Die MHP dominiert traditionell schon den Sicherheitsapparat der Türkei. Durch die jüngsten Säuberungswellen in der Bürokratie und die politische Vetternwirtschaft bei der Neubesetzung dieser Posten hat sie nun auch ihre Stellung in der türkischen Politik ausbauen können."
Posten im Staatsapparat gab es seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 massenhaft zu besetzen. Rund 150.000 Beamte und staatliche Angestellte wurden damals entlassen – sie galten als mutmaßliche Anhänger von Fethullah Gülen, dem der Umsturzversuch angelastet wird.
"MHP ist Produkt des Kalten Krieges"
Geradezu faszinierend sei es, wie zielstrebig und schnell die Anhänger der MHP seither in Schlüsselstellungen von Militär, Justiz und Bürokratie aufgestiegen und dort zur bestimmenden Kraft geworden seien, sagt auch der Politologe Halil Karaveli – bis hinauf in die Regierung: Verteidigungsminister Hulusi Akar soll auf Vorschlag von Bahceli im Kabinett sein. Und was will die MHP nun an den Schalthebeln der Macht, was ist ihr politisches Ziel?
Halil Karaveli: "Die MHP ist ein Produkt des Kalten Krieges. Sie wurde 1969 von einem ehemaligen Offizier namens Alparslan Türkes gegründet – er war Oberst in einer Spezialeinheit, in den USA ausgebildet und hatte wahrscheinlich enge Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst, der CIA. Die Mission der MHP war es, die türkische Linke zu bekämpfen, die damals in den 60er und 70er Jahren erstarkte. Die MHP war im Grunde eine faschistische Kampftruppe, die linke Studenten, Hochschullehrer und Gewerkschafter tötete."
Das Ziel ist längst erreicht und überholt – mit maßgeblicher Beteiligung der berüchtigten "Grauen Wölfe", die als Jugendverband der MHP ins Leben gerufen wurden und das Land in den 1970er-Jahren als Todesschwadronen terrorisierten. Der Militärputsch von 1980 versetzte der türkischen Arbeiter- und Studentenbewegung den Todesstoß, eine klassische Linke gibt es in der Türkei heute nicht mehr. Die MHP habe inzwischen eine andere Mission, sagt Karaveli:
"Die neue Mission der MHP ist es seit den 1990er-Jahren und akut jetzt, die Kurden anzugreifen. So wie der türkische Staat damals die Linke als Hauptfeind betrachtete und die MHP als Waffe einsetzte, um sie auszuschalten, sind es heute die Kurden, die dem Staat als Hauptfeind gelten - und wieder wird die MHP dagegen eingesetzt, wenn auch etwas diskreter und weniger brutal als damals. Die MHP ist sozusagen die Stoßtruppe des türkischen Staates."
Radikaler Bruch mit Kurdenpolitik
Tatsächlich hat es einen radikalen Bruch in der türkischen Kurdenpolitik gegeben, seit die MHP in Ankara mit im Boot sitzt. Jahrelang hatte sich Erdogan für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts eingesetzt - sie schien zuletzt schon zum Greifen nah:
Verhandlungsführer der türkischen Regierung und der Kurdenpartei HDP verkündeten im Februar 2015 einen Durchbruch und legten einen gemeinsamen Zehn-Punkte-Plan vor, mit dem die Rechte der Kurden gestärkt und die Kämpfe beendet werden sollten; auch die Terrororganisation PKK und ihr inhaftierter Anführer Abdullah Öcalan sollten in den Friedensprozess einbezogen werden.
Auch nach der Parlamentswahl im Juni 2015, bei der die AKP ihre Mehrheit verlor, schien ein paar Wochen lang noch alles möglich. Die HDP erwog unter ihrem damaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtas sogar, eine AKP-Minderheitsregierung von außen zu unterstützen, um den Friedensprozess zu retten. Doch Erdogan entschied sich für die MHP – und Selahattin Demirtas sitzt inzwischen schon das fünfte Jahr hinter Gittern.
Erdogan erklärt YPG zur terroristischen Vereinigung
"Wie stark der Einfluss der MHP auf die türkische Politik ist, zeigt am deutlichsten die Kehrtwendung, die Ankara in der Kurdenfrage vollzogen hat. Noch im Februar 2015 zogen türkische Truppen und die syrische Kurdenmiliz YPG am Euphrat zusammen ins Feld. Inzwischen hat die Türkei nicht nur ihre eigene kurdische Opposition kriminalisiert, sondern auch ihre früheren Partner von der YPG zur terroristischen Organisation erklärt und ist dreimal in Nordsyrien einmarschiert", so Erdemir.
Der Schwenk kostete die Türkei außenpolitisch einen hohen Preis, brachte er sie in Nordsyrien doch in Konflikt mit den USA, die sich im Kampf gegen den Islamischen Staat mit der syrischen Kurdenmiliz verbündeten. Der neue Kurs trage unverkennbar die Handschrift von Bahceli und seinen Nationalisten, sagt Erdemir:
"Erdogans Politik war früher anti-nationalistisch, er betonte immer die transnationalen Bindungen der muslimischen Gemeinschaft. Doch in letzter Zeit unterscheidet sich Erdogans Politik in dieser Frage weder rhetorisch noch praktisch noch von der MHP-Linie."
15.000 Anhänger der Kurdenpartei HDP festgenommen
Innenpolitisch ist das Ergebnis die konsequente Repression der Kurdenbewegung in der Türkei. Mehr als 15.000 Anhänger der Kurdenpartei HDP sind in den vergangenen fünf Jahren festgenommen worden, und die Verhaftungswelle rollt weiter.
Parlamentsabgeordneten wurde ihre Immunität abgesprochen, sie wurden eingesperrt; in den HDP-regierten Kommunen wurden die gewählten Bürgermeister durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. Devlet Bahceli fordert jetzt sogar ein Parteiverbot der HDP. Politikwissenschaftler Halil Karaveli:
"Die MHP drängt darauf, aber Erdogan sträubt sich - weil er die Nähe zur Europäische Union will, weil er die Annäherung an die USA sucht, weil er vom Westen wirtschaftliche Unterstützung braucht."
Seit Wochen kündigt Erdogan immer wieder eine Rückkehr zu Reformen an. Geschehen ist bisher allerdings nichts, im Gegenteil: Als ein Berater des Präsidenten kürzlich öffentlich dafür plädierte, die Reformphase mit der Freilassung von Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas einzuleiten, musste er am nächsten Tag zurücktreten – auf Druck der MHP, wie in Ankara vermutet wird.
Auffällig ist auch, dass Erdogan in den letzten Wochen die Vorstände mehrerer kleinerer Oppositionsparteien auf der konservativen Seite des politischen Spektrums besucht hat, offenbar um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu sondieren.
"In Oppositionskreisen glaubt man, dass Erdogans Bündnis mit der MHP am Ende ist und dass Erdogan mit seinen Reformversprechen um neue Bündnispartner wirbt. Meine Quellen in der Opposition halten Erdogans Reformankündigungen für einen Versuch, sich von Bahceli zu befreien – nur schaffe er es nicht allein, weil er zu stark von Bahceli abhängig ist. Diese Oppositionskreise wollen Erdogan aus der Sackgasse heraushelfen, damit er wieder auf demokratischen Boden kommt", sagt der Journalist Rusen Cakir in seinem Internet-Sender "Medyascope".
"Bahceli ist der, der die Strippen zieht"
Genau deshalb dränge die MHP auf ein Verbot der Kurdenpartei, meint Karaveli – um solchen Initiativen zuvor zu kommen und Erdogan auf ihre Linie festzunageln. Vor allem wolle die MHP eine Wiederannäherung an den Westen verhindern, meint Karaveli, insbesondere an die USA – und das sei eine historisch neue Qualität:
"Der rechte Flügel der türkischen Nationalisten, den die MHP vertritt, war früher immer pro-westlich – weil sie gegen die Sowjetunion waren und gegen Kommunismus, weil sie gewissermaßen von der CIA gegründet wurden. Aber seit die USA in Syrien die Kurden unterstützen, haben sich die türkischen Rechtsnationalisten von Amerika abgewandt. Sie sehen die USA nun als Bedrohung für die Türkei, so wie früher die Sowjetunion, und haben heute eine anti-amerikanische Haltung."
Nun stecke Erdogan in der Klemme zwischen Bahceli und dem Westen – eine brandgefährliche Situation, meint Karaveli:
"Das ist ein spannendes Spiel zwischen Bahceli und Erdogan, und dabei stellt sich die Frage: Wenn Erdogan in der Kurdenfrage nicht tut, was Bahceli will, also was der Sicherheitsapparat will – was macht der Apparat dann mit Erdogan? Ich rechne damit, dass in nächster Zeit etwas passiert in der Türkei, vielleicht Attentate oder Ähnliches – irgendetwas, das Erdogan im Westen schlecht aussehen lässt. Denn wenn etwas Schlimmes passiert in der Türkei, dann bekommt dort automatisch Erdogan die Schuld – und keiner sieht, dass es in Wirklichkeit Bahceli ist, der die Strippen zieht."
Ex-Außenminister warnt Erdogan vor Liquidierung
Eine drastische Vermutung, doch Karaveli ist damit nicht allein. Eine Warnung kam jetzt auch von Ahmet Davutoglu, der lange zum engsten Beraterkreis von Erdogan gehörte, ihm jahrelang als Außenminister diente und bis zum Wendejahr 2015 noch Ministerpräsident war; inzwischen hat er die AKP verlassen und eine neue Partei gegründet, die gegen Erdogan opponiert.
Der Präsident habe die Zügel nicht mehr selbst in der Hand, warnte Davutoglu in einem Fernsehinterview: "Erdogan steht unter dem Diktat von Kräften aus dem Sicherheitsapparat, sie haben ihn in der Zange. Sie haben dieselbe Taktik wie früher die Gülenisten, als die sich von Erdogan die Wählerstimmen holen ließen: Die standen hinter Erdogan und schossen über seine Schulter, um ihr Ziel zu treffen – und von außen sah es aus, als würde Erdogan das Land führen. So machen es heute die Kräfte im Sicherheitsapparat: Sie schicken Erdogan vor, um die Wählerstimmen zu holen, aber das Land regieren sie."
Das werde auch für Erdogan selbst nicht mehr lange gutgehen, warnte Davutoglu: "Diese Kräfte wollen ein autoritäres Regime errichten und die Türkei vom Westen abkoppeln. Um das zu erreichen, werden sie dasselbe tun wie die Gülenisten beim Putschversuch vom Juli 2016: Sie werden versuchen, Erdogan zu liquidieren und das Land selbst zu übernehmen. Ich habe Erdogan schon bei der Einführung des Präsidialsystems gewarnt, dass er die Kontrolle darüber verlieren werde."
High Noon für den türkischen Präsidenten?
High Noon also für Erdogan? Nicht alle Beobachter glauben, dass der Präsident beim Shoot-Out mit Bahceli verlieren würde. Aykan Erdemir, der frühere Abgeordnete:
"Auch wenn die MHP nach Ansicht vieler Beobachter genug Macht angehäuft hat, um Erdogan ihre Bedingungen zu diktieren, sollte man doch nie vergessen, wie geschickt der Präsident frühere taktische Partner kaltgestellt und ausgeschaltet hat. Es wäre ein Fehler, Erdogan zu unterschätzen."
Doch selbst wenn Erdogan auch diesen Machtkampf gewinnen sollte, so haben Devlet Bahceli und seine rechtsextremen Nationalisten die Türkei und ihren Präsidenten in den letzten fünf Jahren doch stark geprägt, befürchtet Türkei-Experte Danforth – mit langfristigen Folgen auch für die Beziehungen zum Westen.
"Die eigentliche Gefahr ist meiner Ansicht nach, dass Erdogan sich die Weltanschauung der MHP tatsächlich zu eigen gemacht hat", so Danforth. "Er fühlt sich verraten von allen, die ihm zur Zusammenarbeit mit den Gülenisten, mit den Kurden und mit dem Westen rieten, während die MHP ihn schon immer davor warnte. Wie immer das auch weitergeht: Ich fürchte, dass der Nationalismus, der Erdogan und die MHP zusammenschweißt, nicht mehr verschwinden wird – und dass er den USA und Europa noch lange das Leben schwer machen wird."