Im jüdischen Viertel in der Jerusalemer Altstadt ist ein Fenster einer Jeschiwá geöffnet. In dieser Religionsschule lernen bereits kleine Jungs die Mizwot, die Gesetze Gottes. Neben der Familie geben vor allem der Rabbiner und die Religionsschule den gesellschaftlichen Rahmen für Ultraorthodoxe vor. Das sagt Yair Hass, er leitet die jüdische Studentenorganisation Hillel, eine Anlaufstelle für Ultraorthodoxe, die aus ihrer Gemeinschaft aussteigen wollen.
"Die größte Schwierigkeit für Aussteiger ist, zum ersten Mal auf sich allein gestellt zu sein. Und dann kommt der Schock über den großen kulturellen Unterschied zwischen den beiden Welten. Sie kommen aus einer Gesellschaft, in der jeder Schritt vorgeschrieben ist, in eine absolut freie Welt. In ihrem Leben haben sie weder Englisch noch Mathematik gelernt, und das stellt sie vor große Probleme, wenn sie beruflich Fuß fassen wollen."
Schwierigkeiten im sozialen Leben
Yair Hass war früher selbst strenggläubiger Jude. Er ist inzwischen angekommen in der israelischen Gesellschaft, hat einen Job und eine Familie. Das gelingt nicht jedem Aussteiger, viele verschulden sich, machen Erfahrungen mit Drogen, die Selbstmordrate ist höher als im israelischen Durchschnitt. Dennoch glaubt Hass, dass ein Zurück keine Alternative ist.
"Wegen der Armut. Die Männer besuchen tagsüber die Jeschiwa. Die Frauen verdienen manchmal etwas dazu, sind aber in erster Linie damit beschäftigt, ihre Kinder zu erziehen. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Vom Staat gibt's zwar Unterstützung, aber das ist nicht mehr als ein Almosen. Viele Familien leben deshalb in Armut."
Shai Azulay kann das bestätigen. Der 28-jährige ist in einer ultraorthodoxen Familie aufgewachsen, zehn Kinder waren sie zuhause. Der Vater ging jeden Tag in die Jeschiwá, die Religionsschule. Auf einem Foto ist Shai als verschlossener blasser Mann zu sehen mit schwarzem Hut und Brille. Heute trägt er Karohemd und Jeans und erzählt von den Schwierigkeiten nach seinem Ausstieg.
"Das erste halbe Jahr habe ich keine Arbeit gefunden. Weil ich noch jiddisch geredet habe, sagten die Leute, dass ich komisch spreche. Dass ich mich komisch benehme, mich seltsam anziehe und selbst die Art, wie ich mich bewegt habe, war in ihren Augen seltsam. Ich hatte keine Chance auf einen Job."
Rund 800.000 strengreligiöse Juden leben in Israel – das ist etwa jeder zehnte Israeli. Die Rabbiner geben die Regeln vor, die Charedim, die Gottesfürchtigen, folgen ihnen.
"Der Rabbi muss noch nicht mal sagen, dass man Mädchen nicht berühren darf. Von klein auf sind Mädchen und Jungs bei den Charedim getrennt. Deswegen war die erste Begegnung mit Mädchen sehr aufregend. So aufregend, dass ich die ganze Zeit gestottert habe. Aber zum ersten Mal habe ich verstanden, dass ich Gefühle haben darf. Als ich zum ersten Mal in eine Bar ging, wusste ich nicht, was zu tun ist, wenn mich ein Mädchen anlächelt. Das war eine sehr frustrierende Zeit."
Abkehr vom Ultraorthodoxen
Heute lebt Shai mit seiner Freundin in einem Studentenwohnheim in Jerusalem. Ihre Eltern nennt er Vater und Mutter. Er studiert soziale Arbeit, musste davor aber erst einen Schulabschluss machen.
"Ich glaube heute nur noch an mich selbst. Ich bin in Länder gereist wie Holland, Thailand, Neuseeland, Deutschland und Belgien. Und ein Hamburger mit Käse und Schweinefleisch selbst am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ist vollkommen in Ordnung."
Auch Kobi Brillmann ist hat mit seiner ultraorthodoxen Vergangenheit abgeschlossen. Er hat geheiratet und gegen den Willen seines Vaters Militärdienst geleistet. Sein Vater lehnt den Staat Israel ab, er glaubt daran, dass erst der Messias einen jüdischen Staat schaffen wird.
"Es gibt eine Art Revolution in der strengreligiösen Gemeinschaft. Immer mehr junge Leute wollen Militärdienst leisten. Mittlerweile akzeptieren das immer mehr Eltern. Auch wenn die Kinder in ihren Augen vom Weg abgekommen sind. Der harte Kern aber verteufelt den Militärdienst weiterhin."
Nach seinem Ausstieg bei den Ultraorthodoxen trägt Kobi inzwischen wieder Kippa. Er lebt in einer orthodoxen Siedlung und sieht die Organisation Hillel mittlerweile kritisch.
"Hillel ist auf ihre Art auch radikal wie die Strenggläubigen. Sie lehnen alles streng Religiöse ab. Sie haben die jüdischen Speisegesetze missachtet. Das hat mich wahnsinnig gemacht, auch hier wurden andere Ansichten nicht akzeptiert. Deshalb halte ich nicht viel von Hillel."
"Die Tür offen lassen"
Die Klagemauer in Jerusalem. Links beten die Männer, rechts die Frauen, sie sind getrennt durch eine Wand. Nebenan hat Schmuel Rabinowitz sein Büro. Was hält der Klagemauerrabbiner von Hillel – einer Organisation, die allein im letzten Jahr rund 200 ultraorthodoxen Juden beim Ausstieg geholfen hat?
"Wenn jemand nicht mehr in seiner Gemeinschaft leben will, dann ist es gut, wenn man ihm hilft. Ich habe ein Problem damit, wenn jemand nicht das Licht Gottes sieht und nicht erkennt, wie gut es ist, die jüdischen Gesetze einzuhalten. Und wenn so jemand austreten will, dann soll er das tun. Wir müssen ihn aber weiter lieben, denn er ist ein Jude. Und man muss ihm immer die Tür offen lassen, sollte er zurückkommen wollen."
Shai kann sich eine Rückkehr nicht vorstellen. Er ist säkular und hält auch den Schabbat nicht ein. Trotzdem würde er den Ausstieg nicht unbedingt weiterempfehlen.
"Wenn mich heute jemand aus meiner Familie fragen würde, ob er aussteigen soll aus der streng religiösen Gemeinschaft, dann würde ich ihm abraten. Denn man muss sich klar machen: Das ist wie Auswandern, als ob man vom Iran nach Australien zieht. Und wenn sich jemand wohl fühlt bei den Charedim, dann soll er dort bleiben. Ich habe mich nach meinem Ausstieg erst einmal vollkommen fremd gefühlt und nicht wie ein Teil einer Nation oder Religionsgemeinschaft."