Jeder hat ein Weltbild, auch der Rezensent. Darin sind einige Dinge festgezurrt, andere kommen eher nicht vor, jüdische Antizionisten etwa:
"Niemand weiß, warum eine offensichtlich jüdisch aussehende Person ein Schild tragen sollte, auf dem geschrieben steht: "Zerstört Israel". Ich aber verstehe es. Mir war schon immer klar, dass der Staat Israel nicht existieren sollte. Ich sehe ein, dass Zionisten und Juden zwei unterschiedliche Dinge sind; man kann nicht beides sein."
Deborah Feldman ist Jüdin, und heute befindet sie sich nicht mehr im Einklang mit demonstrierenden Israelfeinden, wie hier aus kindlicher Perspektive beschrieben. Damals betete sie nach, was Erwachsene ihr vorbeteten, allesamt Angehörige einer ultraorthodoxen jüdisch-amerikanischen Sekte, die sogar den Holocaust billigt. Ungeheuerlich klingt es, wie dort deutsche Schuld zur jüdischen umetikettiert wird:
"Wir lernen in der Schule, Gott habe Hitler gesandt, um die Juden dafür zu bestrafen, sich selbst erleuchtet zu haben. Er kam, um uns zu reinigen, um alle assimilierten Juden zu vernichten, alle 'frejen Jidden', die dachten, sie könnten sich selbst vom Joch, die Auserwählten zu sein, befreien."
Religiöser Fanatismus an den extremen Rändern des Judentums
Das ist weltbilderschütternd. Doch wenn Literatur einen Zweck hat, dann scheinbare Gewissheiten porös werden zu lassen. In diesem Kontext bedeutet das natürlich keineswegs eine Exkulpation von uns Deutschen, sondern die Erkenntnis, dass an den extremen Rändern des Judentums eine Rückständigkeit, religiöser Fanatismus und eine geistige Dumpfheit vorherrschen, die einen nach Luft ringen lassen. "Unorthodox", die autobiographische Lebensgeschichte der heute dreißigjährigen Deborah Feldman, ist dabei ein doppeltes Weltbild-Zerstörungsprojekt: Zum einen dürfte sie in Deutschland philosemitischen Lesern ein paar romantische Vorstellungen über die pittoresken chassidischen Juden rauben, zum anderen hat diese junge Frau ihre Selbstbefreiung dank weltbilderweiternden Literatur geschafft. Lesen darf sie als Kind der besonders radikalen Satmar-Gemeinde nur harmlose religiöse Traktate – der Talmud bleibt den Männern vorbehalten –, und obwohl sie mitten im New York der 90er-Jahre lebt, ist ihr englischsprachige Literatur verboten. Man betet jiddisch, man spricht jiddisch, man denkt jiddisch:
"Zeidi sagt, die englische Sprache wirke wie ein langsames Gift auf die Seele ein. Sollte ich sie zu viel sprechen oder lesen, würde meine Seele derart trüb werden, dass sie nicht länger für göttliche Reize empfänglich wäre."
Abschottung von der amerikanischen Gesellschaft
Zeidi ist der Großvater der Erzählerin. Ihre Mutter konnte dem Milieu entfliehen, so wächst das Mädchen bei den Großeltern auf, die es besonders glaubensstreng erziehen. Heimlich jedoch liest es englische Romane, das ebnet ihm den Weg in die Freiheit durch hervorragende Sprachkenntnisse. Zunächst darf Deborah Feldman an der eigenen Schule englische Konversation unterrichten – so weit geht die Integrationsbereitschaft der Gemeinde gerade noch, um im unvermeidlichen Kontakt zum amerikanischen Alltag nicht gänzlich stigmatisiert zu sein. Ansonsten lässt man sich nicht ins fundamentalistisch-religiöse Schulwesen hineinreden, hält sich mit der Shomrim eine eigene Schlägertruppe als Polizei, besucht keine nichtjüdischen Ärzte und Krankenhäuser, schottet sich sozial völlig ab. Männer sind Bet- und Frauen Gebärmaschinen. Sobald die Mädchen von den Eltern verheiratet werden, müssen sie Perücken tragen, und für den Intimbereich ist keineswegs nur der Gynäkologe zuständig:
"Wenn deine Unterwäsche schmutzig ist, musst du diese zum Rabbiner bringen."
... denn der kontrolliert das Reinheitsgebot der komplizierten Fortpflanzungsregeln der Sekte. Im Leben der Autorin markiert die scharf reglementierte wie gleichermaßen strikt verordnete Gebär-Sexualität den schärfsten Einschnitt. Nachdem sie an der Grenze zum Erwachsenwerden einen eigentlich harmlosen Kind-Mann geheiratet hat, genauso jung wie sie, zeigt sich ihre Versklavung besonders deutlich. Sie ist Objekt ihres Mannes, mit dem sie den ehelichen Vollzug versucht, aber zunächst monatelang wegen heftiger Unterleibsschmerzen scheitert. Vaginismus nennt man diesen psychischen Abwehrkampf, der die angestrebte Schwangerschaft lange verhindert. Endlich Mutter geworden, bahnt ein Umzug der jungen Familie in ein amerikanisches Vorstadt-Ghetto dann den ersten Schritt in die Freiheit. Ein staatliches College liegt nicht weit entfernt, dort absolviert Deborah Feldman heimlich Literaturkurse. Irgendwann ist ihr neues Weltbild stark genug, sich vom oktroyierten alten verabschieden zu können. Der von ihr verlassene Mann verbleibt im Milieu, das ohnehin die Männer privilegiert. Schon der Großvater kann zeitlebens einer ausdauernden Selbstbeschäftigung mit religiösen Fragen frönen. Ein Selbstbetrug, findet die Autorin:
"Zeidi verbrachte sein Leben damit, Harchavas ha-Da'as zu erlangen, einen erweiterten Geist. Wie aber meinen Geist erweitern in einer Welt, die derart eng ist, und zwar innen ebenso wie außen?"
Die Frage, wo religiöse Toleranz enden muss, bleibt im Text offen, doch Deborah Feldmans "Unorthodox" wäre ein guter Anlass, sie einmal nicht am Muster des radikalen Islam zu debattieren, sondern den Universalitätsanspruch der Aufklärung gegenüber allen Religionen zu erneuern: Das Individuum hat ein Recht auf Wachstum jenseits sektiererischer Bevormundung. Ein mutiges und wichtiges Buch der heute in Berlin lebenden Autorin – und ein starkes Lektüreerlebnis obendrein.
Deborah Feldman: "Unorthodox"
Aus dem Englischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag für Literatur 2016
320 Seiten, 22 Euro
Aus dem Englischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag für Literatur 2016
320 Seiten, 22 Euro