Samstagnachmittag im Industriegebiet der Pariser Vorstadt Vitry-sur-Seine. Trotz sengender Hitze strömen hunderte Menschen zur Baustelle des Grand Paris Express. Am Eingang verteilt die Betreiberfirma "Société du Grand Paris" orange Warnwesten. Eine Mutter zieht sie sich und ihren beiden Kleinkindern über.
Zukunftsträchtig, ehrgeizig, ja sogar grandios findet die Frau die geplante Metro-Ringlinie, die die Pariser Vorstädte bis 2030 miteinander verbinden soll. Sie erhofft sich davon eine neue Dynamik für Vitry, das immer wieder als "Banlieue" bezeichnet wird.
Bei Limonade, Bier und kleinen Häppchen spazieren die Besucher an Kränen, Förderbändern und Sammelbecken für den Abraum vorbei. Eine Plattform ermöglicht den Blick in einen Schacht, durch den bereits zwei Tunnelbohrmaschinen in die Tiefe gehievt worden sind.
Bevor sie dort unten in entgegengesetzte Richtungen graben, taufen wir die Tunnelbohrer auf weibliche Vornamen, sagt ein Moderator. Das sei Tradition.
"Gehören wir zu Grand Paris, werden unsere Mieten steigen"
Soundou, Sirine und Malek interessiert die Baustelle nicht. Die Abiturientinnen sitzen im Stadtzentrum von Vitry, auf einer Treppenstufe des Kunstmuseums. Hinter ihnen sind ebenfalls Kräne zu sehen, auch dort wird gegraben. Die 93.000-Einwohner-Stadt wird sogar zwei Bahnhöfe bekommen.
Paris soll dadurch viel schneller erreichbar sein. Heute müssen die 18-Jährigen erst einen Bus nehmen und dann in die Metro oder Regionalbahn umsteigen, um in die Hauptstadt zu kommen. Sirine und Malek bezweifeln trotzdem, dass demnächst alles besser wird.
"Die Metro wird wohl dazu beitragen, dass man Vitry nicht mehr als Banlieue abstempelt. Doch sobald wir zu Grand Paris gehören, werden unsere Mieten steigen."
"Die Pariser können sehr unangenehm sein. Wie werden sie sich verhalten, wenn sie hierher ziehen? In Vitry kennen sich alle und die Leute sind nett. Das wird sich vielleicht ändern."
Ein Passant bleibt stehen und nickt. Solche Befürchtungen höre er immer wieder, sagt Jean-Philippe Trigla. Der 50-Jährige arbeitet für verschiedene Vereine der Stadt. Heute will er ausländische Besucher durch Vitry führen, ihnen die besten Graffitis zeigen. Vitry sei für seine Street-Art berühmt, erzählt Trigla, während er in der Cafeteria des Museums auf die Gruppe wartet. Bei seinen Spaziergängen habe er Sprühparolen entdeckt, die Grand Paris ablehnen.
"Manche Menschen haben Angst, dass sie aus ihrer Stadt verdrängt werden könnten. Auf einer Mauer steht: 'Vitry not for sale', die Stadt ist nicht zu verkaufen, und auf einer anderen 'Vitry - Fuck Paris'. Die Leute hier wollen nicht zu Parisern werden."
Graffitis gegen Grand Paris
Jean-Philippe Trigla bestellt einen Espresso, rührt Zucker hinein. Vitry ist die einzige "Banlieue", die ein renommiertes Kunstmuseum besitzt. Bei Vernissagen organisiert das Museum jeweils einen Bus-Shuttle von und nach Paris. Sonst kommen nicht sehr viele Besucher aus der Hauptstadt – der umständliche Weg schreckt offenbar ab. Für seine ausländischen Gäste sei Vitry trotzdem Paris, sagt Trigla.
"Sie sehen Vitry nicht als Stadt hinter der Ringautobahn, sondern als Teil der Millionenstadt. Mir gefällt diese Vorstellung: Paris ummantelt uns. Allerdings birgt das auch Gefahren. Die Mannschaft im Rathaus muss verhindern, dass Vitry vom großen Paris verschlungen wird."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Grand Paris". Eine Städt wächst über sich hinaus.
Genau das hat sich Bürgermeister Jean-Claude Kennedy zum Ziel gesetzt. Er befürchte Begehrlichkeiten, aber er leiste Widerstand, sagt der 67-Jährige. Kennedy steht im Rathaus vor einem Satellitenfoto von Vitry und deutet auf ein Industriegebiet am Ufer der Seine. Rund um die Baustelle für die Ringlinie soll ein völlig neuer Stadtteil entstehen, mit 8.000 Wohnungen, Geschäften, Schulen, Sportstätten und vielen Firmen.
"Versierte Bauunternehmer wollen den Markt ankurbeln"
Die Verdichtung der Vororte gehört zu den wichtigsten Zielen des Projekts Grand Paris. Denn in der Hauptstadt ist der Immobilienmarkt völlig überhitzt, auch in vielen Städten, die an Paris angrenzen, ziehen die Preise an. In Vitry, nur zehn Kilometer von Notre-Dame entfernt, sind Wohnungen noch erschwinglich.
"Wir ahnen, dass versierte Bauunternehmer den Markt ankurbeln wollen. Unser Bebauungsplan soll uns davor schützen. Wir setzen auf sozialen Wohnungsbau. Außerdem müssen die Bauunternehmer einen Vertrag unterschreiben, der die Grundstücks- und Immobilienpreise begrenzt. Das haben sie akzeptiert."
40 Prozent öffentlich geförderte Wohnungen in Vitry
Kennedy ist Kommunist, wie alle Bürgermeister hier seit 1925, mit Ausnahme der Kriegszeit. Ihre Sozialpolitik hat die Stadt geprägt: Der Anteil an öffentlich geförderten Wohnungen beträgt 40 Prozent, Vitry ist ein Schmelztiegel für Einwanderer. Die Stadt ist jung. Jeder vierte Bewohner ist unter 30 Jahre. Auf der Schattenseite stehen: überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, Armut, Problemsiedlungen. Kennedy hofft deshalb auf die Verwandlung seiner Stadt – trotz der Ängste einiger Bürger.
"Die vielen Baustellen bedeuten hohe Investitionen, dadurch entstehen Arbeits- und Ausbildungsplätze. Vitry bekommt ein Wartungszentrum für die neue Metro mit 500 neuen Jobs. Der Grand Paris Express ist geradezu revolutionär. Viele Maschinen und Werkzeuge wurden eigens für den Bau der Ringlinie konzipiert. Dafür müssen jetzt Arbeiter, Techniker und Ingenieure ausgebildet werden. Das ist schön, das gefällt uns."