Jörg Biesler: Die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern steht stärker unter Beobachtung als die anderer Berufe, und das Klischee vom Halbtagsjob mit drei Monaten Urlaub ist hinlänglich bekannt. Das mag es auch mal geben, aber es gibt doch auch Arbeitsverdichtung, Personalmangel und Klassen, die heterogener sind als in der Vergangenheit und damit Schülerinnen und Schüler, die mehr Betreuung brauchen. Gestern haben wir berichtet von Lehrerinnen und Lehrern im Saarland, die sich selbst am Limit sehen. Heute veröffentlicht die Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung eine Umfrage, die für Nordrhein-Westfalen ein ganz ähnliches Bild zeichnet. Wiebke Poth ist stellvertretende Landesvorsitzende des VBE. Guten Tag, Frau Poth!
Wiebke Poth: Guten Tag!
Biesler: Wie belastet fühlen sich denn die Lehrerinnen und Lehrer?
Poth: Sie fühlen sich tatsächlich stark belastet, und sie klagen vor allem auch über langanhaltende Belastungsphasen. Eine Kollegin hat mir das letztens so gesagt: Früher war ich immer bei 100 Prozent in der Schule, und dann gab es besonders anstrengende belastende Phasen, da habe ich 120 Prozent geben müssen und auch gerne gegeben, und heute ist es so, man ist ständig bei 120 Prozent, das heißt, man kommt eigentlich kaum noch zum Durchatmen.
Biesler: Sie haben nicht nur eine oder zwei Lehrerinnen und Lehrer befragt, sondern insgesamt über 4.000, und die Wissenschaftler, die das für Sie gemacht haben aus Paderborn, die haben eine Umfrage online an diese Lehrerinnen und Lehrer gerichtet. Was genau wurde da abgefragt?
Poth: Da wurden die strukturellen Rahmenbedingungen zur Gesundheitsförderung in den Schulen untersucht, und es ging vor allem darum, nicht, was kann jede einzelne Lehrkraft dazu tun, dass sie gesund ist und bleibt, sondern was können die strukturellen Rahmenbedingungen in der Schule dazu beitragen, oder inwiefern können sie auch Gesundheitsempfinden behindern.
"Es gibt noch sehr viel Verbesserungsbedarf"
Biesler: Ist bei Ihnen auch herausgekommen, woran es eigentlich liegt, dass sich die Arbeitsbelastung für die Lehrer, müssen wir jetzt erst mal sagen: subjektiv so verändert hat?
Poth: Tatsächlich geht es erst mal um ein subjektives Gesundheitsempfinden. Wir haben nicht Ärzte losgeschickt zu den Lehrkräften und sie untersuchen lassen, sondern wir haben das Gesundheitsempfinden abgefragt. Die Lehrkräfte klagen hier unter anderem darüber, dass die Ausstattung in den Schulen besonders schlecht ist. Da geht es um räumliche Ausstattung, um sächliche Ausstattung. Wir hatten in Nordrhein-Westfalen gerade eine große Diskussion um Digitalisierung in digitale Endgeräte für Lehrkräfte, da gibt es noch sehr viel Verbesserungsbedarf, und das belastet die Lehrkräfte in den Schulen täglich.
Biesler: Also es gibt gar keinen vernünftigen Arbeitsplatz, an dem sie zum Beispiel sich mal sammeln können zwischen den Stunden – ist das sowas?
Poth: Ja, darum geht es unter anderem, einen Arbeitsplatz, an dem ich meine Sachen liegen lassen kann, an dem ich mich aufhalten kann, an dem ich auch zwischen den Stunden mal Ruhe genießen kann, mal durchatmen kann. Das ist in den wenigsten Schulen vorhanden. Da gibt es das Lehrerzimmer, in dem alle sitzen, und die Erfahrung zeigt auch, wenn es mal einen zusätzlichen Raum gibt, dann wird der eher dafür genutzt, um Schüler zu fördern, aber kaum ein Lehrerkollegium sagt dann, ja, super, da haben wir mal einen Platz, an dem wir einen Ruheraum für Lehrkräfte einrichten können.
Biesler: Sie vergleichen die Arbeitssituation in den Schulen ja auch mit Arbeitssituationen in anderen Unternehmen, also zum Beispiel in der freien Wirtschaft. Wo sind da die Unterschiede?
Poth: Da haben wir festgestellt, dass in anderen Unternehmen erheblich mehr zur Gesundheitsförderung beigetragen wird, also das wird sehr gefördert, und Sie haben es vorhin auch schon gesagt: Wir haben einen sehr großen Lehrkräftemangel, vor allem in den Grundschulen, aber auch in der Sekundarstufe I, und wir meinen, die Landesregierung könnte erheblich mehr dazu tun, den Lehrerarbeitsplatz auch wieder attraktiver zu machen, und das könnte dazu beitragen, dass sich junge Menschen auch eher für den Lehrerberuf interessierten könnten. Da sind andere Unternehmen schon erheblich weiter.
Biesler: Was könnte man tatsächlich an der Schule konkret tun?
Poth: Unsere Umfrage hat gezeigt, dass Zeit tatsächlich auch ein wichtiger Faktor ist. Gerade wenn man auf die Kommunikationsstrukturen in den Schulen schaut, dann wäre es wichtig, dass Schulleitungen in die Lage versetzt werden, den Kollegen einfach auch mehr Freiräume zu geben, Freiräume für einen kollegialen Austausch, Freiräume für einen fachlichen Austausch. Wir fordern daher auch eine Herabsenkung der Unterrichtsverpflichtung.
"Gesundheitsfachkräfte könnten in Schulen unterstützen"
Biesler: Das geht natürlich nur, wenn man mehr Lehrerinnen und Lehrer hat.
Poth: Ja, das ist ein Teufelskreis letztendlich, und wir befinden uns aber gerade in einer Abwärtsspirale. Dadurch, dass die Bedingungen in den Schulen so schlecht sind und Lehrkräfte sich belastet fühlen, werden junge Menschen nicht gerade dazu animiert, auch ein Lehrer zu werden, und dadurch werden die Bedingungen natürlich noch schlechter.
Biesler: Die Lehrerinnen und Lehrer im Saarland haben den Einsatz von multiprofessionellen Teams gefordert. Das ist offensichtlich ein Bedürfnis, das viele Lehrerinnen und Lehrer haben – bei Ihnen spielt das nämlich auch eine Rolle –, einfach deswegen, weil sich die Anforderungen verändert haben und mehr als nur Fachunterricht an Schulen heute nötig ist?
Poth: Ja, das ist ein sehr großer Punkt. Natürlich muss sehr viel Erziehungsarbeit auch geleistet werden. Wir fordern auch den Einsatz multiprofessioneller Teams. Wir sprechen da zum Beispiel von Schulsozialarbeitern, von sozialpädagogischen Fachkräften, von Schulpsychologen. Auch Gesundheitsfachkräfte könnten in den Schulen unterstützen. Das bringt aber dann auch wieder mit sich, dass der kollegiale Austausch noch wichtiger wird.
Biesler: Warum brauchen denn Lehrerinnen und Lehrer heute solche Unterstützung? ist das tatsächlich so, wie ich es vorhin vermutet habe, dass die Schülerschaft einfach heterogener ist und es mehr Probleme gibt?
Poth: Ja, das ist sicherlich ein Aspekt, dass die Schülerschaft heterogener ist, dass erheblich mehr, ich habe vorhin Erziehungsarbeit gesagt, es geht letztendlich auch um soziale Arbeit, Streitschlichtung, Gewalt in den Schulen, war ein großes Thema in der letzten Zeit. Es gibt sehr viele zusätzliche Dinge, zum Beispiel Streitschlichtung. Die können nicht auch noch im Unterricht abgehandelt werden. Dafür braucht man einfach zusätzliche Kräfte und auch Fachkräfte. Da ist es oft hilfreich, wenn eine weitere Person da ist, die einfach sich für diese Aufgaben besonders viel Zeit nehmen kann.
"Großes Wir-Gefühl an Schulen"
Biesler: Gibt es denn eigentlich auch was Gutes zu berichten?
Poth: Ja, es gibt etwas Gutes zu berichten: Sehr viele Lehrkräfte haben gesagt, es herrscht ein großes Wir-Gefühl an der Schule. Also das Schulklima ist an vielen Schulen gut, und das, finde ich, ist eine sehr gute Nachricht, und das ist vielleicht auch die Erklärung dafür, dass das Schulsystem noch nicht zusammengebrochen ist, weil einfach der Zusammenhalt in vielen Schulen groß ist.
Biesler: Ein Schulleiter hat mir mal gesagt, dass so ein Kollegium normalerweise in drei Teile zerfällt: Ein Teil sind diejenigen, die sich wirklich engagieren, auf die man gar nicht achten muss, die von selber aus 120 Prozent geben, ein Teil, der läuft so mit, und ein Teil ist gegen alles. Ist das so, wenn Sie es jetzt beschreiben, was die Gesundheitslage angeht, dass das aktive Drittel sozusagen in Gefahr ist, nicht mehr aktiv zu sein in Zukunft, weil sie es nicht mehr können?
Poth: Ja, das könnte eine große Gefahr sein. Natürlich hat man in allen Professionen Arbeitnehmer, die sich unterschiedlich viel einsetzen. In der Umfrage kam auch heraus, dass die Lehrkräfte in den großen Kollegien sich weniger belastet fühlen. Das könnte natürlich einerseits daran liegen, dass die Aufgaben sich einfach auf mehr Schultern verteilen, aber der Herr Professor Doktor Meyer, mit dem wir ja diese Umfrage durchgeführt haben, hat auch gesagt, da gibt es nicht so eine große soziale Kontrolle, das heißt, man schaut nicht so auf den Einzelnen, ach, der ist wieder krank, dadurch muss ich jetzt mehr arbeiten. Das wird in einem großen Kollegium natürlich alles auch viel besser aufgefangen. Kleine Kollegien, die müssen einfach zeitlich noch besser unterstützt werden, weil viele Aufgaben, gerade aus dem Bereich der Schulentwicklung sich da auf so wenige Schultern verteilen. Die brauchen einfach mehr Unterstützung.
Biesler: Wiebke Poth, stellevertretende Landesvorsitzende der Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen zu einer Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern, was den Gesundheitszustand angeht. Vielen Dank, Frau Poth!
Poth: Gerne!
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