Im Vorwahlkampf der Demokraten hat der innenpolitische Reporter der Washington Post, Dave Weigel, über hundert Wahlkampfauftritte der demokratischen Präsidentschaftsbewerber im ganzen Land besucht. Im März war Schluss mit der Reiserei. Seit Corona zuschlug, war Dave Weigel vielleicht noch ein dutzendmal draußen auf dem "Campaign Trail".
Deshalb konnte er sich kein so genaues Bild mehr von der Stimmungslage im Land machen. Dennoch glaubt er den Meinungsforschungsinstituten - obwohl sie vor vier Jahren bei Hillary Clinton so gründlich danebenlagen. Sie attestieren Trumps Herausforderer Joe Biden jetzt einen Vorsprung von sechs, acht, ja zehn Prozent - und liegen damit dieses Mal richtig, vermutet Weigel: Die Institute hätten aus ihren falschen Schlüssen von damals die richtigen Konsequenzen gezogen.
Allan Lichtman ist das "Orakel von Washington"
Das glaubt auch Allan Lichtman, Historiker an der American University in D.C. und im Nebenberuf "Orakel von Washington": Diesen Titel ehrenhalber hat sich Lichtman erworben, weil er seit 1984 bei keiner Prognose zu einer Präsidentschaftswahl daneben lag. 2016 schockierte er die Fachwelt mit der Vorhersage, nicht Hillary Clinton, sondern Donald Trump werde die Wahl gewinnen – und legte sich mit den Meinungsforschern an. Sie hätten damals nicht bedacht, dass Umfragen keine Vorhersagen sind, sondern lediglich Momentaufnahmen, die sich permanent verändern, sagt Lichtman.
Die Institute verfeinerten seither ihre Fragetechnik und beziehen heute Faktoren wie Bildungsstand, soziales Umfeld und sozioökonomische Bedingungen der Befragten ein. An den grundsätzlichen Fehlerquellen habe sich zwar nichts geändert, beharrt Lichtman – doch er kommt zu demselben Ergebnis: Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika heiße Joe Biden.
Alle sind sich einig: Joe Biden macht das Rennen
Meinungsforscher. Liberale Journalisten. Das wissenschaftliche Orakel. Alle sind sich einig: Joe Biden macht das Rennen. Aber warum sind sie sich so sicher? Weil in diesem Jahr alles anders ist, sagt der Reporter von der Washington Post. Weil das Land unter dem Eindruck der Coronakrise steht und Donald Trump einen miserablen Job bei ihrer Bewältigung gemacht habe.
Allan Lichtman stimmt zu. Donald Trump habe in sieben der 13 Schlüsselindikatoren seiner Prognosetechnik versagt. Drei von ihnen seien allein der Pandemie zuzuschreiben.
Darüber: Grund sei das dilettantische Corona-Management, sagt Lichtman: Es führte zu einer Rezession im Wahljahr, zu Wachstumsrückgang und sozialen Unruhen im ganzen Land.
Trump habe die Amerikaner belogen und die Pandemie verharmlost, ergänzt Lichtman. Journalist Weigel sekundiert: Tatsächlich seien alle Attacken, alle Themen Donald Trumps im Wahlkampf ins Leere gelaufen - wegen COVID-19.
Trump habe weiter den Spalter der Nation gespielt
Trumps Kardinalfehler, laut Allan Lichtman: Er habe einen Wahlkampf geführt, als sei er nicht der Amtsinhaber, sondern der Herausforderer. Trump habe weiter den Spalter der Nation gespielt – und Biden die Rolle des Heilers und Versöhners überlassen: Punktsieg für Biden in Lichtmans Prognosemodell. Biden sei genau der Kandidat, den das Land in diesen turbulenten Zeiten brauche, sagt der Historiker.
Aber was, wenn es erneut ganz anders kommt? Wenn sich der Wahlausgang wieder nicht an die Prognosen halten will? Ein Alptraum für die Meinungsforscher und das Orakel gleichermaßen. Allan Lichtman gesteht, dass ihm alle vier Jahre der Angstschweiß auf der Stirn steht – denn natürlich könne auch er einmal danebenliegen.