Wahlentscheidungen kämen durch langfristige Parteibindung, Kandidaten und Kompetenzbewertung zustande.
Union und ihre möglichen Kandidaten
Aufgrund der schlechten Umfragewerte für Merkel wird auch wieder Unions-Chef Horst Seehofer ins Gespräch als Kanzlerkandidat gebracht. Seehofer sei in Bayern hervorragend, aber außerhalb des Bundeslandes würde seine Reputation nicht ausreichen, so der Parteienforscher Neugebauer. Innerhalb der CDU gebe es keinen geeigneteren Kanzlerkandidaten als Merkel, da sie ihre bisherige Erfahrung mitbringe. "Aber es ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass man auch zu irgendeinem Zeitpunkt überdrüssig werden kann. Herr Kohl hat das auch erlebt, aber Herr Kohl hatte auch Druck aus der eigenen Partei und der fehlt bei Frau Merkel."
Als möglicher Kanzlerkandidat aus der SPD wird dessen Vorsitzender Sigmar Gabriel gehandelt. "Er ist der Einäugige unter den Blinden", sagte Neugebauer.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Von wegen aufs Altenteil zurückziehen! Will Horst Seehofer vielleicht doch noch Kanzler werden und nicht sein politisches Wirken als Ministerpräsident so langsam auslaufen lassen und sich anschließend dann aus der Politik verabschieden? Es ist eine müßige Frage, zugegeben, gestellt wird sie trotzdem in dieser Woche, weil der bayrische Regierungschef beim jüngsten Deutschland-Trend der ARD ganz, ganz nah aufgerückt ist zu Angela Merkel. Die Kanzlerin verliert dramatisch an Zustimmung nach den Anschlägen von Arnsberg, Würzburg und München, immer auch noch viele, die sehr unzufrieden sind mit der Flüchtlingspolitik der CDU-Vorsitzenden. Und das alles wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und vor den Wahlen in Berlin. Und Angela Merkel wandert unbeirrt durch Südtirol. Am Telefon ist nun der Berliner Politikwissenschaftler und Parteienforscher Professor Gero Neugebauer, guten Tag!
Gero Neugebauer: Guten Tag, Herr Müller!
Müller: Hätte die Kanzlerin besser Urlaub am Wannsee gemacht?
Neugebauer: Nein, dann wäre sie nämlich mit den Plakaten zu den Berliner Plakaten konfrontiert worden und wäre erschrocken über die Botschaften, die auf diesen Plakaten stehen, und hätte gesagt: Ach, wie kleinteilig Politik doch sein kann, ein Glück, dass ich nicht da bin!
Müller: Müssen Sie uns ein Beispiel nennen!
Neugebauer: Na, beispielsweise dass hier jetzt geworben wird für Kindergärten auf der einen Seite, richtiges Thema, aber andererseits jemand sagt: Oh, Südwesten muss schön sein, der See muss sauber bleiben und solche Dinge mehr. Selbstverständlichkeiten, bei denen man sich fragt, warum sich die Parteien dann einsetzen, wenn sie vorher nicht versäumt haben, sich darum zu kümmern.
Müller: Also, das wäre für eine Kanzlerin zu bodenständig, zu nah an der Realität oder …
Neugebauer: Es wäre eine Realität, die sie auch konfrontiert, wenn sie in der Uckermark ist, aber es wäre keine Realität, um die sie sich kümmern müsste, weil sie sagt, dafür sind andere zuständig, da könnte ich ja nicht einen Pakt schließen mit irgendeiner auswärtigen Macht, um hier das Problem zu beseitigen.
"Wahlentscheidungen kommen durch langfristige Faktoren zustande"
Müller: Damit hat sie im Moment ja auch Schwierigkeiten, mit den Pakten mit ausländischen Mächten, sogar mit europäischen Mächten. Kommen wir noch einmal zu dieser vermeintlichen Ursachenforschung. Wir diskutieren auf Basis von repräsentativen Umfragen, aber es ist ja noch kein Wahlergebnis, zugegeben. Reden wir dennoch darüber, warum schwächelt die Kanzlerin?
Neugebauer: Na ja, einerseits muss man sagen, dass solche Umfragen nur Momentaufnahmen von Stimmen und Eindrücken sind, in denen Einschätzungen geäußert werden, die nicht immer identisch sein müssen mit denen, die zur Wahlentscheidung führen. Die Wahlentscheidungen kommen durch langfristige wie Parteibindung, Kandidaten und Kompetenzbewertung zustande, aber die kurzfristigen Faktoren, das sind kurz gesagt Nachwirkungen von Pleiten, Pech und Pannen, aber auch von positiven Berichten zum Beispiel über Parteitage oder andere Auftritte, die dann über die Medien vermittelt werden. Und die wirken sich auf solche Sachen ein.
Und wenn wir heute auf dieses Ergebnis von Merkel gucken, dann müssen wir sehen: Wir haben schon seit Längerem diese widersprüchliche Stimmung in Deutschland, viele sagen, die wirtschaftliche Situation ist gut, auch meine eigene Situation ist gut, aber es gibt ein weitverbreitetes, diffuses Bild von Unbehagen und Unsicherheit im Hinsicht auf künftige Situationen. Und wenn jetzt so eine spezifische Lage dazukommt wie diese Krise, dann wächst das Verlangen nach einer politischen Führung und nach Glaubwürdigkeit in der Politik. Das wird wieder auf Personen projiziert und da ist die Kanzlerin natürlich das Objekt der Begierde. Und diese Lage fällt ihr nun auf die Füße.
Europakrise, Flüchtlingskrise und Terrorkrise
Müller: Welche Krise meinen Sie? Wir haben ja vielleicht drei, also, wir haben die Europakrise, die Flüchtlingskrise und die Terrorkrise.
Neugebauer: Ich meine alle drei. Einmal ist das Problem der Zuflucht nach Deutschland trotz gewisser Erfolge auf der administrativen Ebene immer noch nicht gelöst, wir haben die Frage, wie wird eigentlich Integration verstanden, oder besser gesagt: In dem Satz "Wir schaffen das!", was ist eigentlich das "das", ist das nur registrieren, unterbringen, verpflegen, Sprachlehrgang verschaffen, vielleicht auch noch Arbeit, oder ist das die Voraussetzung dafür, dass eine soziale Integration und noch eine politische Integration stattfindet? Wir haben das Problem, dass die europäische Lösung zu erreichen erschwert ist wegen der Konflikte mit der Türkei und dem Seitenfeuer aus Österreich jetzt, und natürlich dass die touristischen Attacken die Lage in Deutschland verschärft haben und Politik nun auf den Aspekt der Sicherheit reduziert wird.
Müller: Sie haben eben gesagt, es sind ja kurzfristige Erhebungen. Aber kann es sein, dass das Vertrauen in die Fähigkeiten, in die Kompetenzen der Kanzlerin so langsam verschwindet?
Neugebauer: Ja, es gibt durchaus solche erodierenden Faktoren. Das heißt, peu à peu senkt sich das Vertrauen und da heißt es dann, diese Person ist eigentlich, na ja … Man merkt, sie ist nicht in der Lage, ihre Versprechungen zu erfüllen, sie kocht nur, grob gesagt, auch nur mit Wasser, und die Erwartungen, die man früher gehegt hat, dass sie gesagt hat, ihr müsst mir nur vertrauen, ihr kennt mich, dann auf einmal zu den Zweifeln führen: Kennen wir sie wirklich und vertrauen wir ihr? Weil sie uns ja nie erzählt, wie sie das schaffen will. Und insofern ist das Problem, das Frau Merkel jetzt eben noch mal sozusagen bewältigen muss, den Eindruck zu verwischen, sie kenne die Realität nicht und sie versuche, eine Politik zu machen, die an diesen Realitäten vorbeigeht.
Müller: Und wenn sie jetzt noch einen starken Gegenkandidaten hätte bei den anderen Parteien, einen anderen, starken Kanzlerkandidaten – nehmen wir mal beispielsweise die SPD –, dann hätte sie ein echtes Problem?
Neugebauer: Ja, hätte sie. Davor ist aber ein anderes Problem: Wenn diese Erosion ihrer Wertschätzung fortgesetzt wird, wenn sie sich fortsetzt, wenn in der CDU jetzt Zweifel entstehen, ob man mit Frau Merkel die Wahl 2017 gewinnen kann, dann wird in der Union eine Diskussion beginnen, ob man nicht noch nach anderen Kandidaten guckt. Und etwas unvorsichtig formuliert: Es gibt ja einige, die sich wie Frau von der Leyen zurzeit wieder mal in Stellung bringen, fast könnte man das auch militärisch assoziieren, oder Herr de Maizière hofft, oder, ja, die Projektion auf Herrn Seehofer. Nur, Herr Seehofer ist niemand, der als Kanzlerkandidat antreten wird. Wenn er in einem Politikbereich in der Lage ist, die Stimmung gut aufzunehmen und umzusetzen, dann heißt das noch nicht, dass er ein geeigneter Kandidat ist, selbst wenn er jetzt zu Putin fahren sollte.
"In Bayern hervorragend, aber außerhalb Bayerns hat er nicht genügend Reputation"
Müller: Aber so schlecht geht es den Bayern ja nicht unter Seehofer.
Neugebauer: Nein, aber sie wissen genau, es geht ihnen sauschlecht, wenn die Union als Union nicht mehr auftreten kann, wenn der Konflikt in der Koalition vertieft wird, wenn letztendlich Seehofer, um aus dem Status einer – Sie erlauben mir den Ausdruck – lahmen Ente herauszutreten, seine Drohung wahrmacht. Zum Beispiel, er ist nicht vors Bundesverfassungsgericht gegangen, obwohl er schon ein Gutachten hatte, er kündigt die Koalition nicht auf, obwohl er eigentlich sagt, mit der Arbeit bin ich gar nicht zufrieden. Also, irgendwie kann man sagen: In Bayern hervorragend, aber außerhalb Bayerns hat er nicht genügend Reputation.
Müller: Hört sich so an, als sei er dann in Wirklichkeit am Ende doch feige?
Neugebauer: Er ist vorsichtig. Feige nicht, er ist vorsichtig. Er hat ja auch Probleme in der eigenen Partei, auf die muss er auch Rücksicht nehmen, dass ihm da nicht jemand reingrätscht und sagt, du hast jetzt hier zwar innerhalb Bayerns eine gute Rolle gespielt, im Bund nicht und da bin ich vielleicht dann doch besser. Aber ich sehe diese Person nicht.
Müller: Aber vorsichtig ist durchaus eine Tugend in der Politik?
Neugebauer: Ja, ist durchaus eine Tugend. Er kennt ja nicht die Leute, die ihm die Minen in den Weg legen, und andererseits weiß er auch nicht, wie die Situation sich ändert, was passiert auf einmal, wenn Herr Erdogan in seinem grundsätzlichen Pragmatismus sagt – den hat er gegenüber den Russen ja bewiesen –, nein, jetzt verhalte ich mich auch gegenüber der EU anders und es kommt zu diesem Abkommen. Ja, und dann sind alle Erwartungen, dass das nicht erfüllt werden könnte, dahin und die Situation ist eine neue.
"Das Ansehen und das Bild von Herrn Gabriel ist zurzeit immer noch so widersprüchlich"
Müller: Reden wir mal über die andere Seite beziehungsweise über den Koalitionspartner, ich habe versucht, das eben jetzt durch die Hintertür ein bisschen verklausuliert ja ein bisschen schon in die Debatte zu bringen. Sigmar Gabriel, ist das ein Mann, ist das ein Kandidat, der noch mal gefährlich werden könnte für die Union, egal, wer für die Union ins Rennen geht?
Neugebauer: Das Ansehen und das Bild von Herrn Gabriel in der Öffentlichkeit ist zurzeit immer noch so widersprüchlich, dass er nicht als ein Konkurrent erscheint, der aufgrund der Bewertung des Kandidaten so viel Stimmen für die SPD holen kann, dass ich sagen kann, er ist ein ernsthafter Konkurrent. Aber was ja auch zu sehen ist, innerhalb der SPD hört die Kritik auf. Selbst Herr Albig, der vor einem Jahr noch gesagt hat als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident, wir bräuchten gar keinen aufzustellen, sagt jetzt, Sigmar Gabriel soll der Kandidat sein. Da wandelt sich die Stimmung und da muss man auch sehen, wie die Rahmenbedingungen werden im Sommer 2017, wie beispielsweise die Wahl in Nordrhein-Westfalen ausgeht. Wenn die gut ausgeht und wenn Gabriel sich in den Wahlkampf eingemischt hat, gewinnt er an Reputation. Und dann kann die Situation sich durchaus ändern.
"Gabriel ist der Einäugige unter den Blinden"
Müller: Sie beobachten ja die Szenerie seit vielen, vielen Jahren, Jahrzehnten, ohne konkret das Alter thematisieren zu wollen, Herr Neugebauer. Es ist ja wertschätzend jetzt hier gemeint. Aber sehen Sie einen besseren Kandidaten als Sigmar Gabriel in der SPD, irgendwo?
Neugebauer: Er ist der Einäugige unter den Blinden.
Müller: Klare Antwort. Und jetzt gehen wir zur CDU noch mal, Angela Merkel, besserer Kandidat irgendwo?
Neugebauer: Nein. Auch deshalb nicht, weil niemand in der Lage ist, sozusagen mit seiner bisherigen persönlichen Erfahrung auch so viel an Kompetenz und Zutrauen zu haben, wie – abgesehen von dieser besonderen Situation - Frau Merkel erworben hat. Aber es ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass man auch zu irgendeinem Zeitpunkt überdrüssig werden kann. Herr Kohl hat das auch erlebt, aber Herr Kohl hatte auch Druck aus der eigenen Partei und der fehlt bei Frau Merkel.
Müller: Aber es ist jetzt keiner, der da in den Startlöchern steht und wirklich ernsthaft die Ambitionen hat beziehungsweise auch den Rückhalt hat zu sagen, komm, jetzt übernehmen wir?
Neugebauer: Es gibt einige, die das glauben, aber ich halte keinen für momentan in der Lage, das wirklich zu tun. Außer dass Frau Merkel sagt, ich will nicht mehr, und sucht jemand.
Müller: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk der Berliner Politikwissenschaftler Professor Gero Neugebauer. Danke Ihnen, dass Sie Zeit gefunden haben, Ihnen noch einen schönen Tag, schönes Wochenende!
Neugebauer: Danke, Ihnen auch, Herr Müller!
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