Die heutige Technik mache es möglich, die "Menschen auch gezielt mit Informationen zu versorgen". Fast jeder trage seinen mobilen Computer mit sich herum und könne auf dem Display "ständig in Echtzeit" sehen, was da passiere, sagte der Katastrophenforscher Martin Voss im Deutschlandfunk. "Die Frage ist immer, wer nutzt es und wie wird das dann bespielt und welche Nebenwirkungen hat das auch wiederum."
Im Forschungsprojekt "WEXICOM" gehe es konkret darum, Menschen mit Informationen zu versorgen, die "nicht wirklich dezidiert vorhersagen, an welcher Stelle nun welches Ereignis auftritt, sondern mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten". Denn gerade die Unwetter der vergangenen Tage hätten gezeigt, dass es für die Meteorologen "sehr schwer beziehungsweise erst sehr kurzfristig möglich" sei zu sagen, "an welcher Stelle nun welche Niederschläge, welcher Hagel und welche Wassermengen runterkommen werden". Da sei es durchaus sinnvoll, mit "Wahrscheinlichkeiten" zu arbeiten, erläuterte Voss. So könne man etwa sagen, in welchen Bereichen sich das Risiko innerhalb der nächsten Stunden deutlich erhöhe. "Die Frage ist nur: Was passiert, wenn man Menschen ständig mit diesen Wahrscheinlichkeiten versorgt?" Es bestehe das Risiko, dass diese dann irgendwann nicht mehr hinhörten.
Absolute Sicherheit gibt es nicht
Der Katastrophenforscher betonte, absolute Sicherheit gebe es nicht. "Wir können uns schlicht nicht auf jedes Risiko vorbereiten. Wir können nicht jedes Opfer vermeiden." Solche Ereignisse seien in der Regel punktuell und damit unvorhersehbar. "Und da muss man vielleicht auch ein gewisses Risiko einfach akzeptieren."
Wichtiger noch als der Katastrophenschutz sei die Prävention. Denn wenn man die Unwetter der vergangenen Tage anschaue, sehe man, "dass es im Grunde genommen weniger der Schutzcharakter ist, dass wir irgendwie Deiche hochziehen müssen". Vielmehr gehe es im Vorfeld darum, "Abläufe zu schaffen, Siedlungsgebiete nicht in Hochwassergebieten auszuweisen". Oft werde nämlich aus "ökonomischen Gründen" auch dort investiert, "wo es gefährlich ist".
Das Interview in voller Länge:
Birgid Becker: Meteorologen nennen die Unwetter in Niederbayern und am Niederrhein absolut außergewöhnlich. Ökologen vermessen, ob, und in welchem Ausmaß die Flutmengen selbst verschuldet sind. Deutschland, normalerweise ein Idyll an Katastrophenferne, stellt fest, dass sich doch nicht alles regeln, doch nicht alles organisieren, doch nicht alles planen lässt.
Vieles lässt sich aber besser machen, meint der Katastrophenforscher Martin Voss, mit dem ich vor der Sendung gesprochen habe, und zum Bessermachen gehört es auch, bessere Wege zu finden, um Menschen zu warnen. Wie nämlich?
Martin Voss: Ja, die gibt es natürlich, heute allemal. Wir sind technisch ja ganz anders in der Lage, Menschen auch gezielt mit Informationen zu versorgen, und zwar nicht mehr wieder pauschal alle Menschen gleichermaßen, sondern die, die auch bestimmte Informationen brauchen, wie das noch vor fünf oder vor zehn Jahren der Fall war. Heute trägt jeder seinen im Grunde genommen mobilen Computer mit sich herum. Man ist ständig in Echtzeit auf seinem Display und sieht eigentlich, was da passiert. Die Möglichkeiten sind längst da, es gibt auch zahllose Apps wiederum, die ganz verschiedene Bedarfe in dieser Richtung bedienen. Die Frage ist immer, wer nutzt es und wer hat es und wie wird das dann auch bespielt und welche Nebenwirkungen hat das auch wiederum.
Becker: Sagen Sie uns, welche Nebenwirkungen und woran fehlt es. Sie sind aktiv in einem Projekt namens "WEXICOM". Da geht es konkret darum, Wettervorhersagen, Unwetterwarnungen besser nutzbar zu machen.
Voss: Ja. In diesem Forschungsprojekt geht es konkret darum, Menschen mit Informationen zu versorgen, die erst einmal nicht wirklich dezidiert vorhersagen, an welcher Stelle nun welches Ereignis auftritt, sondern mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Gerade bei solchen Ereignissen, wie wir sie jetzt in den vergangenen Tagen hatten, sogenannten konvektiven Ereignissen, ist es auch für die Meteorologie sehr schwer beziehungsweise erst sehr kurzfristig möglich, zu sagen, an welcher Stelle nun welche Niederschläge, welcher Hagel und welche Wassermengen runterkommen werden.
Da kann man aber mit Wahrscheinlichkeiten durchaus arbeiten und sagen, in diesen Bereichen erhöht sich das Risiko innerhalb der nächsten Stunden deutlich. Die Frage ist nur: Was passiert, wenn man Menschen ständig mit diesen Wahrscheinlichkeiten versorgt? Werden die dann irgendwann gar nicht mehr hinhören, weil sie eigentlich immer selber wiederum für sich abwägen müssen, ist das jetzt eigentlich ein Risiko, hatte ich ja die letzten Tage dreimal, also muss ich noch was machen? Und solche Effekte stellen sich dann auch ein.
"Wir können nicht jedes Opfer vermeiden"
Becker: Nun sind Warnungen ja das eine, tatsächlich zu schützen ist das andere. Die Politiker im Freistaat Bayern sagen ja, man könne die Menschen vor Jahrhundertereignissen schützen, nicht aber vor Jahrtausendereignissen, also nicht vor solch wild gewordenen Flüssen, wie es sie jetzt in Niederbayern gab, die ja zuvor meist ganz unauffällige Gewässerchen waren. Hätte Warnen denn da geholfen?
Voss: Ja ich denke, wir müssen bei solchen Ereignissen immer ein bisschen auch den kühlen Kopf bewahren und schauen, wie groß ist denn jetzt das Schadensausmaß, wie hoch ist die Opferzahl. Wir können uns schlicht - das wissen wir aus ganz anderen Debatten - nicht auf jedes Risiko vorbereiten. Wir können nicht jedes Opfer vermeiden. Am Ende sind solche Ereignisse doch immer punktuell und quasi unvorhersehbar, und da muss man vielleicht auch ein gewisses Risiko einfach akzeptieren.
Becker: Auf der anderen Seite wäre es nicht akzeptabel, Warnmöglichkeiten, die vorhanden sind, nicht zu nutzen.
Voss: Ja, das ist natürlich richtig. Wenn man wirklich wüsste, an dieser Stelle hat man eine Information, die mit einer - und das ist ja nun schon die Frage - hohen Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Schaden führen wird, dann darf man sie selbstverständlich nicht zurückhalten. Auf der anderen Seite: Wann ist dieser Zeitpunkt erreicht, an dem Sie so genau vorhersagen können, dass dieser Schaden auch wirklich eintritt? In der Regel sind wir in solch einer Warnsituation immer in diesem Dilemma. Zu früh warnen heißt nicht unbedingt Unruhe auslösen, aber doch eine Art Abstumpfung zu erzeugen, dass man einfach beim nächsten Mal nicht mehr hinhört.
"Panik ist ein Mythos"
Becker: Oder Menschen unbegründet in Panik zu versetzen.
Voss: Ja, das wollte ich gerade vermeiden, denn diese Panik, die beobachten wir empirisch so gut wie nie. Das ist ein Mythos, wie wir sagen. Das ist überhaupt nicht das Problem.
Becker: Wie erklären Sie sich das? Wir haben ja immer noch diesen Satz auch des Bundesinnenministers im Ohr, ganz anderer Zusammenhang, ein Terrorkontext, dass er nicht alle Informationen habe weitergeben können, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Da hatte man ja den Eindruck, dass wir alle ausgesprochen panikgeneigt sind.
Voss: Na ja, und die Reaktion darauf zeigt ganz genau, dass wir das nicht sind, denn eigentlich hat er uns damit ja massiv beunruhigt. Er hat auch damit im Grunde genommen gesagt, da ist eine Gefahrenlage, aber ich werde niemandem sagen, was wirklich der Fall ist. Und ich habe nicht erlebt, dass irgendjemand irgendwo in Panik geraten ist.
Es gibt dies in seltenen Ausnahmefällen, in denen man das sehr wohl abwägen muss. Wenn man meinetwegen Menschen in einer Gefahrensituation hat, wo es im Grunde genommen nur einen einzigen Ausgang gibt, den berühmten Flaschenhals. Wenn Sie denen jetzt sagen, in drei Minuten passiert hier etwas Furchtbares, dann müssen Sie sicherlich damit rechnen, dass Menschen sich nicht mehr koordiniert oder auch nicht mehr einfach nur prosozial verhalten. In fast allen anderen Fällen - und da haben wir wirklich eine endlose Menge an Beispielen - agieren Menschen ganz sozial, kümmern sich um ihresgleichen, rennen noch einmal zurück in die Gefahrenlage, um sich um andere zu kümmern. Sie tragen selbst aus einem brennenden Hochhaus in New York einen Rollstuhlfahrer noch raus.
Insofern diese Panikgeschichte ist wirklich überhaupt nicht unser Problem. Darauf sollten wir gerade keine Ressourcen verschwenden, denn das tun wir dann. Wir fangen dann an, viel zu informieren, in der vermeintlichen Einstellung, damit Schlimmeres zu vermeiden, aber genau das produzieren wir damit.
"Sozialwissenschaftler gehen vom menschlichen Leid aus"
Becker: Nun nähern Sie sich - wir sind genau in diesem Bereich - Ihrem Spezialgebiet, der Katastrophe, ja nicht als Naturwissenschaftler oder als Ingenieur, also von der technischen Seite her, sondern als Sozialwissenschaftler. Erklären Sie: Was ist der Blickwinkel des Sozialwissenschaftlers auf Katastrophen?
Voss: Wir fangen an, Katastrophen gerade nicht über Opferzahlen und über Schäden zu definieren, sondern gehen vom menschlichen Leid aus. Wir fragen danach, was ist eigentlich für Menschen, die von extremen Prozessen betroffen sind, das, was sie da an Dramatischem erleben, und was macht das für sie aus, wie nehmen sie das wahr, was fürchten sind, und was sind nun die adäquaten Maßnahmen, ihnen bei der Bewältigung dieses Geschehens zu helfen.
Da kommt etwas durchaus ganz anderes heraus als dieser reine Schutzgedanke, der auch ein Stück weit ein Mythos ist, wie wir auch hier wieder sehen. Ich sagte es eben schon: Wir werden niemals es schaffen, die Opferzahlen auch bei solchen Hochwasser- und Regen-, Extremniederschlagsereignissen auf null zu bringen. Wir werden immer weiter Opfer in Kauf nehmen müssen. Wir sehen also, es geht gar nicht darum, koste es was es, wolle Menschenleben zu retten, sondern es ist immer ein Abwägen innerhalb einer Gesellschaft: Wo wollen wir unsere immer knappen Ressourcen hingeben? Die Frage ist: Warum sind sie überhaupt erst mal knapp im Bevölkerungsschutz und im Hochwasserschutz? Ist das überhaupt nicht schon ein Resultat eines solchen Abwägungsprozesses? Wir wollen das Geld offenbar als Gesamtgesellschaft lieber woanders haben. Wie kommt solch eine Risikokalkulation erst einmal zustande?
Und dann zu schauen, was bedeutet das jetzt für die Betroffenen selbst? Wie gehen die damit um, was ist deren Erwartungshaltung? Wenn man selbst Opfer wird von so etwas, wird man immer sagen, da ist nicht genug im Vorfeld getan worden. Auf sich selber bezogen will man selbstverständlich immer alles da reininvestiert gesehen haben. Auf der anderen Seite macht man aber im Alltag auch wiederum ständig solche Entscheidungen, wo man sagt, man geht eigentlich Risiken ein, die sind wesentlich höher. Wir setzen uns jeden Tag im Straßenverkehr einem viel, viel höheren Risiko aus als bei, sagen wir mal, einer starken oder extremen Wetterlage. Das ist eine Alltagsabwägung, die wir machen, und auf dieser Grundlage passieren dann natürlich auch immer wieder Unfälle oder Katastrophen.
"Im Vorfeld laufen die Ressourcen suboptimal"
Becker: Sie haben das ein bisschen im Raum stehen lassen mit einem Halbsatz. Offensichtlich wollen wir Geld woanders hingeben. Hat das ein bisschen impliziert, dass wir vielleicht das Geld dann doch hätten besser in Katastrophenschutz investieren sollen statt in, weiß ich nicht, Autobahnausbau?
Voss: Ja, wobei der Katastrophenschutz, da würde ich viel mehr noch die Katastrophenprävention in den Blick nehmen wollen. Das ist dort mit drin angelegt, aber doch noch mal ein besonderer Bereich. Denn im Grunde genommen das, was wir an Ereignissen erleben, vielleicht jetzt weniger diese Extremniederschläge der letzten Tage in ihren Konsequenzen als vielmehr die Hochwasserereignisse 2002 und 2013, da sehen wir doch, dass es im Grunde genommen weniger der Schutzcharakter ist, dass wir irgendwie Deiche hochziehen müssen oder Schutzinfrastrukturen bauen, um Menschen bei Starkniederschlägen zu sichern, sondern vielmehr im Vorfeld darum geht, Abläufe zu schaffen, Siedlungsgebiete nicht in Hochwassergebieten auszuweisen. Da laufen die Ressourcen offenbar suboptimal, sage ich einmal. Es wird dort investiert, wo es gefährlich ist, und das hat natürlich auch seine ökonomischen Gründe.
Becker: Nun sind Sie auch engagiert in einem gemeinnützigen Verein. "Katastrophennetz" nennt der sich. Und Sie haben ganz anders dimensionierte Katastrophenfolgen schon persönlich in Augenschein genommen, in Japan zum Beispiel oder auf den Philippinen. Menschen unterschiedlicher Kulturkreise gehen auch unterschiedlich mit Katastrophen um. Ist das so?
Voss: Ja, und es ist gerade dieser Blick, der es mir dann immer schwer macht, auf unsere nationalen Ereignisse zu gucken, weil man ganz unterschiedliche Katastrophendimensionen vor seinem inneren Auge hat. Wenn man auf Haiti auf 300.000 - keiner weiß die Zahlen so ganz wirklich genau - Todesopfer schaut und vielleicht etliche, vier, fünf Millionen wenigstens indirekt Betroffene und dann unsere Ereignisse hier damit in Vergleich setzt, dann sieht man: Na ja, offenbar ist Katastrophe dort doch etwas vollkommen anderes als das, was wir hier mit diesem Begriff bezeichnen.
Becker: Jetzt hilft uns die rein nummerische Betrachtung ja nicht, wenn es darum geht, individuelles Leid zu bemessen.
Voss: Nein, völlig richtig. Deshalb ist es so wahnsinnig schwer, auch in diesen Zusammenhängen das richtige Augenmaß zu bewahren. Jedes einzelne individuelle Schicksal ist ein absoluter Verlust und es sind eigentlich im Grunde genommen weniger die Toten, die wir beklagen müssten, sondern vielmehr die Angehörigen, die Hinterbliebenen. Die tragen das Leid noch weiter und werden vielleicht ihr Leben lang damit zu tun haben. Vielleicht geht es sogar noch in die nächste Generation.
Das ist auf diesem Niveau natürlich genau immer hundert Prozent Schicksal oder Leid. Und doch müssen wir als Gesamtgesellschaft ja schauen, welche Art von Sicherheitsniveau haben wir schon erreicht, und da müssen wir einfach sagen, da passiert bei uns hierzulande im Vergleich zu anderen Regionen sehr viel weniger. Wir sind da auf einem sehr hohen Niveau und müssen dann auch jeweils immer wieder abwägen, ob wir die Aufmerksamkeit, die wir jetzt auf bestimmte Ereignisse geben, nicht unverhältnismäßig verteilen, wenn wir anderswo eigentlich hinschauen müssten, wo wir es gerade nicht tun.
Becker: Hätten Sie ein Beispiel für blinde Flecken?
Voss: Na ja. Wir sehen schon an dieser Art der Berichterstattung, und das haben wir bei jedem Ereignis eigentlich: Die Medien wenden sich nach einem bestimmten Zeitraum sowieso von einem Ereignis wieder ab, die öffentliche Wahrnehmung, will ich damit verallgemeinernd sagen. Aber wenn zwischendurch etwas anderes passiert, dann geht das schneller. Sprich: Wir haben die letzten Tage wieder unglaubliche Opferzahlen an den Küsten Europas zu beklagen, während wir hier über unsere Hochwasserlage viel mehr jetzt berichten, als dies in den Blick zu nehmen. Das sind die Wahrnehmungsverschiebungen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.