Die Hermannstraße zieht sich über knapp drei Kilometer durch den Berliner Bezirk Neukölln, führt vom Hermannplatz an der Grenze zu Kreuzberg über eine leichte Anhöhe bis ein paar hundert Meter südlich des S-Bahnrings, der den inneren Bereich Berlin umgibt. Ungefähr auf der Höhe des U-Bahnhofs Leinestraße durchbricht die Hermannstraße eine Platanenallee, die dort vor mehr als 100 Jahren angepflanzt wurde, quer zu einer damals noch deutlich weniger belebten Straße.
Sieben Friedhöfe hintereinander
Wer diese Allee entlanggeht, spaziert durch ein langes, breites Band von sieben Friedhöfen. Alle haben ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, und alle wurden angelegt von Kirchengemeinden, auf deren Friedhöfen in damals schon dicht besiedelten Bereichen nahe der Kirche kein Platz mehr war, erzählt der mittlerweile pensionierte Pfarrer Jürgen Quandt:
"Wenn ein Friedhof voll war, dann ist sozusagen der nächste angelegt worden. Am Beginn der Hermannstraße, am Hermannplatz befindet sich der alte St. Jacobi Friedhof und hier am Ende der Hermannstraße befindet sich der neue St. Jacobi Friedhof. Hier stehen wir auf dem alten St. Thomas Friedhof und auf der gegenüberliegenden Straßenseite war, muss man inzwischen sagen, der neue St. Thomas Friedhof. Also, der wurde eben angelegt, als dieser Friedhof hier voll belegt war, und so ist es an vielen Stellen passiert."
Rund 200 Friedhöfe gibt es in Berlin, etwas mehr als die Hälfte gehört der Evangelischen Kirche. Die meisten stammten aus dem 19. Jahrhundert, sehen ähnlich aus wie die an der Hermannstraße: Kleine Gräber, aber auch Familiengräber, einige schlicht, andere mit Ornamenten verziert, die immer noch vom Wohlstand der Gründerzeit zeugen – und dazwischen immer wieder Rasenflächen, Stellen, an denen Gräber eingeebnet wurden.
Kein erhöhter Bedarf
Jürgen Quandt, der bis bis vor kurzem auch Geschäftsführer des Evangelischen Friedhofsverbandes Berlin Mitte war:
"Es ist offensichtlich, dass große Teile dieser Friedhofsflächen nicht mehr für Bestattungszwecke benötigt werden. Das, glaube ich, kann jeder auch in Augenschein nehmen, der über diese Friedhöfe geht. Früher waren sie dicht belegt, eng and eng, Grab and Grabstelle, Grabstein and Grabstein, Und wenn Sie heute über diese Friedhöfe gehen, dann finden Sie große Flächen, wo noch ganz vereinzelt Grabsteine zu sehen sind. Sie bekommen immer mehr den Charakter eines Parkes, weil nicht mehr entsprechende Beisetzungszahlen vorhanden sind."
Seit 2006 habe sich der Bedarf nicht erhöht, sagt die zuständige Senatsumweltverwaltung. Das verwundert eigentlich, denn Berlin wächst stetig, von 40 000 bis 45 000 neuen Einwohnern jedes Jahr ist die Rede. Doch die Bestattungsformen haben sich stark geändert, seit die Friedhöfe angelegt wurden. Menschen lassen sich in Friedwäldern außerhalb der Stadt bestatten oder auf See. Und knapp die Hälfte der Verstorbenen werden in Berlin in Urnengräbern bestattet. Viele der neu nach Berlin Gezogenen lassen sich später in ihrem Heimatort beisetzen, so die Erfahrungen von Pfarrer Quandt. Dass der Kirche die Bestattungsflächen ausgehen, davon geht er nicht aus.
Er sagt: "Es gibt so viel Reserveflächen, dass auf lange, lange Sicht davon auszugehen ist, dass wir keine zusätzlichen Friedhofsflächen mehr benötigen. Ein Beispiel dafür wieder, wir haben die historischen Friedhöfe. Dies sind Gartendenkmale. Das heißt, die sind in der Gesamtheit ein Denkmal und dürfen nicht verändert werden so ohne weiteres. Aber zwischen den denkmalgeschützen Grabmalen befinden sich natürlich Flächen, die gar nicht mehr in Gänze benötigt werden. Aber diese Flächen kann man jetzt nicht ausgliedern und in die Mitte das irgendetwas raufbauen wollen oder so. Das geht einfach gar nicht. Die stehen dann als Reserveflächen für Bestattungen zur Verfügung."
Etwas darauf bauen lassen, das würde der Evanglische Friedhofsverband allerdings schon gerne in vielen Randbereichen, und zum Teil passiert es schon: Direkt an der Hermannstraße wird an einer Baustelle lautstark gearbeitet, dort entsteht das neue Verwaltungsgebäude des Friedhofsverbandes, daneben demnächst die neue Deutschlandzentrale der Schrebergärtner, gegenüber ein Zentrum für ausländische Journalisten.
"Sehen besondere Verantwortung"
Woanders hat die Kirche Boden für den Pausenhof einer Schule abgegeben – und sie hat Investorengemeinschaften ehemalige Friedhofsteile für Wohnungen verkauft. Gerade den Wohnungsbau würden sie gerne verstärken, sagt Pfarrer Ekkehard Gahlbeck, einer der beiden Geschäftsführer des Friedhofsverbandes Berlin-Mitte.
"Wenn wir Wohnungsbau sagen, meinen wir immer auch integrierte Konzepte, also Gruppen, Genossenschaften, sehr viele, von denen, die sonst auf dem Berliner Markt keine Chancen haben, noch bezahlbaren Wohnraum zu finden. Gerade wenn wir hier z.B. in Neukölln Friedhöfe für den Wohnungsbau entwickeln, dann sehen wir da eine besondere Verantwortung, weil hier dieser Effekt, Mieten werden wahnsinnig teuer sehr schnell, die Leute werden gezwungen hier auszuziehen, den kann man natürlich nicht so auffangen, dass wir sagen, wir entwicklen auch noch teure Wohnungen oder Eigentumswohnungen, sondern hier ist man in besonderer Weise auch dieser Bevölkerungsgruppe verpflichtet."
Für die Kirche geht es dabei auch ums eigene Geld: Weniger Bestattungen bedeuten weniger Einnahmen, aber immer noch die Verpflichtung, sich um Pflege und Unterhalt der öffentlichen genutzten Grünflächen zu kümmern: Grabsteine müssen standsicher sein, andere Unfallgefahren vermieden werden, es muss Geld für die Gartenpflege ausgegeben werden. An der Hermannstraße wurde der neue Sankt Thomas Friedhof als Naturschutz-Ausgleichsmaßnahme für eine neue Stadtautobahn aufgekauft und zuvor entwidmet. Jürgen Quandt:
"Da sind wir sehr froh, dass wir jetzt keine Zuständigkeit mehr haben. Denn das ist ein großen Problem für uns gewesen, eine große Fläche vom über sechs Hektar zu unterhalten, ohne dass das daraus Einnahmen erzielen werden konnte, und das ist natürlich jetzt entfallen."
"Bürokratischer Hürdenlauf"
Doch um den Flächennutzungsplan zu ändern, um Bebauungspläne aufzustellen kann es schon mal vier oder fünf Jahre dauern – auch beim Bau von dringend benötigten Wohnungen. Friedhöfe unterliegen besonderen Bedingungen, und in Berlin als Stadtstaat, in dem Bezirke und unterschiedliche Senatsverwaltungen für Genehmigungen zuständig sind, müssen viele Entscheidungen aufwändig abgestimmt werden. Und die Behörden handeln dabei nicht unbedingt immer im Gleichtakt, kritisierten die Friedhofs-Pfarrer. Ekkehard Gahlbeck:
"Wir sind schon gewohnt, langfristig zu denken, wir sind ja Friedhofsträger, und Friedhofsrecht ist langsam. Ruhefristen dauern 20 Jahre, Pietätsfristen zehn Jahre, wir sind gewohnt in langfristigen Zeiträumen zu denken. Und trotzdem ist man ungeduldig. Alleine schon das Abstimmungsverfahren, wie macht man aus einem Friedhof eine andere Fläche, ist ein dermaßen bürokratischer Hürdenlauf, den man such als Normalmensch gar nicht vorstellen kann."
Es geht um Naturschutzbelange, um den Schutz von seltenen Tierarten in bestimmten Bereichen der Friedhöfe, um Ausnahmen vom Denkmalschutz, um Sorgen, dass eine zu großzügige Bebauung der parkähnlichen Friedhöfe das Mikroklima in der Stadt negativ beeinflussen würde. Eine "grüne Nachnutzung" sei der angestrebte Regelfall, schreibt die Senatsumweltverwaltung auf Anfrage – also nicht eine Umwandlung in Wohnflächen. Den gibt es nur bei "öffentlichem Interesse". Erst einmal gibt also die Umweltverwaltung den Takt vor, andere Belange werden später berücksichtigt. Pfarrer Gahlbeck:
"Und das dann gesagt wird, das soll im Nachhinein dann mit dazu kommen, ist ein ein deutliches Zeichen, man denkt nicht integiert. Man denkt nach wie vor in einem Fachressort und damit ein Stück betriebsblind."
Pfarrer Gahlbeck hätte gerne gleich zu Beginn der behördlichen Planung, dass sich alle daran Beteiligten an einen Tisch setzen, auch die Kirche, die dann ihre Belange eines sozialverträglichen Wohnungsbaus mit einbringen könnte. Tatsächlich die Wohnungnot lösen könnte die Bebauung nicht mehr genutzter Friedhöfe allerdings nicht. Dennoch ist Pfarrer Gahlbeck von dem Vorhaben überzeugt.
"Wir würden etwa mit den Projekten, die wir derzeit betreiben, dafür sorgen können, dass wir Wohnraum für 3000 vielleicht auch 3500 Menschen schaffen können. Unser Beitrag wäre ein Lösungsbaustein, nicht der Baustein, aber immer ein Baustein, wenn man merkt, man kommt überhaupt nicht mehr mit dem Wohnungsbau voran."