Archiv

Umstrittene Asylpraxis in Bayern
Abschiebungen nach Afghanistan mitten in der Pandemie

Bayern schiebt Menschen nach Afghanistan ab. Das geltende Recht müsse durchgesetzt werden, so das Innenministerium. Kirchenvertreter wie Heinrich Bedford-Strohm und Asylhilfegruppe protestieren - denn Betroffen sind auch gut integrierte Jugendliche, die seit Jahren in Deutschland leben.

Von Dagmara Dzierzan | 11.02.2021
Der Rumpf eines Flugzeuges, das aus München im Zuge einer Sammelabschiebung nach Afghanistan flog.
Sammelabschiebung: Trotz immer schwierigeren Zuständen vor Ort schiebt Bayern weiterhin nach Afghanistan ab. (imago/Michael Trammer)
"Die bayerische Landessynode hat vor fünf Jahren einen Beschluss gefasst, Abschiebungen nach Afghanistan aus Gründen der Sicherheitslage auszusetzen", sagt Heinrich Bedford-Strohm. "Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan leider nicht verbessert. Allein im Januar sind 250 Menschen zu Tode gekommen, dieses Land ist nach wie vor ein gefährliches Land. Deswegen gibt es auch eine Reisewarnung nach Afghanistan. Der 2. Grund, der jetzt noch hinzugekommen ist, ist die Covid-19-Pandemie. Die Hälfte der Menschen allein in Kabul ist mit Covid-19 infiziert. Das Land ist völlig überfordert mit dem Umgang mit dieser Pandemie, und wir sagen, es ist nicht angemessen, in dieser Situation Menschen nach Afghanistan abzuschieben. Dieses Land wird wahrscheinlich auch die Hälfte seiner Einwohner in diesem Jahr aufgrund der Pandemie nur über humanitäre Kanäle versorgen können. Es ist eine sehr, sehr schwierige Situation und deswegen jetzt nicht der richtige Zeitpunkt abzuschieben".
Der evangelischer Landesbischof in Bayern und Ratsvorsitzende der EKD setzt sich seit langem gegen die umstrittenen Abschiebungen nach Afghanistan ein, erst recht während der Pandemie. Mit einem Appell sprach er sich auch gegen den Sammelflug aus, der am Dienstagabend von München nach Kabul ging.
Bischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), spricht während der Jahrestagung der EKD-Synode. 
"Es ist nicht angemessen, in dieser Situation Menschen nach Afghanistan abzuschieben", sagt Bischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). (dpa/Daniel Karmann)
Diesmal waren nicht nur Straftäter an Bord, wie die Behörden in Bayern beteuern. Seit März 2020 wurde zum ersten Mal wieder ein junger Mann abgeschoben, der fünf Jahre lang gut integriert in Allgäu lebte, ohne sich etwas zu Schulden kommen zu lassen, informiert der ökumenische Hilfsverein matteo. Kirche und Asyl. matteo-Vorsitzender Stefan Reichel kümmerte sich bis zuletzt um den 22-jährigen Hasib, der in Abschiebehaft festgehalten wurde. Reichel kritisiert scharf, dass Bayern immer wieder junge, unbescholtene Männer in ein unsicheres Land zurückschickt, zu dem die meisten von ihnen keinen Bezug mehr haben.
Reichel sagt: "Was einfach nicht stimmt, ist, dass überwiegend Straftäter abgeschoben werden, gerade nicht aus Bayern. Abgeschoben werden natürlich Menschen, die ausreisepflichtig sind, die aber auch nach Bundesrecht dann eine zweite Schiene nutzen könnten, nämlich über Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung. Das wird gerade in Bayern massiv behindert, dass diese Schiene überhaupt eingeschlagen werden kann, und dann sind diese Leute, die eigentlich gut integriert sind, oft fünf, sechs Jahre hier, sprechen sehr gut Deutsch, sind sehr beliebt in Handwerk und Wirtschaft – in Bayern kommen die auch in den Abschiebefokus."
Demonstrant mit Plakat und Aufschrift "Integration zulassen"
Ringen um die EU-Migrationspolitik
Das abgebrannte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist längst zur Chiffre einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik geworden. Doch bei Begriffen wie Solidarität ist die EU tief gespalten.

Innenministerium: "Handlungsfähigkeit beweisen"

Das trifft auch auf den 22-jährigen Aslam zu, der seit sieben Jahren in Deutschland lebt, derzeit in Bayreuth - ein guter Schüler mit einem Ausbildungsplatz als Verkäufer, der gerne weiter zur Schule gegangen wäre und nun, von der Abschiebung bedroht, Suizidgefährdet ist:
"Erstmal war mein Asylverfahren, da hab ich Quali gemacht, danach hab ich schulische Ausbildung angefangen, ein Jahr, bestanden, danach ist Ablehnung von Asyl gekommen, dann konnte ich nicht Ausbildung-Duldung kriegen, dann hab ich Schule verlassen. 2018 hab ich 2. Negative bekommen, dass ich nicht Asyl bekomme, ich wollte mich echt umbringen, weil ich nicht in Deutschland bleiben konnte. Dann hatt ich Angst, dass die mich vielleicht abschieben. In mein Dorf ist es so viel Taliban, Taliban haben auch mein Vater umgebracht, und eineinhalb Monate vorher ist mein Onkel umgebracht worden von Taliban, und ich bin auch von Taliban verfolgt, deswegen bin ich nach Deutschland gekommen. Jetzt bin ich immer in Behandlung, und ich nehme meine Tabletten regelmäßig, und ich wünsche mir, dass ich in Deutschland bleiben darf, aber wenn das alles negativ läuft, dann hab ich das Gefühl, dass ich mich umbringe."
Nach einem Urteil des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs von letzter Woche dürfen derzeit auch arbeitsfähige Männer nicht abgeschoben werden, wenn sie in Kabul keine Familie haben, weil ihnen dort ohne Hilfe "Verelendung" drohe.
Hasib und Aslam haben keine Familien mehr in Afghanistan - sie sind ermordet worden oder sind geflohen. Doch die bayerischen Behörden müssen sich juristisch nicht an das Urteil des Mannheimer VGH halten und berufen sich stets auf das rechtsstaatliche Asylverfahren, das im Fall einer Ablehnung zu der Verpflichtung der Abschiebung führe. Auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks am Donnerstag vergangener Woche antwortete eine Sprecherin des Bayerischen Innenministeriums wörtlich: "Die Corona-Pandemie ändert grundsätzlich nichts an den gesetzlichen Verpflichtungen. Konsequente Abschiebungen sind notwendig: Wir müssen das Asylrecht durchsetzen und Handlungsfähigkeit beweisen".
Die Fahne der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex
EU-Grenzsicherung: Frontex und die Pushback-Vowürfe
Der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird vorgeworfen, an illegalen Pushbacks beteiligt zu sein. In mehreren Fällen soll sie davon gewusst haben, dass die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf dem Mittelmeer abdrängte, anstatt sie an Land zu nehmen.
Stefan Reichel von "matteo" kritisiert zudem, dass die bayerische Staatsregierung auf die Appelle etwa vom Landesbischof Bedford-Strohm, der noch am Dienstag Vormittag darum bat, den Flug einzustellen, nicht reagiert hätte. So bleiben nur weitere Appelle: der Hilfsorganisationen, des Bayerischen Flüchtlingsrates, der Diakonie, der Kirchen – und der Versuch einer Betreuung der Abgeschobenen auch in Afghanistan. Stefan Reichel hat vor dem Abflug noch einmal mit Hasib telefoniert:
"Gerade hören wir, dass Hasib aus Kempten zum Flughafen gebracht wird und heute mitten in der Pandemie nach Kabul abgeschoben wird. Auch Aslam aus Bayreuth ist weiterhin bedroht. Dadurch werden viele, viele traurige Schicksale erzeugt, so wie wir sie bei Hasib und Aslam erleben."