Archiv

Umstrittene Erinnerungsorte
"Denkmäler erklären statt stürzen"

Der Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Jens-Christian Wagner, sprach sich im Dlf gegen den Sturz umstrittener Denkmäler aus. Diese seien zeithistorische Dokumente und erzählten von verdrängten Themen. Sie müssten aber erklärt und kontextualisiert werden. Doch es gebe auch Grenzen.

Jens-Christian Wagner im Gespräch mit Michael Köhler |
Das Mahnmal für die Toten der 110. Infanterie-Division auf dem Friedenspfad in Lüneburg. Dieser Einheit werden auch Kriegsverbrechen nachgesagt. Deshalb ist das Lüneburger Denkmal immer wieder Ziel von Zerstörung. Derzeit ist es mit Beton überdeckt und mit roter Farbe übergossen. Ein Prozess vor dem Verwaltungsgericht soll klären, ob das Mahnmal verhüllt werden muss.
Das Denkmal für Soldaten der Wehrmacht in Lüneburg beinhaltet seit 2018 eine kommentierende Tafel, die auf die Verbrechen der deutschen Wehrmacht hinweist (imago images / Martin Bäuml Fotodesign)
Am Verwaltungsgericht Lüneburg ist heute über den Antrag verhandelt worden, ein Denkmal zu Ehren der deutschen Wehrmacht zu verhüllen. Der Gedenkstein für die 110. Infanterie-Division der Wehrmacht wurde 1960 errichtet. Im Jahr 2018 wurde eine kommentierende Tafel installiert, die auf die Verbrechen der Wehrmacht hinweist. Holocaust-Überlebende fühlten sich von dem Mahnmal in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt und hatten auf Verhüllung geklagt. Nun hat das Gericht eine Einigung herbeigeführt. Die Tafel soll um den Hinweis ergänzt werden, dass die Infanterie-Division auch am Völkermord an den Juden in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 beteiligt war.
22. Juni 1941: Überfall von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion. Das Sowjetische Ehrenmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges in Grimma.
Das Unternehmen mit dem Decknamen "Barbarossa"
Der Überfall von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941, vor 75 Jahren. Was folgte, war ein grausam geführter Vernichtungskrieg, den Stalin zwar gewann. Die Sowjetunion hatte aber einen hohen Preis dafür zahlen müssen.
Michael Köhler: Wie geht man im Jahr 2020 sinnvoll mit solchen Gedenksteinen am besten um? Ist das Lüneburger Verwaltungsgerichts-Urteil eine Lösung, von der sie sagen, damit kann man leben?
Jens-Christian Wagner: Ja, ich glaube, das ist ein salomonischer Urteilsspruch – beziehungsweise es ist ja eigentlich gar kein Urteilsspruch, sondern ein Vergleich –, ich meine, damit kann man leben. Ich hätte es für nicht richtig gefunden, wenn Ergebnis dieses Verfahrens gewesen wäre, dass der Stein hätte verschwinden müssen oder dauerhaft verhüllt hätte werden müssen. Ich bin ausdrücklich kein Denkmalstürmer – nicht, weil ich diese Denkmäler so toll finde, sondern weil ich sie für zeithistorische Dokumente halte, die uns als historische Quellen sehr, sehr viel darüber erzählen, wie Geschichte und wie Akteure selbst sich in der Vergangenheit wahrgenommen haben. Dieses Denkmal ist sozusagen ein klassisches Beispiel dafür, wie in den 60er-Jahren sich ein restaurativer, verschweigender, beschönigender und eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen aus dem Weg gehender Diskurs über die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialismus gelegt hat.
Verbrechen wurden kleingeredet
Köhler: Sie haben gesagt, Denkmalsturz, Auslöschung ist keine Alternative, weil es Zeugnisse der 60er-Jahre sind.
Wagner: Nicht nur der 60er-Jahre, sondern wir haben es zum Teil ja auch mit Denkmälern zu tun, die noch aus dem Nationalsozialismus stammen, die auch überall in Deutschland noch zu finden sind. Wir haben es mit Kirchenglocken zu tun – da gab es in den vergangenen Jahren immer mal wieder die ein oder andere Debatte um Hakenkreuze auf Kirchenglocken, sogenannte Naziglocken. Und wir haben es eben mit einer anderen Kategorie von Denkmälern zu tun, nämlich wie in Lüneburg, Denkmäler, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden und die Verbrechen der Nationalsozialisten, die Verbrechen auch der Wehrmacht entweder kleinreden oder komplett verschweigen, so wie es auf diesem Denkmal der Fall gewesen ist.
Denkmal als historische Quelle begreifen
Köhler: NS-Symbole sind im öffentlichen Raum verboten, nicht Gedenksteine. Wenn an so eine Wehrmachtsdivision erinnert wird, die auch für Verschleppung, Deportation und Vernichtung von Menschen in Weißrussland und in anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetrepubliken verantwortlich ist, dann kann so was heute nicht unwidersprochen bleiben, ne?
Wagner: Nein, auf gar keinen Fall. Wir müssen, das ist unser Bildungsauftrag, gewissermaßen die historischen Quellen, als die ich solche Denkmäler betrachte, kontextualisieren. Sie müssen erklärt werden, sie müssen erläutert werden, sie müssen in einen Zusammenhang gestellt werden. Hier, in diesem Fall in Lüneburg, geht es ganz konkret um die Beteiligung des Infanterieregiments 110, dessen auf dem Gedenkstein gedacht wird, an einem der schlimmsten Verbrechen, die die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, konkret im März 1944, begangen hat, nämlich den Mord an mindestens 9.000 belarussischen Zivilistinnen und Zivilisten, darunter auch viele Kinder, die in die Sümpfe getrieben wurden de facto zwischen der sowjetischen und der deutschen Front.
Kommunen müssen Haltungen entwickeln
Köhler: Ich würde gerne auf einen Punkt noch zu sprechen kommen: Durch die Denkmalstürze im Zusammenhang mit der Kolonialismus-Debatte – wir erinnern uns an Churchill, an Kant, an Cromwell und so weiter –, da gibt es ja jetzt auch immer mehr Initiativen in den Städten, Denkmäler abzubauen oder zu stürzen oder zu kontextualisieren. In diesem Fall, über den wir reden, oder auch auf Deutschland bezogen, das erhöht doch jetzt auch den Druck auf die Kommunen, oder nicht?
Wagner: Ja, selbstverständlich, wobei das keine neue Entwicklung ist. Das hat jetzt sozusagen mit der Antikolonialismus-Debatte, die eine Folge ist von dem Mord an George Floyd in den USA, noch mal zugenommen, hat das noch mal neuen Drive bekommen. Aber die Debatte haben wir seit vielen Jahren auch zum Beispiel um Straßenbenennungen, nach problematischen NS-belasteten Generälen zum Beispiel.
Wir müssen dazu beitragen, nicht nur wir als Gedenkstättenstiftungen, sondern wir alle, sozusagen als wache demokratische Staatsbürger, dass Geschichte im öffentlichen Raum kritisch hinterfragt wird. Dazu zählen eben auch solche Gedenksteine, und dazu müssen die Kommunen dann eine Haltung entwickeln. Das, was wir in Lüneburg haben, ist bei Weitem kein Einzelfall.
"Ein Himmler-Denkmal ginge meines Erachtens nicht"
Es gibt einen weiteren Gedenkstein für eine Infanteriedivision, die ebenfalls an dem Massaker in Osaritschi, also in diesen Sumpflagern beteiligt gewesen ist im März 1944. Das ist die 35. Infanteriedivision, für die ein Denkmal 1964, also kurz nach dem Denkmal von Lüneburg in Karlsruhe errichtet wurde. Dort gibt es seit einigen Jahren eine Infotafel, und in Lüneburg gibt es ja auch seit 2018 eine Infotafel, die jetzt noch mal verändert wird. Das ist meines Erachtens der richtige Weg.
Schwieriger wird es, wenn solche Denkmäler in unerträglicher Weise Verbrecher ehren. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Heinrich-Himmler-Denkmal vor, das ginge meines Erachtens nicht. Da muss man andere Formen des Umgangs finden – verfremdende, künstlerische Formen des Umgangs mit solchen Denkmälern. Komplett verschwinden lassen würde ich sie aber aus dem öffentlichen Raum nicht, weil sie genutzt werden können, historische Debatten anzustoßen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.