"Ich glaube, dass die Prophetie der Hildegard unmittelbar aus der List des Teufels entspringt. Er will die Menschen mit ihrer Hilfe mit vielen Falschheiten und Nichtigkeiten verwirren. Gerade durch jene Hildegard lehrt er viele Irrtümer und durch sie gibt er Anweisungen an ihre ketzerischen Anhänger."
Johannes Peckham, der Provinzialmeister der englischen Franziskaner und der spätere Erzbischof von Canterbury, war entsetzt als er 1270 erstmals die Schriften einer Frau zu lesen bekam, die als Lehrerin und Seherin in religiösen Fragen bekannt geworden war. Für Peckham war hier die Grenze des Erlaubten überschritten.
"Deshalb tadele ich all diejenigen, die die Lehre einer Frau in der Kirche verbreiten. Alle Zeichen, die sie verkündigen, sind betrügerisch und falsch."
Schließlich war für Frauen jeglicher Zugang zur Universitätsbildung und zu einem kirchlichen Lehramt grundsätzlich verboten. Aber das war nicht der einzige Grund für die Wutausbrüche des Franziskaners gegen die Klosterfrau aus Deutschland. Was Johannes Peckham besonders ärgerte, waren die Ansichten, die diese Hildegard über das christliche Leben allgemein, aber besonders auch über das klösterliche Leben vertreten hatte.
Johannes Peckham war ein strenger Vertreter des christlichen Armutsideals, wie es seit dem 12. Jahrhundert und dann vor allem von Franziskus von Assisi in das kirchliche Leben eingebracht worden war. Als er nun die Schriften von Hildegard von Bingen in die Hände bekam, erkannte er, dass diese Klosterfrau nicht das geringste Verständnis für die christliche Armutsbewegung gezeigt hatte. Im Gegenteil.
Hildegard vertrat das elitäre Christentum einer mittelalterlichen Adelsgesellschaft, die davon überzeugt war, dass Gott der Aristokratie in der christlichen Heilsgeschichte eine besondere Rolle zugewiesen hatte. Dazu der Mediävist Friedrich Prinz:
"Sie hatte kein Interesse für Volksmission, die dann die große Aufgabe der Bettelorden wurde. Und obwohl sie von der Reformbedürftigkeit von Kirche und Klerus überzeugt war, wendet sie sich gegen die religiösen Volksbewegungen ihrer Zeit."
Hildegards elitäres Verständnis des Christentums war völlig auf die Aristokratie konzentriert, obwohl sie selbst nicht gerade aus dem Hochadel stammte. 1098 war sie in der Nähe von Alzey als Tochter des kleinen Landadeligen Hildebert von Bermersheim und dessen Gattin Mechthild geboren worden. Bereits mit acht Jahren hatten sie ihre Eltern in ein Kloster an die adelige Klosterfrau Jutta von Spanheim übergeben, die mit einigen frommen Frauen in unmittelbarer Nähe des Benediktinermönchsklosters Disibodenberg an der Nahe lebte.
Jutta war eine sehr strenge Asketin, die sich eine Klause bauen ließ, in der sie den Rest ihres Lebens als Eingeschlossene verbringen wollte. Da Hildegard unter der besonderen Obhut Juttas stand, wurde sie mit ihr zusammen, wie es damals üblich war, von den Mönchen mit einer feierlichen Begräbniszeremonie in diese Klause eingemauert, wo die beiden vermutlich jahrelang auf engstem Raum zusammenlebten. Der Kirchenhistoriker Helmut Feld:
"Die Inkluse übernahm von nun an die Hildegards Erziehung. Das Kind wurde von ihr in das Singen und Beten des Psalters eingeführt und erlernte damit auch das Lesen und Schreiben."
Es war im 12. Jahrhundert durchaus nicht unüblich, dass sich Menschen in eine Klause einmauern ließen, um sich voll und ganz der Askese und der frommen Lebensführung zu widmen. Von solchen Persönlichkeiten ging sogar eine besondere Faszination aus. Auch zur Klause der Jutta von Spanheim kamen innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Schülerinnen, um in ihrer Nähe zu leben und von ihr zu lernen. Hildegard scheint von Anfang an eine besonders eifrige Schülerin gewesen zu sein. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:
"Sie erhielt dort eine literarische Ausbildung, die in der Forschung als ziemlich elementares Grundwissen bezeichnet wird, ohne dass man deren genaue Konturen bislang bestimmen konnte. Nach dem Tod Juttas, im Jahre 1136, wurde Hildegard zur 'Magistra', also zur Leiterin und Lehrerin des neuen Frauenklosters gewählt."
Neben dem Mönchskloster auf dem Disibodenberg, zu dem die Klause gehörte, war inzwischen für die vielen Schülerinnen Juttas von Spanheim ein eigener Frauenkonvent entstanden. Wann Hildegard allerdings die Klause verlassen hat und zu den anderen Schwestern ins Kloster zog, ist nicht bekannt. Aus den historischen Quellen lässt sich nur noch ermitteln, dass sie mit 38 Jahren Jutta von Spanheims Nachfolgerin wurde.
Die Nonnen standen weiterhin unter der Aufsicht der Benediktinermönche. Und das nachbarschaftliche Zusammenleben gestaltete sich keineswegs harmonisch. Immer wieder wird von Konflikten berichtet. Besonders Hildegard trat gegenüber dem Abt von Disibodenberg sehr selbstbewusst auf, wenn es um Angelegenheiten des Frauenkonvents ging. Sie fiel vor allem dadurch auf, dass sie jede Art von selbstquälerischer Askese, wie sie damals in den Klöstern weit verbreitet war, kategorisch ablehnte. Hier fand eindeutig auch ein Bruch mit ihrer Lehrerin Jutta von Spanheim statt. Vermutlich hatte sie an das strenge Leben, eingemauert in der Klause, nicht nur positive Erinnerungen. Jedenfalls plädierte Hildegard jetzt für eine 'vernünftige' Enthaltsamkeit. Der Mediävist Friedrich Prinz:
"Immer wieder betont sie das Maßvolle und Wohlüberlegte der Ordensregel Benedikts. Sie wendet sich gegen langes Beten wie gegen eine überlange Liturgie, zeigt sich auch großzügig hinsichtlich des Fleischgenusses im Kloster und fügt für den dritten Gang der Hauptmahlzeit, der bei Benedikt nur aus Früchten und Gemüse bestehen sollte, nun auch Fisch, Käse und Eier hinzu."
Dass Hildegard sich mit diesen eigenwilligen Veränderungen der Klosterregeln nicht nur Freunde machte, war unvermeidlich. Aber es kam noch etwas hinzu, das zwischen ihr und den Mönchen zu heftigen Spannungen führte. Hildegard berief sich nämlich bei ihren Entscheidungen auf göttliche Offenbarungen.
Sie hatte Visionen, die ihr Kenntnisse vermittelten, die – wie sie selbst immer wieder betonte – "nicht aus einem Menschenmund stammten." Genau genommen handelte es sich um Visionen und Auditionen, also um Erscheinungen, die auch von einer Stimme begleitet wurden. In ihrem später berühmt gewordenen Buch "Scivias – Wisse die Wege" beschreibt sie dies so:
"Es geschah im Jahr 1141, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war: Da kam aus dem geöffneten Himmel ein feuriges Licht von gewaltigem Glanz; es durchströmte mein ganzes Gehirn und entzündete mein Herz. Und sogleich erlangte ich die Einsicht in die Auslegung der Bücher, des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bücher. Ich besaß aber nicht die Interpretation der Worte ihres Textes und der grammatischen Strukturen."
Auffällig ist, dass Hildegard höchsten Wert darauf legt, dass ihre Art der Auslegung der heiligen Bücher sich grundsätzlich von der Exegese der Theologen und den Interpretationen der Philosophen unterscheidet. Dazu die Kirchenhistorikerin Elisabeth Gössmann:
"Da es für Frauen nicht möglich war, als Autorinnen in der theologisch-philosophischen Gelehrsamkeit aufzutreten, suchten sie nach einer anderen Gelegenheit, ihre Meinung zu den heiß diskutierten Fragen ihrer Zeit beizusteuern, und fanden diese nur im Rahmen visionärer mystischer Schriften. Diese Frauen betonen ausdrücklich, dass ihre Werke eigentlich von Gott stammen und sie selbst nur unwürdige Werkzeuge sind."
Und genauso verfuhr auch Hildegard. Um nicht in den Verdacht zu geraten, sie maße sich an, als Theologin und Philosophin aufzutreten, hebt sie die übernatürliche Art ihrer Visionen hervor:
"Was ich nicht in Visionen sehe, das weiß ich nicht, weil ich ungebildet bin."
Immer wieder kokettiert Hildegard damit, dass sie die Heiligen Schriften nicht lesen und verstehen kann, obwohl sie natürlich im Kloster einiges gelernt und sich als Autodidaktin manches angeeignet hat. Doch das muss ganz in den Hintergrund treten. Sie betont ausdrücklich, dass ihr gesamtes Wissen nicht auf ihre Bildung zurückzuführen ist, sondern dass sie es in göttlichen Visionen erfährt. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:
"Auch wenn Hildegard über theologische Fragen spricht, geschieht dies in einer Weise, die keinerlei Diskussion oder Kontrolle zulässt. Es handelt sich um Offenbarungen, nicht um Theologie und noch viel weniger um Philosophie. Deshalb müssen Hildegards Visionen in ihrer Gesamtheit als poetische Texte gesehen und verstanden werden."
Visionen sind im Mittelalter nichts Außergewöhnliches. Vom religionsgeschichtlichen Standpunkt aus gesehen, handelt sich dabei um eine besondere Form des religiösen Denkens, mit dem die Visionäre mit eigenen Sinnbildern die sie umgebende Realität reflektieren. Es handelt sich im Gegensatz zum rationalen Denken um ein meditatives Denken.
Doch auch im Mittelalter standen solche Visionen unter dem Verdacht, dass es sich um Betrug oder gar um Ketzerei handeln könne. Sofort kam die Frage auf, wer den Visionären denn ihre Visionen eingebe. Waren sie göttlichen Ursprungs, oder waren es am Ende nur Trugbilder des Teufels?
Bezeichnend für die Fragen, die sich auch die Zeitgenossen Hildegards stellten, ist zum Beispiel ein Brief, den der Mönch Guibert von Gembloux an Hildegard schrieb:
"Wir möchten gerne wissen, ob du dich, nachdem du deine Visionen aufgeschrieben hast, noch daran erinnern kannst, wie sie zustande kamen? Kannst du uns auch sagen, ob diese Visionen in lateinischer Sprache sind. Ober empfängst du sie deutsch und sie werden dann ins Lateinische übersetzt?"
Hildegard wusste natürlich, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass man ihre prophetische Begabung bereits nach Rom gemeldet hatte. Papst Eugen III. hatte deshalb eine Kommission beauftragt, ihre Visionen näher zu untersuchen. Entsprechend vorsichtig fiel auch Hildegards Antwort aus:
"Ich bin völlig ungebildet und spreche in ungefeiltem Latein aus, was ich in den Visionen sehe und auch höre. Ich werde durch diese Visionen ja nicht gelehrt, so zu schreiben und zu verstehen, wie die Theologen und Philosophen es können."
Hildegards Metier ist die Prophetie. Nur darauf kann und darf sie sich beschränken. Der Kirchenhistoriker Helmut Feld:
"Der Bereich des visionären Prophetentums war im Mittelalter der große Freiraum, innerhalb dessen Frauen religiöses Denken betreiben und zur Entfaltung einer meditativen Theologie kommen konnten. Abseits und jenseits der Wege der Schul- und Hochtheologie der Kleriker. Aber nicht immer ging es dabei ohne Konflikte mit den kirchlichen Amtsträgern ab."
Als Visionärin aufzutreten, gab Frauen zwar die Möglichkeit, sich in kirchliche und religiöse Themen einzubringen, es war aber gleichzeitig immer auch eine Gratwanderung. Auch in Hildegards Fall schien sich – nicht zuletzt im Blick auf die päpstliche Untersuchungskommission – die Situation gefährlich zuzuspitzen.
Johannes Peckham, der Provinzialmeister der englischen Franziskaner und der spätere Erzbischof von Canterbury, war entsetzt als er 1270 erstmals die Schriften einer Frau zu lesen bekam, die als Lehrerin und Seherin in religiösen Fragen bekannt geworden war. Für Peckham war hier die Grenze des Erlaubten überschritten.
"Deshalb tadele ich all diejenigen, die die Lehre einer Frau in der Kirche verbreiten. Alle Zeichen, die sie verkündigen, sind betrügerisch und falsch."
Schließlich war für Frauen jeglicher Zugang zur Universitätsbildung und zu einem kirchlichen Lehramt grundsätzlich verboten. Aber das war nicht der einzige Grund für die Wutausbrüche des Franziskaners gegen die Klosterfrau aus Deutschland. Was Johannes Peckham besonders ärgerte, waren die Ansichten, die diese Hildegard über das christliche Leben allgemein, aber besonders auch über das klösterliche Leben vertreten hatte.
Johannes Peckham war ein strenger Vertreter des christlichen Armutsideals, wie es seit dem 12. Jahrhundert und dann vor allem von Franziskus von Assisi in das kirchliche Leben eingebracht worden war. Als er nun die Schriften von Hildegard von Bingen in die Hände bekam, erkannte er, dass diese Klosterfrau nicht das geringste Verständnis für die christliche Armutsbewegung gezeigt hatte. Im Gegenteil.
Hildegard vertrat das elitäre Christentum einer mittelalterlichen Adelsgesellschaft, die davon überzeugt war, dass Gott der Aristokratie in der christlichen Heilsgeschichte eine besondere Rolle zugewiesen hatte. Dazu der Mediävist Friedrich Prinz:
"Sie hatte kein Interesse für Volksmission, die dann die große Aufgabe der Bettelorden wurde. Und obwohl sie von der Reformbedürftigkeit von Kirche und Klerus überzeugt war, wendet sie sich gegen die religiösen Volksbewegungen ihrer Zeit."
Hildegards elitäres Verständnis des Christentums war völlig auf die Aristokratie konzentriert, obwohl sie selbst nicht gerade aus dem Hochadel stammte. 1098 war sie in der Nähe von Alzey als Tochter des kleinen Landadeligen Hildebert von Bermersheim und dessen Gattin Mechthild geboren worden. Bereits mit acht Jahren hatten sie ihre Eltern in ein Kloster an die adelige Klosterfrau Jutta von Spanheim übergeben, die mit einigen frommen Frauen in unmittelbarer Nähe des Benediktinermönchsklosters Disibodenberg an der Nahe lebte.
Jutta war eine sehr strenge Asketin, die sich eine Klause bauen ließ, in der sie den Rest ihres Lebens als Eingeschlossene verbringen wollte. Da Hildegard unter der besonderen Obhut Juttas stand, wurde sie mit ihr zusammen, wie es damals üblich war, von den Mönchen mit einer feierlichen Begräbniszeremonie in diese Klause eingemauert, wo die beiden vermutlich jahrelang auf engstem Raum zusammenlebten. Der Kirchenhistoriker Helmut Feld:
"Die Inkluse übernahm von nun an die Hildegards Erziehung. Das Kind wurde von ihr in das Singen und Beten des Psalters eingeführt und erlernte damit auch das Lesen und Schreiben."
Es war im 12. Jahrhundert durchaus nicht unüblich, dass sich Menschen in eine Klause einmauern ließen, um sich voll und ganz der Askese und der frommen Lebensführung zu widmen. Von solchen Persönlichkeiten ging sogar eine besondere Faszination aus. Auch zur Klause der Jutta von Spanheim kamen innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Schülerinnen, um in ihrer Nähe zu leben und von ihr zu lernen. Hildegard scheint von Anfang an eine besonders eifrige Schülerin gewesen zu sein. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:
"Sie erhielt dort eine literarische Ausbildung, die in der Forschung als ziemlich elementares Grundwissen bezeichnet wird, ohne dass man deren genaue Konturen bislang bestimmen konnte. Nach dem Tod Juttas, im Jahre 1136, wurde Hildegard zur 'Magistra', also zur Leiterin und Lehrerin des neuen Frauenklosters gewählt."
Neben dem Mönchskloster auf dem Disibodenberg, zu dem die Klause gehörte, war inzwischen für die vielen Schülerinnen Juttas von Spanheim ein eigener Frauenkonvent entstanden. Wann Hildegard allerdings die Klause verlassen hat und zu den anderen Schwestern ins Kloster zog, ist nicht bekannt. Aus den historischen Quellen lässt sich nur noch ermitteln, dass sie mit 38 Jahren Jutta von Spanheims Nachfolgerin wurde.
Die Nonnen standen weiterhin unter der Aufsicht der Benediktinermönche. Und das nachbarschaftliche Zusammenleben gestaltete sich keineswegs harmonisch. Immer wieder wird von Konflikten berichtet. Besonders Hildegard trat gegenüber dem Abt von Disibodenberg sehr selbstbewusst auf, wenn es um Angelegenheiten des Frauenkonvents ging. Sie fiel vor allem dadurch auf, dass sie jede Art von selbstquälerischer Askese, wie sie damals in den Klöstern weit verbreitet war, kategorisch ablehnte. Hier fand eindeutig auch ein Bruch mit ihrer Lehrerin Jutta von Spanheim statt. Vermutlich hatte sie an das strenge Leben, eingemauert in der Klause, nicht nur positive Erinnerungen. Jedenfalls plädierte Hildegard jetzt für eine 'vernünftige' Enthaltsamkeit. Der Mediävist Friedrich Prinz:
"Immer wieder betont sie das Maßvolle und Wohlüberlegte der Ordensregel Benedikts. Sie wendet sich gegen langes Beten wie gegen eine überlange Liturgie, zeigt sich auch großzügig hinsichtlich des Fleischgenusses im Kloster und fügt für den dritten Gang der Hauptmahlzeit, der bei Benedikt nur aus Früchten und Gemüse bestehen sollte, nun auch Fisch, Käse und Eier hinzu."
Dass Hildegard sich mit diesen eigenwilligen Veränderungen der Klosterregeln nicht nur Freunde machte, war unvermeidlich. Aber es kam noch etwas hinzu, das zwischen ihr und den Mönchen zu heftigen Spannungen führte. Hildegard berief sich nämlich bei ihren Entscheidungen auf göttliche Offenbarungen.
Sie hatte Visionen, die ihr Kenntnisse vermittelten, die – wie sie selbst immer wieder betonte – "nicht aus einem Menschenmund stammten." Genau genommen handelte es sich um Visionen und Auditionen, also um Erscheinungen, die auch von einer Stimme begleitet wurden. In ihrem später berühmt gewordenen Buch "Scivias – Wisse die Wege" beschreibt sie dies so:
"Es geschah im Jahr 1141, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war: Da kam aus dem geöffneten Himmel ein feuriges Licht von gewaltigem Glanz; es durchströmte mein ganzes Gehirn und entzündete mein Herz. Und sogleich erlangte ich die Einsicht in die Auslegung der Bücher, des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bücher. Ich besaß aber nicht die Interpretation der Worte ihres Textes und der grammatischen Strukturen."
Auffällig ist, dass Hildegard höchsten Wert darauf legt, dass ihre Art der Auslegung der heiligen Bücher sich grundsätzlich von der Exegese der Theologen und den Interpretationen der Philosophen unterscheidet. Dazu die Kirchenhistorikerin Elisabeth Gössmann:
"Da es für Frauen nicht möglich war, als Autorinnen in der theologisch-philosophischen Gelehrsamkeit aufzutreten, suchten sie nach einer anderen Gelegenheit, ihre Meinung zu den heiß diskutierten Fragen ihrer Zeit beizusteuern, und fanden diese nur im Rahmen visionärer mystischer Schriften. Diese Frauen betonen ausdrücklich, dass ihre Werke eigentlich von Gott stammen und sie selbst nur unwürdige Werkzeuge sind."
Und genauso verfuhr auch Hildegard. Um nicht in den Verdacht zu geraten, sie maße sich an, als Theologin und Philosophin aufzutreten, hebt sie die übernatürliche Art ihrer Visionen hervor:
"Was ich nicht in Visionen sehe, das weiß ich nicht, weil ich ungebildet bin."
Immer wieder kokettiert Hildegard damit, dass sie die Heiligen Schriften nicht lesen und verstehen kann, obwohl sie natürlich im Kloster einiges gelernt und sich als Autodidaktin manches angeeignet hat. Doch das muss ganz in den Hintergrund treten. Sie betont ausdrücklich, dass ihr gesamtes Wissen nicht auf ihre Bildung zurückzuführen ist, sondern dass sie es in göttlichen Visionen erfährt. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:
"Auch wenn Hildegard über theologische Fragen spricht, geschieht dies in einer Weise, die keinerlei Diskussion oder Kontrolle zulässt. Es handelt sich um Offenbarungen, nicht um Theologie und noch viel weniger um Philosophie. Deshalb müssen Hildegards Visionen in ihrer Gesamtheit als poetische Texte gesehen und verstanden werden."
Visionen sind im Mittelalter nichts Außergewöhnliches. Vom religionsgeschichtlichen Standpunkt aus gesehen, handelt sich dabei um eine besondere Form des religiösen Denkens, mit dem die Visionäre mit eigenen Sinnbildern die sie umgebende Realität reflektieren. Es handelt sich im Gegensatz zum rationalen Denken um ein meditatives Denken.
Doch auch im Mittelalter standen solche Visionen unter dem Verdacht, dass es sich um Betrug oder gar um Ketzerei handeln könne. Sofort kam die Frage auf, wer den Visionären denn ihre Visionen eingebe. Waren sie göttlichen Ursprungs, oder waren es am Ende nur Trugbilder des Teufels?
Bezeichnend für die Fragen, die sich auch die Zeitgenossen Hildegards stellten, ist zum Beispiel ein Brief, den der Mönch Guibert von Gembloux an Hildegard schrieb:
"Wir möchten gerne wissen, ob du dich, nachdem du deine Visionen aufgeschrieben hast, noch daran erinnern kannst, wie sie zustande kamen? Kannst du uns auch sagen, ob diese Visionen in lateinischer Sprache sind. Ober empfängst du sie deutsch und sie werden dann ins Lateinische übersetzt?"
Hildegard wusste natürlich, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass man ihre prophetische Begabung bereits nach Rom gemeldet hatte. Papst Eugen III. hatte deshalb eine Kommission beauftragt, ihre Visionen näher zu untersuchen. Entsprechend vorsichtig fiel auch Hildegards Antwort aus:
"Ich bin völlig ungebildet und spreche in ungefeiltem Latein aus, was ich in den Visionen sehe und auch höre. Ich werde durch diese Visionen ja nicht gelehrt, so zu schreiben und zu verstehen, wie die Theologen und Philosophen es können."
Hildegards Metier ist die Prophetie. Nur darauf kann und darf sie sich beschränken. Der Kirchenhistoriker Helmut Feld:
"Der Bereich des visionären Prophetentums war im Mittelalter der große Freiraum, innerhalb dessen Frauen religiöses Denken betreiben und zur Entfaltung einer meditativen Theologie kommen konnten. Abseits und jenseits der Wege der Schul- und Hochtheologie der Kleriker. Aber nicht immer ging es dabei ohne Konflikte mit den kirchlichen Amtsträgern ab."
Als Visionärin aufzutreten, gab Frauen zwar die Möglichkeit, sich in kirchliche und religiöse Themen einzubringen, es war aber gleichzeitig immer auch eine Gratwanderung. Auch in Hildegards Fall schien sich – nicht zuletzt im Blick auf die päpstliche Untersuchungskommission – die Situation gefährlich zuzuspitzen.