Lesen Sie hier den Aufsatz "Gnade und Berufung ohne Reue" von Benedikt XVI. mit Geleitwort von Kurt Kardinal Koch.
Andreas Main: Es hat in der Kirchengeschichte schon mal drei Päpste gleichzeitig gegeben, aber dem lag ein Schisma zugrunde. Heute hat die katholische Kirche einen emeritierten Papst und einen amtierenden Papst. Wobei der ältere, 91-Jährige eigentlich nichts mehr zu sagen hat. Und doch tragen Benedikt und Franziskus päpstliches Weiß, was schon irritieren kann. Über all das ist viel diskutiert worden. Nun hat die Debatte neuen Stoff bekommen, denn eigentlich wollte "Papa emeritus Benedictus" schweigen. Doch in diesem Sommer ist ein Text von ihm erschienen, der erst mal unspektakulär daherkommt, wenn man nur den Titel liest – "Gnade und Berufung ohne Reue". Doch schon der Untertitel macht klar, das ist kein harmloser Text eines sehr alten Mannes, sondern ein Text, der es in sich hat oder es in sich haben kann. Der Untertitel lautet "Anmerkungen zum Traktat De Iudaeis" – über die Juden. Es geht ums Verhältnis von Juden und Christen.
Der Text ist in einer Fachzeitschrift erschienen, in der "Internationalen katholischen Zeitschrift Communio". Besonders der Theologe und Rabbiner Walter Homolka zog gegen den Text zu Felde. Auch mehrere katholische Theologen kritisierten ihn, etwa Gregor Maria Hoff, Professor in Salzburg, hier in dieser Sendung vor einer Woche. Bevor ich meine heutigen Gesprächspartner vorstelle, bitte ich sie um ein erstes Statement. Warum ist es aus jüdischer Sicht wichtig, sich mit diesem Text zu beschäftigen, Daniel Krochmalnik?
Daniel Krochmalnik: Benedikt XVI. ist ja nicht nur Papst a.D., sondern er ist einer der wichtigsten Protagonisten der konziliaren und nachkonziliaren Kirche. Sein Wort hat Gewicht. Selbstverständlich hören wir genau hin, was er sagt, könnte ja auch Indikator des Standes des christlich-jüdischen Gesprächs sein.
"Sein Wort hat Gewicht"
Main: Und Thomas Söding, der Sie eine Gegenposition beziehen werden, warum lohnt es sich aus christlicher Sicht, sich mit diesem "Ratzinger-Text" auseinanderzusetzen?
Thomas Söding: Ja, für Joseph Ratzinger ist das Verhältnis zwischen Jesus und dem Judentum, das Verhältnis zwischen Israel und der Kirche, einfach ein ganz großes lebensgeschichtliches Thema. Es ist das Thema seiner Generation. Er hat sich in seinen verschiedenen Funktionen immer über dieses Thema ausgelassen und war an diesem Punkt sehr engagiert. Und von daher finde ich es jetzt gar nicht so überraschend, dass, wenn er denn sein Schweigen bricht, gerade dieses Thema im Fokus steht.
Main: Wir wollen also beide Seiten zusammenbringen. Einen, der für den "Ratzinger-Text" mitverantwortlich ist und der als theologischer Theologieprofessor zu ihm steht - und einen, der die Wirkung dieses Textes auf Juden skizzieren kann. Beide werden diskutieren, auch über den Hauptvorwurf, Joseph Ratzinger würde mit seinem Text neuen Formen des Antisemitismus den Weg bereiten.
Noch ein paar Sätze zu meinen Gesprächspartnern: Daniel Krochmalnik ist seit März Professor für jüdische Religion und Philosophie an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam.
Thomas Söding ist Professor für das Neue Testament an der Ruhr-Uni Bochum. Er ist Mitherausgeber der besagten Zeitschrift "Communio". Guten Morgen in die Runde nach Münster und Berlin. Guten Morgen, Daniel Krochmalnik.
Krochmalnik: Guten Morgen.
Main: Guten Morgen, Thomas Söding.
Söding: Guten Morgen.
Main: Herr Krochmalnik, was waren Ihre ersten Reaktionen, als Sie von dem Text hörten sowie von den Antisemitismusvorwürfen?
Krochmalnik: Ja, also Antisemitismusvorwürfe werden ja heute oft und leicht erhoben. Ich finde, ein Text muss nicht antisemitisch sein, um problematisch zu sein. Also, es gibt in diesem Text eine ganze Reihe von Problemen, die meines Erachtens zwischen Juden und Katholiken diskutiert werden müssen. Dabei muss gar nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob der Text antisemitisch ist.
Main: Herr Söding, wie wiederum haben Sie reagiert, als der Antisemitismusvorwurf laut wurde? Waren Sie überrascht oder haben Sie vorhergesehen, dass die Äußerungen des Papstes Wellen schlagen würden?
Söding: Dass die Äußerungen Wellen schlagen würden, ist mir klar. Ich kannte den Text ja nun vorher, weil ich auch an der Entscheidung beteiligt war, ihn in unserer Zeitschrift, die übrigens Joseph Ratzinger selbst mitgegründet hatte, zu veröffentlichen. Mir war klar, dass das ein sehr heißes Thema ist, aber genau deswegen bin ich der Meinung, dass dieser Text auch in die öffentliche Debatte hineingehört.
"Antisemitische Tendenzen habe ich nicht wahrgenommen"
Antisemitische Tendenzen habe ich bei Joseph Ratzinger nie kennengelernt. Ich habe die auch nicht im Ansatz in diesem Text wahrgenommen. Aber natürlich ist dann die Aufgabe des christlichen Theologen, auch zunächst mal genau zu hören, wie auf jüdischer Seite ein solcher Text denn wahrgenommen wird.
Main: Wie wird er wahrgenommen, Daniel Krochmalnik?
Krochmalnik: Ich möchte vielleicht ein wenig ausholen. Ich meine, der Text beginnt mit dem Wort Auschwitz, nahezu. Es heißt: "Seit Auschwitz ist klar, dass die Kirche die Frage nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss." Das ist eine Aussage, die in den großen Schuldbekenntnissen der Kirchen nach dem Völkermord an den Juden immer ausdrücklich oder wenigstens implizit vorkommt.
Was ich vermisse, ist die Einlösung dieses ersten Satzes. Denn dann ist von Auschwitz gar nicht mehr die Rede. Ich meine, es sind zwei Punkte, die die Kirchen betont haben nach dem Völkermord in ihren Schuldbekenntnissen.
Der erste Punkt ist, dass die Lehre der Verachtung, wie der jüdische Historiker Jules Isaac das genannt hat, also die Lehre, wonach die Kirche die Synagoge ersetzt hat und die Synagoge von Gott verworfen worden ist, dass diese Lehre Sünde ist, dass Antisemitismus Sünde ist, und dass sie eine Quelle des Vernichtungsantisemitismus im vergangenen Jahrhundert war.
Und der zweite Punkt, den Johannes Paul II. in der Synagoge in Köln geäußert hat und der auch heute zur Lehre der Kirche gehört, ist, dass der Bund mit Israel eben nie gekündigt war, also, dass die Kirche gewissermaßen 2000 Jahre lang in diesem Punkt geirrt hatte.
"Positionen, die den Stand des Dialogs infrage stellen"
Diese beiden Punkte stellt dieser Text infrage. Erstens mal stellt er infrage, dass es so was wie eine Lehre der Verwerfung oder Ersetzung der Synagoge durch die Kirche überhaupt gegeben hätte, und zwar mit dem seltsamen Argument, dass Benedikt XVI. ein entsprechendes Stichwort in den drei Auflagen des Lexikons für Theologie und Kirche nicht gefunden hätte.
Zweitens stellt es infrage, dass es so etwas wie einen nie gekündigten Bund aus Sicht des biblischen Denkens überhaupt nicht gibt, denn dort werden Bünde geschlossen, aber auch immer wieder gekündigt, durch Menschen nämlich, durch Völker nämlich. Das gilt insbesondere auch für Israel, aber scheinbar gilt es nach seinen Ausführungen nicht für die Kirche. Da ist der Bund endgültig.
Das sind also zwei Aufweichungen, kann man mal sagen, gegenüber den Schuldeingeständnissen der Kirchen nach dem Völkermord. Und ich denke, das sind – wie soll ich sagen – rückschrittliche, reaktionäre Positionen, die den Stand des Dialogs infrage stellen.
Main: Reaktionäre Positionen der Aufweichung – Thomas Söding, wie reagieren Sie?
Söding: Also, Herr Krochmalnik hat genau die beiden zentralen Punkte zunächst mal erfasst. Ich kann einfach sagen, wie ich diesen Text gelesen habe. Leider Gottes gibt es nach wie vor eine ganze Reihe von Positionen, die sagen: 'Lest doch das Neue Testament genau. Versucht doch nicht einfach da so eine Wischi-Waschi-Freundschaft mit Juden herzustellen. Orientiert euch doch an den großen Theologen und dann wisst ihr, dass ihr euch da was vormacht, wenn ihr eben halt unter dem Schock der Shoah zu einer Neubesinnung des Verhältnisses zum Judentum kommen wollt.'
Und ich habe den ersten Teil, diese Kritik der Substitutionsekklesiologie so gelesen, dass deutlich wird: Die Tradition, die leider Gottes für diese antijüdischen Positionen herangezogen wird, ist Gott sei Dank ein wenig differenzierter. Selbst die antijüdisch kontaminierte Tradition kennt andere Stimmen. Und deswegen ist es gut so, dass man auch auf diese Stimme der Tradition hört.
"Dieser Artikel ist ein Stück Sprachkritik"
Und das andere Thema – "ungekündigter Bund", für mich ist dieser Artikel ein Stück Sprachkritik. Die Rede vom "ungekündigten Bund" ist so nicht in der Bibel vorhanden. Aber für uns Christen ist ja das, was der Apostel Paulus im Römerbrief – Gott sei Dank – an dieser einen Stelle wenigstens ganz klar zum Ausdruck gebracht hat, wesentlich. Und danach gibt es eben halt ein Spannungsverhältnis zwischen zwei verschiedenen Polen. Das eine ist – und das unterstreicht Joseph Ratzinger auch sehr stark: "Gott bleibt treu." Und das andere ist: "Die Menschen sind untreu." Und das bezieht er auch auf die Kirche, wie der Schlusssatz dieses Artikels zeigt: "Selbst, wenn Menschen untreu bleiben, Gott bleibt treu." Das ist die einzige Hoffnung, die Menschen haben können. Aber im Blick auf das Verhältnis zu Israel braucht man sich nicht mit diesem allgemeinen Grundsatz zu begnügen, sondern Gott bereut seine Gnade nicht. Das ist der Schlusssatz. Und das zeigt, dass eben gerade diese Rede vom ungekündigten Bund noch viel tiefer theologisch begründet ist, als das auf den ersten Blick erscheinen könnte.
Main: Wäre es besser gewesen, wenn dieser "Ratzinger-Text" im Giftschrank verschwunden wäre?
Krochmalnik: Ja, wissen Sie, es ist ja so, die Frage ist nicht nur, was Joseph Ratzinger zum christlich-jüdischen Dialog sagt. Es geht auch um die Reaktionen auf diesen Text. Deshalb finde ich es gut, dass der Text veröffentlicht wurde, und dass wir jetzt die Gelegenheit haben, vielleicht diese Position, die ich für – ich würde mal sagen – ängstlich und rückschrittlich halte, abzuarbeiten und zu diskutieren.
Main: Daniel Krochmalnik, Judaist und Philosoph, und Thomas Söding, katholischer Bibelwissenschaftler, im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft", im Gespräch über einen Aufsatz des emeritierten Papstes über das Verhältnis von Juden und Christen. Jetzt - mal spiegelverkehrt - die Frage an Sie, den katholischen Denker, Thomas Söding, Hand aufs Herz, was missfällt Ihnen an diesem Text?
Söding: Ich finde den Text wichtig.
"Adressat des Textes nicht deutlich geworden"
Main: Was missfällt Ihnen?
Söding: Ja, ich will zunächst mal sagen, dass ich ihn positiv gelesen habe. Ich glaube, man muss allerdings deutlich sehen, also, welche Gattung hat dieser Text und welche Adresse hat dieser Text. Und das ist offensichtlich nicht deutlich genug rübergekommen.
Es gibt ja zwei Säulen in unserem Gespräch. Das eine ist eben halt, wenn, wie jetzt, Juden und Christen zusammen sprechen - und das andere ist immer, dass man auch sozusagen in der eigenen Community sich darüber Rechenschaft ablegen will, welche sind unsere Positionen. Zu dieser zweiten Sektion gehört der Text von Benedikt, der also reagiert auf ein Dialogdokument und weitere Dialoge inspirieren soll. Und das ist offensichtlich in dieser Funktion nicht deutlich geworden.
Das bedaure ich, aber ich kann jetzt an dem Text vielleicht die eine oder andere Formulierung nennen, aber ich finde, vom Ansatz her missfällt mir in diesem Artikel nichts.
"Ein hochgradig selbstbezogener Text"
Main: Herr Krochmalnik, was gefällt Ihnen an dieser "Ratzinger-Lektüre"?
Krochmalnik: Ja, also ich lese grundsätzlich Texte erst mal positiv und es gibt hier eine Reihe von Reflektionen. Ich wollte aber zu Thomas Söding etwas sagen. Meines Erachtens hat er recht. Das ist eigentlich kein Text an die Adresse der Juden. Es heißt zwar "Über Juden", ja, "De Iudaeis", aber es ist ein Pro-domo-Text und es ist im Grunde hauptsächlich von den Christen die Rede, ihrer Einstellung zum Alten Testament, seinen Verheißungen zum Neuen Testament.
Im Grunde ist von den Juden ganz wenig die Rede und vor allen Dingen nicht von ihrem Standpunkt aus, sondern eben immer nur vom christlichen Standpunkt aus. Es ist also eine Standortbestimmung. Es geht um Selbstbestimmung, Selbstbehauptung. Es ist auch ein hochgradig selbstbezogener Text. Der zitiert ja im Grunde nur sich selber. Also, fünf Zitate seiner eigenen Schriften kommen vor. Man kann also nicht sagen, dass es ein Beitrag zum Dialog ist. Und insofern gebe ich Thomas Söding recht. Es ist eine Standortbestimmung. Und jetzt ist eben die Frage, welchen Standort der Papst hier bestimmt. Und ich würde mich freuen, wenn wir hier etwas konkreter auf den einen oder anderen Punkt eingehen könnten.
"Ein Rückschritt in die Religionsdisputationen des Mittelalters"
Main: Wo haben Sie die größten Probleme?
Krochmalnik: Im Grunde genommen, wenn Sie mich fragen, ist die Art und Weise, wie der Dialog jetzt geführt wird, zwischen mir auch und Thomas Söding, ein Rückschritt in die Religionsdisputationen des Mittelalters. Da ging es auch die ganze Zeit darum: Wie soll man Jesaja 53 verstehen? Ist das auf Jesus gemünzt, der 600 Jahre später gelebt hat? Oder ist das auf das jüdische Volk gemünzt? Darüber hat man in den großen Religionsdisputationen von Barcelona und Tortosa und so weiter jahrelang diskutiert. Und ich finde, diese Art von Kontroverstheologie, die hätte eigentlich der Vergangenheit angehören müssen. Und meiner Meinung nach geht dieser Text einen Schritt zurück in die Zeit der Religionsdisputationen.
Söding: Was Herr Krochmalnik jetzt sagt, ist in der Tat auch für die christliche Exegese des Neuen Testaments von ganz grundlegender Bedeutung. Für das Neue Testament sind einfach die Bezüge auf die heiligen Schriften Israels ganz grundlegend, weil es überhaupt gar nicht möglich wäre, eine Sprache für Jesus zu finden oder so etwas wie den Glauben Jesu zu verstehen, wenn man sich nicht auf diejenigen Quellen beziehen würde, die jetzt für Jesus selber wesentlich sind.
Das heißt also, das Alte Testament heute vom Neuen Testament her gelesen ist so ein Resonanz-Raum, ein Möglichkeitsraum, der aber dann immer auch ganz eindeutig, da bin ich ganz bei Herrn Krochmalnik, jetzt nicht etwa eine bestimmte Lesart, zum Beispiel die christliche jetzt als die wahre gegen andere Lesarten darstellt. Das ist ja gerade das Wesentliche des Dialoges, dass einem in der Vielfalt erst mal klar wird, dass es da keine Selbstverständlichkeit in der Gottesrede gibt, sondern, dass es immer diese Positionierung gibt, dass es immer die Perspektiven gibt, über die man sich wechselseitig verständigen kann.
"Auch vom Standpunkt der anderen ausgehen"
Main: Müssen nicht auch Positionen auch wirklich geschärft werden? Oder, um es ganz einfach zu sagen: Christen können nicht auf ihren Christus verzichten und Juden können und wollen nicht glauben, dass Jesus Christus ihr Messias sei. Deswegen muss man sich ja nicht totschlagen.
Krochmalnik: Ja, aber ich glaube, das ist keine genaue Beschreibung des Problems. Uns ist ja das Christliche nicht fremd. Und es ist ja nicht so, dass wir eine ganz bestimmte messianische, eine triumphalistische, messianische Position hätten im Gegensatz zur Lehre der Kirche. Sondern es gibt bei uns auch den Messias von der traurigen Gestalt. Und der heißt Mashiach ben Yoseph, also er hat auch noch den Namen von Jesus, denn auch Jesus war ben Yoseph. Er war ein Sohn, ein Josef-Sohn. Und wir kennen das Leiden am Messias, des Messias. Das ist uns alles nicht fremd. Ich glaube, so muss Dialog laufen. Wir haben eine Fülle von messianischen Aussagen.
Benedikt XVI. spricht zwar gelegentlich von Talmud und Mischna oder Mischna und Talmud, aber er zitiert das immer en bloc. Und man muss sehen, dass es dort also eine Fülle von Aussagen gibt, die er gar nicht zur Kenntnis nimmt. Also, wenn er ein Traktat über die Juden schreiben will, nach all den Jahren judaistischer Studien und christlich-jüdischen Dialogs, dann ist es eben auch wichtig, vom Standpunkt oder von den Standpunkten der Juden auszugehen. Und das ist meines Erachtens übrigens auch die einzig mögliche Position im jüdisch-muslimisch, christlich-muslimisch, jüdisch-christlich-muslimischen Dialog. Man muss natürlich auch vom Standpunkt der anderen ausgehen und nicht nur den eigenen verabsolutieren.
Söding: Das ist ganz, ganz wichtig, was Sie sagen, Herr Krochmalnik. Und das war ja auch eine der wichtigsten Lektionen, die überhaupt die christliche Theologie und speziell auch die Bibelwissenschaften zu lernen hatte, jetzt nicht von 'dem' Judentum zu sprechen und dann vielleicht also eine christliche Projektion darauf zu entwickeln. Auf der anderen Seite beobachtet man eben halt auch, dass im Neuen Testament nicht einfach bestimmte Hoheitstitel – ich nehme jetzt mal den des Messias – sozusagen umstandslos beansprucht würden und danach würden sich gar keine weiteren Fragen mehr stellen, sondern: Wer das Neue Testament ganz genau liest, der erkennt, dass da ganz, ganz starke Dialoge in die Texte selber eingesponnen sind - und die müssen, denke ich, zum Vorschein gebracht werden. Und dann haben wir auch eine sehr starke Dynamik in unserem Gespräch, bei dem ich eben halt es sehr schätzen würde, wenn wir vor allen Dingen über Gott reden würden.
Krochmalnik: Diese Haltung, die wir Akademiker einnehmen, ja, dass wir die Vielstimmigkeit der heiligen Texte wahrnehmen, und zwar des Alten Testaments, des Neuen Testaments, des Korans auch, das muss man eben auch sagen, die wird natürlich von den Kirchenpolitikern, von den Diplomaten so nicht geteilt.
"Eine Art kirchliche Selbstvergewisserung"
Und ich sehe den Text des Ex-Papstes vor allen Dingen als eine Art kirchliche Selbstvergewisserung, eine Vereindeutigung, dort, wo eigentlich Vielstimmigkeit herrscht.
Main: Bevor wir jetzt noch mal in die Zukunft des jüdisch-christlichen Gesprächs schauen und uns dann etwas lösen von dem "Ratzinger-Text": Sind die Antisemitismusvorwürfe an die Adresse von Joseph Ratzinger angemessen oder überzogen?
Krochmalnik: Ich finde, die Antisemitismusvorwürfe waren von Anfang an überzogen. Meines Erachtens verteidigt man ihn da auch gegen einen extremen Vorwurf, um die berechtigten Vorwürfe, die man an diesem Text haben kann, nicht weiter wahrnehmen zu müssen oder nicht weiter bewerten zu müssen.
"Selbstverständlich kein Antisemit"
Selbstverständlich ist Joseph Ratzinger kein Antisemit, wenn man darunter irgendwelche Judenmörder versteht. Aber man muss auch sehen, dass die Lehre der Substitution, die er zunächst einmal infrage stellt, die er aber dann selbst vertritt, dass diese Lehre auf Dauer und über 2000 Jahre von den Kathedern und Kanzeln wiederholt dann doch zu einer Disposition geführt haben, die in den Völkermord mündet.
Der Völkermord ist hier in Deutschland von Heiden ausgegangen. Das ist ja ein Punkt, den Joseph Ratzinger sehr stark betont hat, der übrigens ja auch Zeitgenosse aller dieser Vorgänge war und ist, aber in anderen europäischen Ländern ist er zum Teil von klerikalen Regimen ausgegangen. Ganz zu schweigen vom Schweigen der Kirche. Und selbst, wenn Joseph Ratzinger von jedem Vorwurf des Antisemitismus freizusprechen ist, steht er in einer Tradition, die sich ihrer Schuld bewusst sein muss.
Söding: Ja, das ist sicherlich richtig. Das ist eine der entscheidenden Fragen, die an die christliche Theologie gerichtet werden muss. Der katholischen Kirche fällt das notorisch ganz besonders schwer, sich positiv zu Alternativen zu verhalten, aber im Verhältnis zum Judentum wäre das eben halt das Allerwichtigste. Und als Neutestamentler und als Theologe kann man da immer nur einen ganz kleinen Teil dazu beitragen.
"Gemeinsamer Fundus der monotheistischen Religionen"
Main: Ja, was können wir lernen? Jetzt haben wir diesen leicht toxischen Streit. Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Mit Blick auf die Zukunft, was für Konsequenzen hat das für ein jüdisch-christliches Gespräch, Daniel Krochmalnik?
Krochmalnik: Papst Franziskus schlägt andere Töne an. Es läuft ja gerade ein schöner Film über den Papst und dort findet sich eben auch die Aussage, dass Christen zum Beispiel vom jüdischen Schabbat lernen können. Ich finde, das ist eine Haltung, die Mut macht. Wir können voneinander lernen. Wir haben Schätze, Traditionsschätze. Wir können uns verstehen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass alle drei monotheistischen Religionen auf einen gemeinsamen Fundus ruhen. Wir haben eine gemeinsame Sprache. Es ist fast die gleiche Sprache. Hebräisch, Aramäisch und Arabisch sind so nah verwandt. Der Gott ist natürlich der gleiche.
Hier sehe ich sehr viel Zukunftspotenzial. Und ich sehe vor allen Dingen die Notwendigkeit, dass man sich dieses Potenzials auch bedient, denn die Konflikte heute werden ja religiös angeheizt. Wir haben Gegenden in Afrika und auch im Nahen Osten mit Religionskriegen. Also, insofern gibt es keine Alternative zum Trialog. Und da ist die Stimme von Papst Franziskus doch etwas ermutigender.
Söding: Ja, ich glaube, dass alle drei monotheistischen Religionen, vielleicht nicht nur sie, einen Nachweis erbringen müssen – und in erster Linie will ich da vom Christentum sprechen, weil ich ihm selbst zugehöre –, dass nämlich tatsächlich durch eine tiefere Besinnung auf den Glauben das gefördert werden kann, was wir tatsächlich mit guten Gründen Frieden zwischen den Religionen und auch zwischen den Menschen nennen.
Das ist leider Gottes eine Aufgabe, die eben halt durch diese lange Geschichte des Hasses, der wechselseitigen Abgrenzung überschattet gewesen ist. Das ist noch ein mildes Wort, was ich jetzt verwende. Dass man sozusagen aus der Herzkammer des Glaubens selbst heraus friedensfähig ist - so eine Christologie müsste von christlicher Seite her in diesen Dialog mit dem Judentum, aber auch mit dem Islam eingebracht werden.
Main: Die Konsequenzen aus der Debatte, die Joseph Ratzinger als 85-jähriger Ex-Papst ausgelöst hat, darüber sprach ich mit Daniel Krochmalnik, Professor für jüdische Religion und Philosophie in Potsdam, und mit Thomas Söding, Professor für das Neue Testament in Bochum und Mitherausgeber der Zeitschrift "Communio", in der der Aufsatz von "Papa emeritus Benedictus" erschienen ist. Ein umstrittener Aufsatz über das Verhältnis von Juden und Christen. Danke, Daniel Krochmalnik.
Krochmalnik: Danke schön.
Main: Danke, Thomas Söding.
Söding: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.