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Umstrittener Redner

Die Rede ist noch nicht gehalten, da gibt es schon Anlass zur Diskussion: Ausgerechnet der Israelkritiker Alfred Grosser ist Gastredner für die Gedenkveranstaltung zum 9. November in der Paulskirche, am Jahrestag der sogenannten Reichspogromnacht.

Von Christiane Florin |
    Der 9. November gilt dem "Nie wieder", nie wieder Antisemitismus, nie wieder Rassismus, nie wieder Rechtsextremismus. Damit das "Nie wieder" keinen Ärger macht, soll es wie immer klingen. Deshalb funktioniert in Deutschland eine normale Rede zum 9. November so: Der Redner sagt: "Wir Deutschen dürfen diese Verbrechen niemals vergessen", er beteuert, die Erinnerung verpflichte für die Zukunft, und irgendwo baut er auch noch die Wendung "dunkelstes Kapitel der deutschen Geschichte" ein. Es folgt freundlich-betroffener Applaus. Kaum ist der Erinnerungsappell zehn Minuten alt, erinnert sich niemand mehr daran. Über das Gesagte legt sich gepflegtes deutsches Dunkel.
    Nur wenn der Redner etwas falsch macht, blitzt grelles Licht auf: Zum 9. November 1988 etwa fragte der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger, ob sich die Juden nicht in den 1930er-Jahren eine Rolle angemaßt hätten, die ihnen nicht zukam. Er habe nur aufzeigen wollen, was die Zeitgenossen damals dachten, verteidigte er sich hilflos. Die Anführungszeichen waren nicht hörbar, Jenninger als Bundestagspräsident nicht mehr haltbar.

    Vor zwei Jahren wich Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, auf andere Weise vom Gewohnten ab. Sie erzählte von ihrer Novembernacht des Jahres 1938 und weinte am Rednerpult. Das Publikum staunte über soviel echte Emotion.

    Was wird Alfred Grosser in Frankfurt sagen, wenn er überhaupt etwas sagen darf? Der Zentralrat der Juden hat große Bedenken. Denn auf den Karteikarten, nach denen Talkshows wie Gedenkveranstaltungsorganisatoren das öffentliche Wort erteilen, steht bei Grosser nicht mehr nur "Nestor der deutsch-französischen Aussöhnung". Er wird seit einigen Jahren auch unter dem Stichwort "Israelkritiker" einsortiert. Wir erinnern uns:

    Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt geboren, er hat jüdische Wurzeln, die Familie emigrierte aus Nazi-Deutschland nach Frankreich. Nach deutscher Debattenetikette gehört er eigentlich zu denen, die Israel kritisieren dürfen, ohne sich des Antisemitismus verdächtig zu machen.

    Wer den Intellektuellen kennt, weiß, dass er routinierte Einordnungen durchbricht. In seinen Vorlesungen am Pariser Institut d'Études Politiques zog er lächelnd abseitige Zeitungsartikel aus der Tasche und erklärte damit die Welt. Grosser hat als preisgekrönter Denker viele Festreden angehört, er selbst ist dennoch oder gerade deswegen kein berechenbarer Rhetoriker geworden. Wer ihn einlädt, kann nie auf Nummer sicher gehen.

    In seinem Buch "Verbrechen und Erinnerung" schreibt Alfred Grosser:

    "Die Frage von Schuld zu erörtern, setzt voraus, dass man die Suche nach der Wahrheit als einen grundlegenden Wert betrachtet."

    Apropos Buch: Bundeskanzlerin Angela Merkel blamierte sich kürzlich, als sie zuerst befand, Thilo Sarrazins Buch sei nicht hilfreich und dann zugeben musste, es nicht gelesen zu haben. Bevor eine Rede als unhaltbar verworfen wird, sollte sie gehalten werden. Erst recht in der Paulskirche.