"Gott ist bei uns", singt eine kleine Gruppe von Frauen, Männern und Jugendlichen im Zentrum von Guatemala-Stadt. Das anschließende Vaterunser wird vom Verkehrslärm fast verschluckt.
Eva Gutiérrez, eine kleine Frau mit langen, schwarzen Haaren, ist die Organisatorin von "40 días por la vida". Hier, an der Straße gleich neben dem guatemaltekischen Parlament, hat sie sich mit ihren Mitstreitern zum "Gebetsmarathon für das Leben" getroffen. 40 Tage lang, jeden Tag von 10 Uhr morgens bis 6 Uhr abends.
"Wir beten für Guatemala, damit es keine Abtreibungen mehr gibt, weder legal noch illegal, und damit nicht noch mehr Kinder durch Schwangerschaftsabbrüche sterben – hier oder in anderen Ländern."
Konservative verlangen strengere Regeln und höhere Strafen
Mit ihren Forderungen rennt die religiöse Gruppe im guatemaltekischen Parlament offene Türen ein. Denn schon im Frühjahr 2017 hat der Abgeordnete Aníbal Rojas von der konservativen Partei VIVA eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, die unter dem Titel "Für das Leben und die Familie" einen härteren Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen fordert. Nun, nach dem langen Weg durch die parlamentarischen Institutionen, steht die Initiative kurz vor der Abstimmung.
"Wir wollen die Strafen drastisch verschärfen – sowohl für die Frau als auch für den Arzt, der den Eingriff vornimmt – und auch für Organisationen, die für Abtreibungen werben."
Für Abtreibung soll es zehn Jahre Gefängnis geben
Laut der Gesetzesinitiative würde das Strafmaß für Abtreibungen von derzeit maximal fünf auf bis zu zehn Jahre Gefängnis verdoppelt. Doch dem Abgeordneten Rojas geht es um mehr: Denn in seinem Gesetzesentwurf wird auch das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe bekräftigt, Sexualerziehung soll aus den Schulen komplett verbannt werden.
"Wir machen das, weil es Strömungen im Ausland gibt, vor allem in Europa, in den Niederlanden, den skandinavischen Ländern, die hier Organisationen unterstützen, die für Abtreibung und die Gender-Ideologie werben. Die also wollen, dass unseren Kindern beigebracht wird, dass Homosexualität und diese ganze Gender-Ideologie etwas völlig Normales sind, die sagen, wenn du ein Junge bist und dich als Mädchen fühlst, dann ist das okay. Und mit Gesetzen wie diesem wollen wir unsere Gesellschaft vor genau solchen Einflüssen schützen."
Organisationen und Gruppen, die für Frauenrechte und sexuelle Vielfalt kämpfen, kritisieren den Vorstoß. Sandra Morán, die erste offen lesbische Abgeordnete im guatemaltekischen Parlament, hat nun selbst eine Gesetzesinitiative eingebracht, die zumindest jungen Mädchen unter 14 Jahren eine Abtreibung ermöglichen soll, wenn sie vergewaltigt wurden.
"Bei uns gibt es tausende junger Mädchen, die schwanger sind, weil sie sexuell missbraucht wurden. Allein von Januar bis Juli diesen Jahres waren es 2.102 Mädchen, wir haben tausende minderjähriger Mütter, und der guatemaltekische Staat ist nicht in der Lage, sie ausreichend zu unterstützen."
Eintreten für traditionelle Werte aus Kalkül?
Doch Sandra Moráns Initiative hat kaum Aussicht auf Erfolg, seit ihre politischen Gegner den Vorschlag als "Abtreibungsgesetz" gebrandmarkt haben. Sie glaubt nicht, dass es ihnen wirklich nur um Familienwerte und Schwangerschaftsabbrüche geht. Denn viele Abgeordnete, die sich nun als Retter der traditionellen Ehe gerierten, stehen wegen Korruptionsermittlungen unter Druck – und brauchten gerade jetzt dringend neue Verbündete.
"Gegenüber Korruption in der Politik ist die Bevölkerung sehr kritisch und da kann es gut sein, dass sich die Politiker mehr Legitimität verschaffen wollen, indem sie für traditionelle Werte eintreten und für das Leben, um so vom Thema Korruption etwas abzulenken."
Diese Rechnung könnte aufgehen: Anfang September konnten Abtreibungsgegner mehr als 100.000 Menschen mobilisieren, die in Guatemala-Stadt unter dem Motto "Für das Leben und für die Familie" auf die Straße gingen. Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern – jüngst zum Beispiel im brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf – organisieren sich auch in Zentralamerika konservative und rechte Gruppen, um gegen die kleinen Erfolge anzukämpfen, die Frauenorganisationen ebenso wie Lesben, Schwule und Transsexuelle bei der Durchsetzung ihrer Rechte in den vergangenen Jahren gemacht haben.
Zustimmung des Parlaments gilt als sicher
Luis Barrueto von der Nichtregierungsorganisation Visibles, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten in Guatemala einsetzt, ist besorgt über diese Entwicklung.
"Wir vergessen oft, dass wir trotz unserer Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten zusammen leben und uns gegenseitig respektieren müssen, das ist schließlich ein wichtiger Teil der Demokratie. Und genau dieses Zusammenleben ist durch diese konservativen Organisationen und Gruppen in Gefahr."
Der konservative Rollback dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Im Moment verhindert nur die Arbeit an dringenden Gesetzen für die Wahlen im kommenden Jahr, dass das "Gesetz für das Leben und für die Familie" zur Abstimmung kommt. Doch spätestens Anfang 2019 werden die Abgeordneten wohl darüber entscheiden. Dass sich eine Mehrheit dafür aussprechen wird, gilt als sicher.