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Umweltschutz vs. Küstenschutz an der Ostsee
Wenn die Steilküste abrutscht

Die Ostseeküste bei Lübeck rückt Stück für Stück landeinwärts, jedes Jahr um durchschnittlich 70 Zentimeter. In den letzten Monaten rutschte so viel Steilküste in die Ostsee wie seit Jahren nicht. Doch hier geht Naturschutz vor Steilküstenschutz - und das geht den Anliegern zu weit.

Balthasar Hümbs | 19.07.2018
    Die begrünten Kreidefelsen der Wissower Klinken auf Rügen im Jahr 2005.
    Traumhaft schön, aber immer durch Abbrüche gefährdet: Steilküste an der Ostsee (Imago / Reinhard Balzerek)
    "Wir fahren jetzt den Wanderweg des Brodtener Ufers längs."
    Auf Kontrollfahrt durchs Naturidyll mit Hans-Georg Erdmann vom Bereich Stadtgrün und Verkehr der Hansestadt Lübeck.
    "Das Brodtener Ufer ist ein wunderschöner Wanderweg. Es ist Natur pur hier, freie Sicht aufs Wasser, da können wir bis nach Neustadt rüber gucken."
    Fast jeden Morgen macht er diese Tour entlang der Abbruchkante - aus Sicherheitsgründen.
    "Dort muss jetzt in Augenschein genommen werden, wieweit sich was verändert, ob dort von Abbruchstellen irgendwas sichtbar ist, dass dort was passieren könnte."
    Denn ständig könnte ein Stück Steilküste abbrechen und den Wanderweg in die Tiefe reißen.
    "Der Abbruch von Steilufern ist ja ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Einwirkungen aus zwei Richtungen."
    Erklärt Birgit Matelski vom Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein.
    "Bei entsprechenden Wasserständen ist es einmal die Seegangsenergie, die zu Ausspülungen führt, im unteren Teil des Steilufers und dann ist es ja auch das Niederschlagswasser."
    Ständig könnte ein Stück Steilküste abbrechen
    Das Brodtener Ufer verschiebt sich Stück für Stück landeinwärts. Jedes Jahr um etwa 70 Zentimeter - im Durchschnitt. Denn in den letzten Monaten rutschte so viel Steilküste in die Ostsee wie seit Jahren nicht. Selbst der Wanderweg liegt mittlerweile zum Teil auf dem Meeresgrund. Den Naturgewalten sind keine Grenzen gesetzt, denn das Brodtener Ufer ist Naturschutzgebiet. Küstenschutz gibt es nicht.
    Was seltene Pflanzen und Tiere freut, ist für die Anlieger der Küste ein Problem.
    "So, und jetzt kommen wir zum ‚Haus Seeblick‘ "
    Erklärt Hans-Georg Erdmann auf seiner Kontrollfahrt. Er zeigt auf ein altes Backsteinhaus mit weißen Sprossenfenstern und rotem Ziegeldach. Die sozialistische Jugendorganisation "Die Falken" betreibt hier ein Ferienheim für Kinder und Jugendliche. Doch wenn es so weitergeht nicht mehr lange; Renate Paulien-Wittmaak, Vorsitzende der Lübecker Falken.
    "Durch die Abbrüche ist das Haus im Bestand gefährdet. Wir können vielleicht nochmal einen größeren Abbruch haben und das Haus kann noch stehen, danach müssen wir das Haus tatsächlich abreißen."
    Denn nur noch acht Meter sind es von der Hausecke bis zur Abbruchkante. Das Problem kennt auch Landwirt Matthias Kröger. Viele seine Felder liegen direkt an der Steilküste – und sie werden immer kleiner. Um knapp 1.500 Quadratmeter schrumpft die Ackerfläche pro Jahr. Seine Forderung: Küstenschutz für das Brodtener Ufer.
    "Wenn dort ein paar mehr Findlinge liegen würden, vielleicht ein paar Buhnen sein würden, dann könnte man das Ganze verzögern. Also theoretisch wäre es möglich hier kompletten Küstenschutz herzustellen."
    Schutz an der einen Stelle schafft Probleme an anderer
    Doch der Schutz der Natur ist für das Land wichtiger. Die Abbrüche an der Küste sind ausdrücklich gewollt, so steht es im Managementplan für das Naturschutzgebiet Brodtener Ufer. Aber auch aus anderen Gründen will man am liebsten alles so lassen, wie es ist. Birgit Matelski vom Landesbetrieb Küstenschutz:
    "Würden wir das Brodtener Ufer schützen, würden wir uns Probleme einhandeln in den Bereichen nördlich und südlich des Brodtener Ufers."
    Denn die Abbrüche an der Steilküste sorgen für frischen Sand in den angrenzenden, dicht besiedelten Badeorten. Pech für die Anlieger am Brodtener Ufer. Aber Landwirt Mathias Kröger will das nicht akzeptieren.
    "Wenn andere davon profitieren, dass hier Sediment abgespült wird und dort was geschützt wird, dann muss es auch irgendwie vergütet werden, sonst passt das irgendwie nicht zusammen."
    Aber auch eine Entschädigung wird es nicht geben. So bleibt wohl alles beim Alten: Die Küste bricht ab, die Anlieger verlieren Land und Hans-Georg Erdmann macht seine Kontrollfahrt, fast jeden Morgen am Brodtener Ufer in Lübeck.