Benedikt Schulz: Vor 15 Jahren haben sich die Vereinten Nationen Hausaufgaben gegeben, und zwar eine ganze Menge. Und um die Länder noch zu motivieren, hat man den Hausaufgaben dann auch noch einen ziemlich hochtrabenden Titel verpasst: Millenniumsziele. Acht Ziele für eine besser entwickelte Welt. Eines davon dreht sich um die Bildung. Das Ziel: Sicherstellen, dass Kinder in der ganzen Welt eine Grundschulbildung vollständig abschließen können. 15 Jahre hatten die Staaten Zeit und heute Nacht haben sich die UN darauf geeinigt, wie es jetzt weitergehen soll. Den Millenniumszielen sollen sogenannte Nachhaltigkeitsziele folgen, die den erreichten Fortschritt sichern sollen, wiederum 15 Jahre Zeit. Fragt sich allerdings, ob der Fortschritt wirklich so groß ist. Denn es gibt ihn zwar, aber dass das Ziel erreicht wurde, kann man nicht sagen. Mehr als 50 Millionen Kinder weltweit gehen nicht zur Grundschule, mehr als ein Viertel der Grundschulanfänger in den Entwicklungsregionen wird die Schule wahrscheinlich abbrechen. Und rund 126 Millionen Jugendliche sind Analphabeten.
- Am Telefon ist jetzt Walter Hirche, ehemaliger Präsident der deutschen UNESCO-Kommission und dort inzwischen Vorsitzender des Bildungsausschusses. Ich grüße Sie!
Walter Hirche: Einen schönen guten Tag!
Schulz: Den erreichten Fortschritt sichern, dürfen wir angesichts dieser Zahlen von Fortschritt überhaupt sprechen?
Hirche: Doch, ein Stück Fortschritt ist es schon, wenn in dieser Zeit 80 Millionen Kinder weltweit zusätzlich zur Schule gegangen sind und wenn sich auch die Analphabetenrate verringert hat, trotz wachsender Weltbevölkerung. Aber wir sind noch weit von den Zielen entfernt, die sich die Weltgemeinschaft einmal gesetzt hat und wieder setzen wird.
Schulz: Dann die anschließende Frage: Warum ist so wenig erreicht worden von diesen Zielen?
Hirche: Weltweit fehlen vier Millionen Lehrer
Hirche: Zunächst einmal hat man auf quantitative Ziele geguckt, das heißt, wie viele Schüler gehen überhaupt zur Grundschule. Und man hat weniger darauf geguckt, wie viele verbleiben dort und was wird dort unterrichtet. Wir sind jetzt in einer Phase, dass Qualitätsargumente die von Quantität überlagern. Und dass wir uns darauf konzentrieren auch, dass eben mehr Lehrer, und zwar ausgebildete Lehrer, weltweit zur Verfügung stehen. Es ist da eine Zahl zu nennen, dass uns weltweit vier Millionen Lehrer fehlen, um die Ziele zu erreichen, die die UN sich stecken wollen.
Schulz: Glauben Sie, dass jetzt durch diese neuen Nachhaltigkeitsziele, also Sustainable Development Goals heißt es, neue Impulse gesetzt werden? Oder ist das einfach nur eine Fristverlängerung für das, was man bislang noch nicht geschafft hat?
Hirche: Nein, es ist eine qualitative Veränderung insofern, als zum ersten Mal wirklich Entwicklungsziele mit Bildungszielen verknüpft werden. Das hat bisher sehr nebeneinander gestanden. Also, die Entwicklung von Armut zum Beispiel oder die Bekämpfung des Wassermangels auf der einen Seite, und die Bildungsanstrengungen waren ein Stückchen davon abgekoppelt. Was jetzt neu ist, ist, dass begriffen worden ist in der Weltgemeinschaft – und das soll ja abgesegnet werden im September durch die UN-Vollversammlung –, dass ohne Bildung die Entwicklung nicht vorangehen kann. Die Entwicklungspolitik hat sich in der Vergangenheit zum Beispiel auf Projekte konzentriert, also Infrastruktur herstellen, Krankenhäuser bauen und Ähnliches und auch Schulen bauen. Aber dass es um Prozesse auch geht, dass man Entwicklung nur erreichen kann letzten Endes, wenn in den Ländern selber das Bewusstsein vorhanden ist, dass man alle mitnehmen muss, das spricht das Thema Mädchenbildung zum Beispiel an, da wird auch neu das Thema Inklusion miteingebracht in die weltweite Debatte. Es sind also inhaltliche Veränderungen, die deutlich machen, dass die Weltgemeinschaft weiß: So, wie wir das bisher angefasst haben, kann es nicht mehr weitergehen.
Schulz: Sie haben jetzt das Thema Inklusion oder inklusive Bildungschancen angesprochen, das ist tatsächlich neu. Das stand in den Millenniumszielen ja so noch nicht drin. Was erwarten Sie sich davon?
Hirche: Bildung als Beitrag zu einer demokratischen Gesellschaft
Hirche: Ich erwarte mir davon, dass deutlich wird, dass Bildung einen Beitrag leisten muss letzten Endes zu einer demokratischen Gesellschaft. Das heißt, dass alle Gruppen in der Gesellschaft mitgenommen werden, dass sie speziell angesprochen werden. Inklusion bedeutet nicht, dass alle das Gleiche machen müssen, sondern dass man individuell dann alle einbezieht. Und dieser Gedanke des Speziell-Ansprechens und trotzdem alle im Blick haben, das ist in diesem Zusammenhang neu. Das ist übrigens auch eine Herausforderung ja im deutschen Bildungswesen. Und das ist vielleicht ein zweiter Punkt, der in diesen ganzen Diskussionen der nächsten Jahre neu ist: Diese Ziele, die jetzt gesteckt werden für Nachhaltigkeit, die betreffen alle Staaten der Erde, während die Millenniumsziele ja nur gedacht waren für die sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer. Aber wir müssen zum Beispiel feststellen, wenn wir das Thema Lernen für alle ansprechen, also Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, dass wir auch in Deutschland zehn Prozent der Bevölkerung haben, die sogenannte funktionale Analphabeten sind, die zwar das eine oder andere lesen können, aber nicht verstehen, was sie dort lesen. Insofern ist der Kampf für mehr Schulbildung und fortwährende auch Erwachsenenbildung etwas, was die Welt vereint.
Schulz: Die Millenniumsziele – das haben wir jetzt schon gesagt – sind in der Form jetzt nicht erreicht worden, jetzt haben wir neue Ziele. Haben Sie denn die Hoffnung, dass wir uns in 15 Jahren noch mal sprechen und uns gemeinsam darüber freuen können, dass es geklappt hat?
Hirche: Ob in 15 Jahren alles erreicht ist, das kann man heute nicht sagen. Aber eins ist klar: Die Welt ist in einem neuen Bewusstseinsstadium, würde ich einmal sagen, dass man so die Dinge stärker zusammen denken muss, wie eben Bildung und Entwicklung, Bildung und Nachhaltigkeit in dem Zusammenhang oder auch Bildung und demokratische Gesellschaft. Das ist neu, das bringt allerdings auch Herausforderungen an die Bildungspolitik selber. Es müssen ganz andere Materialien bereitgestellt werden. Es kann profitiert werden davon, dass wir jetzt mit digitalen Bildungsangeboten auch Gruppen erreichen, die weitab von den Zentren sind. Und ich finde es durchaus interessant, dass jetzt davon die Rede ist, dass internationale Konzerne auch das Thema Bildung aufnehmen und Bildungsangebote. Das ist etwas, was es vorher so nicht gegeben hat. Vielleicht kommen wir damit weg auch von der schlichten, kurzfristigen Ökonomisierung von Bildung hin zu Bildungsprozessen, dass Menschen eben aufgrund neuer Voraussetzungen ihre eigene Umwelt gestalten können und wir damit auch ein bisschen zum Beispiel Migrationsströme in der Welt abbremsen können.
Schulz: Walter Hirche, Vorsitzender im Ausschuss für Bildung bei der deutschen UNESCO-Kommission. Ihnen ganz herzlichen Dank und noch einen schönen Tag!
Hirche: Herr Schulz.
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