Archiv

"Un-sichtbares Halle"
Ein Audio-Reiseführer der religiösen Vielfalt

Religion spielt scheinbar in vielen Städten im Osten Deutschlands kaum eine Rolle. Doch der Schein trügt. Zum Beispiel in Halle: Dort gibt es buddhistische Tempel oder ein Mormonen-Zentrum. Zu diesen Orten führt ein Audio-Guide, den Religionswissenschaftler aus Leipzig entwickelt haben.

Von Astrid Pietrus |
    Der Hallenser Dom wurde als Klosterkirche gebaut. Seit Ende des 17. Jahrhunderts ist hier die Evangelisch-Reformierte Gemeinde ansässig, die auf die Schweizer Reformation zurückgeht.
    Der Hallenser Dom wurde als Klosterkirche gebaut. Seit Ende des 17. Jahrhunderts ist hier die Evangelisch-Reformierte Gemeinde ansässig, die auf die Schweizer Reformation zurückgeht. (Astrid Pietrus/Deutschlandradio)
    Ein Jahr lang haben Religionswissenschaftler der Universität Leipzig in einem Seminar die verschiedenen Religionen in der Nachbarstadt Halle untersucht. Das Ergebnis haben sie zu einem religiösen Audio-Reiseführer zusammengestellt - eine Reise durch sieben Glaubensgemeinschaften in zweieinhalb Stunden.
    Dabei agieren die Leipziger Religionswissenschaftler in einem mehrheitlich religionsfreien Umfeld. In Sachsen sind 75 Prozent der Bevölkerung ohne religiöse Bindung, in Sachsen-Anhalt, zu dem Halle gehört, sogar über 80 Prozent. Thomas Krutak ist einer der Leiter des Projekts:
    "In einem gesellschaftlichen Umfeld, wo Religion relativ wenig sichtbar ist, ist es gerade wichtig, Wissen zu vermitteln, weil es doch viele Vorurteile gibt. Aber auch zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften - oder auch von Religionsgemeinschaften zu Atheisten und umgekehrt - gibt es verschiedene Vorurteile, die man durch so etwas ausräumen kann."
    "Man ist total überrascht"
    Um möglichst viele zu erreichen, haben sie bewusst ein niedrigschwelliges Angebot gewählt, das kostenlos und leicht zugänglich ist. Im Internet kann man den Reisführer "un-sichtbares Halle" herunterladen. Ein Stadtplan mit eingezeichneter Route und 17 Audioclips, die man aufs Handy lädt - mit Hintergrundinformationen zu den sieben Orten und Glaubensgemeinschaften. Tom Haferkorn ist Hallenser. Er hat den Audio-Reiseführer getestet und mit ihm seine Stadt neu erkundet.
    "Wenn man mit Religion so wie ich wenig zu tun hat, ist man total überrascht, wie viele Religionen dann doch vorhanden sind, von denen man nichts mitkriegt, obwohl man die Orte ständig betritt, ohne zu wissen, dass hinter der Hausfassade vielleicht doch etwas schlummert, wo sich Leute treffen und ihren Glauben ausleben."
    In einem Pavillon im Innenhof des katholischen Krankenhauses in Halle haben Ordensschwestern einen muslimischen Gebetsraum eingerichtet
    In einem Pavillon im Innenhof des katholischen Krankenhauses in Halle haben Ordensschwestern einen muslimischen Gebetsraum eingerichtet (Astrid Pietrus/Deutschlandradio)
    Nicht alle religiösen Schauplätze besucht man persönlich, manche sind zu weit entfernt oder nur nach Voranmeldung zu besichtigen. So ist die Reise zum Wolkentor-Zen-Tempel im Norden der Stadt nur eine akustische. In eine kleine, ehemalige Textilmanufaktur mit einem sauber geharkten Kiesgarten. Dirk Künne hat sie vor 15 Jahren gekauft. In dem Audioclip erklärt er das 30 qm große Herzstück des Tempels.
    "Dieser Raum, so wie man das hier sieht, mit den Podesten, auch mit der Trommel und den Figuren, ist nur für die stille Meditation ausgelegt."
    Die Geschichte des Buddhismus in Halle und auch der Nachbarstadt Leipzig reicht jedoch viel weiter zurück, nämlich zum Beginn des 20.Jahrhunderts. In weiteren Audioclips erfährt man, dass die erste buddhistische Gemeinde in Europa 1903 in Leipzig gegründet wurde. Dort sollte der Buddhismus in die europäische Kultur eingebettet werden. Der Hallenser Arzt Wolfgang Bohn hingegen wollte eine unverfälschte Form des Buddhismus im Westen etablieren. Deshalb gründete er 1912 eine eigene Gemeinde in Halle und baute dort das erste buddhistische Haus Deutschlands.
    Vor über tausend Jahren wurden erstmals Juden urkundlich in Halle erwähnt. Ein Tor am Jerusalemer Platz erinnert an die Synagoge, die dort einst stand und in der Pogromnacht zerstört wurde. Seitdem nutzt die jüdische Gemeinde in Halle eine Friedhofskapelle, die in den 50er-Jahren zur Synagoge umgebaut wurde. Auch jüdische Friedhöfe werden in den Audioclips erklärt:
    "Ist die Inschrift in deutscher Sprache? Dann ist die Grabstätte nicht älter als 100 Jahre. Denn bis ins 19. Jahrhundert wurden die Grabsteine nur in Hebräisch beschriftet."
    Die nächste Station auf der Tour ist das katholische Krankenhaus. Allerdings ist hier nicht die Klosterkirche der Ordensschwestern das Ziel, sondern ein kleiner Pavillon im Krankenhaushof. Katja Wengenmayr, eine der beiden Leiterinnen des Seminars "un-sichtbares Halle":
    "Was ich sehr spannend fand, war die Initiative vom Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara, die auf Initiative der Schwestern dort einen Gebetsraum eingerichtet haben für die Muslime bzw. der auch offen sein soll für andere Religionsangehörige, die sich gerne zurückziehen möchten und beten möchten."
    Information ohne Verkündigung
    Nicht weit entfernt: die St. Georgenkirche. Sie liegt direkt am mehrspurigen Innenstadtring. Eigentlich verläuft man sich nicht dorthin. Die Kirche ist seit 16 Jahren das Zuhause der charismatischen Evangeliumsgemeinde.
    Vor ihrer Renovierung stand die Kirche viele Jahrzehnte leer, im Zweiten Weltkrieg wurde sie schwer beschädigt und in den 60er-Jahren baupolizeilich gesperrt. Kurz vor der Wende sollte sie sogar gesprengt werden, dabei begann dort ein wichtiger Reformator seine Karriere.
    "Um das Jahr 1522 war Thomas Müntzer Kaplan an St. Georgen. Mit Müntzer kam die Gemeinde zunehmend mit reformatorischem Gedankengut in Berührung."
    Auf der anderen Seite des Innenstadtrings steht ein schmuckloses Bürogebäude, auf den ersten Blick kein religiöser Ort. Tom Haferkorn wusste schon vor der religiösen Stadttour, dass die Mormonen im Erdgeschoss ihren Sitz haben. Neu war ihm, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage eine der am schnellsten wachsenden Kirchen der Welt ist. Einer der Missionare erklärt in dem Stadtführer warum.
    "Ich denke, dass vieles durch unsere Missionierung kommt. Viele Kirchen machen es einfach nicht. Wir haben ungefähr 80.000 Missionare auf der ganzen Welt", heißt es im Audioguide.
    "Ich finde Ansprechen an sich nicht schlimm, ich finde das schön, wenn Leute so eine Offensive haben und wurde aber auch schon mal Mormonen selber angesprochen in der Stadt in Halle", sagt Tom Haferkorn.
    Kapelle der Mormonen in Halle
    Kapelle der Mormonen in Halle (Astrid Pietrus/Deutschlandradio)
    Die letzte Station ist der Hallenser Dom, der eigentlich gar kein Dom ist. Viele Konfessionen waren im Laufe der Jahrhunderte hier zuhause, heute die Evangelisch-Reformierte Gemeinde. Ende des 17. Jahrhunderts hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm ihr den Dom zur ewigen Nutzung überlassen. Die Gemeinde unterscheidet sich von den Lutheranern.
    "Da ist einmal die Herkunft. Die Reformierten leiten sich von der Schweizer Reformation her, während die anderen Gemeinden hier sich von der Reformation in Mitteldeutschland herleiten", heißt es im Audioguide.
    Der religiöse Stadtführer bedeutete für die Leipziger Religionswissenschaftler nicht nur interessante Feldarbeit, sondern ist zugleich auch ein wenig Werbung in eigener Sache. Oftmals steht die Religionswissenschaft im Schatten der Theologie. Thomas Krutak:
    "Ich glaube durch den Audioguide kann man sehen, dass Religionswissenschaft Information über Religion bieten kann, ohne eine Positionierung zu verlangen. Und es ist wichtig, dass es eine Disziplin gibt, die relativ unabhängig von tagespolitischen Interessen historisch, soziologisch mit verschiedenen Methoden Aspekte von Religion und Religionsgemeinschaften untersucht und Vergleiche anstellt."
    So wie die Religionswissenschaft weltanschaulich neutral ist, macht auch dieser religiöse Stadtführer weder Werbung für einzelne Religionsgemeinschaften, noch bewertet er sie. Die einzige Mission, die die Leipziger Religionswissenschaftler haben, ist Wissen über Religionen zu vermitteln. Und vielleicht die Lust zu erwecken, sich selbst auf Entdeckungsreise zu machen und die religiöse Vielfalt in der eigenen Stadt zu finden.