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UN-Sonderberichterstatter zum Fall Assange
"Man hat mir die Zusammenarbeit systematisch verweigert"

Nils Melzer beschreibt in seinem Buch über den Fall Assange, wie der Wikileaks-Gründer staatlicher Willkür und psychischer Folter ausgesetzt sei. Er wolle damit die breite Öffentlichkeit alarmieren, weil er mit diplomatischen Mitteln nicht weitergekommen sei, sagte der UN-Sonderberichterstatter im Dlf.

Nils Melzer im Gespräch mit Michael Borgers |
Ein maskierter Demonstrant hat sich als Gefängnisinsasse verkleidet und hält am 1. Oktober 2020 in London ein Schild mit dem Konterfei von julian Assange und der Aufschrift "Free Assange" in der Hand.
„Free Julian Assange“ fordern Demonstranten in London (picture alliance / AP Photo / Kirsty Wigglesworth)
Seit ziemlich genau zwei Jahren sitzt der Wikileaks-Gründer Julian Assange in Großbritannien in Haft, nachdem er zuvor über Jahre Asyl in der Botschaft Equadors in London gefunden hatte. Seitdem setzt sich der Völkerrechtsprofessor und UN-Sonderberichterstatter über Folter [*], Nils Melzer, mit Assanges Schicksal auseinander. Über diese Zeit hat Melzer nun ein Buch geschrieben: "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung".
Julian Assange verlässt den Westminster Magistrates Court, wo er zu einer Anhörung zum Auslieferungsgesuch der USA für den Wikileaks-Gründer erschien (13.1.20)
Nils Melzers Buch über Assange - Anklageschrift gegen den Westen
Der Fall von Julian Assange ist für Nils Melzer die Geschichte einer Verfolgung. In seinem Buch beschreibt er, wie der Wikileaks-Gründer seit Jahren staatliche Willkür erlebt. Und wie er selbst bei der Aufarbeitung des Falls zum Dissidenten wurde.
In seinem Buch beschreibt Melzer, wie er bei der Aufarbeitung des Falls selbst zu einer Art Dissident und Whistleblower geworden sei, dadurch "dass ich mich aus dem inneren System heraus entschieden habe, die breite Öffentlichkeit zu alarmieren, weil ich im System selbst nicht weiterkomme."

"Assange psychischer Folter ausgesetzt"

Der Fall Assange sei von Beginn seiner Untersuchungen an als Präzedenzfall politisch so wichtig gewesen und die Berichterstattung "viel zu polarisiert", dass er sich persönlich vor Ort ein Bild gemacht habe. Vor zwei Jahren habe er Assange besucht und seitdem indirekten Kontakt gehalten – über Ärzte und Assanges Umfeld.
"Ich weiß, dass es ihm nicht gut geht, dass er natürlich sehr unter den Haftbedingungen leidet ", sagte Melzer im Dlf.
Nils Melzer 
Wie bei einer Detektivarbeit gehe es um die Aufklärung eines Verbrechens, beschreibt UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer seine Arbeit im Buch „Der Fall Assange – Geschichte einer Verfolgung“ (APF/ Adem Altan )
Während seiner Arbeit als UN-Sonderberichterstatter für Folter habe er viele Male versucht, die Staaten darauf aufmerksam zu machen. "Ich habe Schlussfolgerungen vorgelegt, dass ich nach der medizinischen und auch der rechtlichen Auswertung dessen, was wir gefunden haben, der Meinung sei, dass Julian Assange psychischer Folter ausgesetzt worden sei", sagt Melzer.

"Das ist ja kein Einzelfall"

Über die diplomatischen Kanäle sei ihm die Zusammenarbeit jedoch systematisch verweigert worden. "Das hat mich ja auch so schockiert, weil ich es hier nicht mit irgendwelchen Diktaturen zu tun habe, sondern mit westlichen Rechtsstaaten." Dabei sei er von den Staaten selbst ernannt worden, um genau solche Fälle zu untersuchen.
Er wolle aber nicht nur auf den Fall Assange alleine aufmerksam machen, sondern auf die Dynamik, die durch diesen Fall gezeigt werde. "Das ist ja kein Einzelfall", so Melzer.
In den deutschsprachigen Medien sei das Interesse am Fall Assange und den Einschätzungen des UN-Sonderberichterstatters sehr groß. In den angelsächsischen Medien aber sei es "beinahe unmöglich, ein Interview zu bekommen, wo man jetzt objektiv seine Bedenken schildern kann", sagte Melzer.
Ein Unterstützer von Wikileaks-Gründer Julian Assange steht am 14.09.2020 mit einem "Free Juaian Assange"-Plakat vor dem the Central Criminal Court, the Old Bailey, in London
Auslieferung von Wikileaks-Gründer abgelehnt - "Großartig für Assange, aber nicht für die Pressefreiheit"
Ein Londoner Gericht hat im Januar 2021 die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA abgelehnt. Die Pressefreiheit werde damit aber nicht gestärkt, so Investigativjournalist Holger Stark.
Das Interview zum Nachlesen in voller Länge. Gesendet wurde eine gekürzte Version.
Michael Borgers: Wie geht es Assange? Und wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?
Nils Melzer: Persönlich besucht habe ich ihn zum letzten Mal vor fast zwei Jahren, das war im Mai 2019. Aber ich habe natürlich schon Kontakt, auch mit Ärzten, die ihn gesehen haben, und sonst Kontakte aus seinem Umfeld, wo ich doch indirekt immer wieder Neuigkeiten bekomme.
Ich weiß, dass es ihm nicht gut geht, dass er natürlich sehr darunter leidet unter den Haftbedingungen. Er ist in Haftbedingungen, die ihn sehr stark isolieren, viel mehr, als das notwendig wäre für das Auslieferungsverfahren.
Wikileaks Gründer Julian Assange in London am 1. Mai 2019.
Julian Assange im Mai 2019 - vom Wikileaks-Gründer gibt es nur wenige Aufnahmen (Getty / Jack Taylor)
Borgers: Und wie geht es Ihnen? Welche Reaktionen auch seitens der Staaten, die Sie in Ihrem Buch kritisieren, erleben Sie? In Ihrem Buch beschreiben Sie ja, dass Sie nun gewissermaßen selbst zum Dissidenten geworden sind.
Melzer: Ja, ich lasse mich überraschen, ob jetzt auf das Buch eine Reaktion kommt. Es ist aber auch nicht so, dass es da keine Präzedenzfälle geben würde. Es haben auch schon andere Sonderberichterstatter, wenn es richtig unmöglich wurde, ihre Arbeit zu verrichten, auch schon Bücher geschrieben. Das kann notwendig werden.
Während meiner Arbeit über die diplomatischen Kanäle, die mir zur Verfügung stehen, hat man mir leider die Zusammenarbeit in diesem Fall systematisch verweigert. Und das hat mich ja auch so schockiert, weil ich es hier nicht mit irgendwelchen Diktaturen zu tun habe, sondern mit westlichen Rechtsstaaten.

"Im System nicht weitergekommen"

Borgers: Dazu passt auch, dass Sie zu Beginn Ihres Buches davon sprechen, nun quasi selbst die Rolle des Whistleblowers einzunehmen. Aber beschreiben Sie nicht im Wesentlichen - das habe ich mir gedacht, als ich Ihr Buch gelesen habe - nur wie die Dinge gelaufen sind, Sachverhalte, die auch jemand anderes, zum Beispiel eine Journalistin oder ein Journalist hätte recherchieren und aufschreiben können?
Melzer: Natürlich, ich mache es nur als einer, der eigentlich natürlich Teil des Systems ist. Also, ich bin jetzt nicht ein Whistleblower in dem Sinne, dass ich etwas illegal veröffentliche, was jetzt, sagen wir mal, eine Geheimhaltungspflicht verletzen würde, sondern einfach, dass ich mich aus dem inneren System heraus entschieden habe, die breite Öffentlichkeit zu alarmieren, weil ich im System selbst nicht weiterkomme.
Das ist schon ein Dilemma, dass viele Whistleblowers natürlich erleben, natürlich einfach unter viel bedrohlicheren Umständen, weil sie es dann auch mit dem Recht zu tun bekommen.
Dossier: Der Fall Assange

"Die Staaten haben abgeblockt"

Borgers: Vor gut einem Jahr haben wir mit Ihnen hier auch schon in unserer Sendung gesprochen. Damals hatten sie die ersten Ergebnisse Ihrer Untersuchungen öffentlich gemacht. Wann ist dann bei Ihnen der Gedanke gekommen: Das reicht nicht, das muss ich vertiefen, da muss ich ein Buch schreiben?
Melzer: Ich habe natürlich zuerst versucht, den Fall aus meiner Position in Genf zu verstehen. Dann habe ich sehr schnell gemerkt, dass über Assange so viele verschiedene Narrative verbreitet werden und dass der Fall politisch so wichtig ist als Präzedenzfall, dass ich den persönlich untersuchen muss und dass ich eben den auch persönlich besuchen muss vor Ort, mit Ärzten, um hier ein objektives Bild zu bekommen, weil einfach die Berichterstattung viel zu polarisiert war, um hier irgendwie eine unparteiische Auswertung machen zu können.
Und danach habe ich ja dann an die Staaten appelliert, habe meine Schlussfolgerungen vorgelegt, dass ich nach der medizinischen und auch der rechtlichen Auswertung dessen, was wir gefunden haben, der Meinung sei, dass Julian Assange psychischer Folter ausgesetzt worden sei, dass aber auf jeden Fall sein Gesundheitszustand sehr besorgniserregend sei und dass unbedingt, dringend Maßnahmen getroffen werden müssen, um das zu stabilisieren und auch sicherzustellen, dass seine Verfahrensrechte in den verschiedenen Verfahren respektiert werden.
Und dort haben die Staaten dann eigentlich abgeblockt. Sie haben mich zuerst abgewimmelt mit mehr oder weniger freundlichen diplomatischen Plattitüden, wie man das so macht, bei vielen meiner Interventionen. Und als ich dann insistierte, mit einer zweiten Serie von offiziellen Briefen, die alle veröffentlicht worden sind, dann haben die Staaten den Dialog richtiggehend abgeblockt, haben mir zu verstehen gegeben, dass sie den Dialog über diesen Fall nicht wünschen. Und das ist natürlich entgegen den Spielregeln meines Mandates; ich wurde ja von den Staaten ernannt, um genau diese Fragen zu stellen, genau solche Fälle zu untersuchen.
Ich habe mich dann noch an die Presse gewandt, mit Pressecommuniques, bin immer wieder aufgetreten in Interviews, aber hatte schon das Gefühl, als ich auch bei der Generalversammlung in New York nicht weiterkam und auch beim Menschenrechtsrat in Genf im Plenum, habe ich dann nachher mich entschieden nach einem Jahr - das ist jetzt etwa ein Jahr her - ein Buch zu schreiben.
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"Das bedroht das Businessmodell dieser Regierung"

Borgers: Sie schildern das Versagen verschiedener Staaten im Umgang mit Assange. Equador, das Assange am Ende loswerden will und dabei zu Methoden greift, die Sie als Folter einschätzen. Schweden, wo Behörden einen Vergewaltigungsfall, ja, man kann sagen: konstruieren. Und zum Schluss Großbritannien, wo Assange seit nunmehr zwei Jahren in Isolationshaft sitzt. Und über allem schweben irgendwie die USA mit ihrer Forderung, Assange den Prozess machen zu wollen. Aber Sie verzichten - das ist zumindest mein Eindruck – darauf, dass auch so klar zu benennen und die USA zum ganz großen Bösewicht zu machen. Warum?
Melzer: Ja, ich denke, es geht hier eigentlich nicht um eine kriminelle Verschwörung. Ich denke, es geht eigentlich um etwas viel Banaleres – und ich wähle das Wort "banal" mit Bedacht, denn es wurde schon historisch gebraucht von Hannah Arendt, die "Banalität des Bösen" - und ich denke, das ist die Dynamik, die wir auch hier treffen, dass wir hier einen Staat haben, die USA, einen mächtigen Staat, der in verschiedenen Kriegen involviert ist und dann konfrontiert ist mit einer Organisation wie Wikileaks, die anfängt, geheime, neue Beweise für Missverhalten - also nicht einfach nur irgendwelches Missverhalten, sondern Kriegsverbrechen und Folter, also von den schlimmsten Verbrechen - Beweise zu veröffentlichen.
Eine Frau trägt eine Maske, auf der "Freiheit für Assange" steht.
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Das bedroht natürlich aus der Wahrnehmung dieser Streitkräfte, dieser Regierungen, das Businessmodell dieser Regierung. Und dann nimmt man Assange als Gründer dieser Organisation natürlich als Feind wahr. Das ist nicht berechtigt, und ich werde es auch nicht entschuldigen, aber ich denke, es ist etwas anderes, als dass sich hier Staaten, zusammensetzen und kriminell sich verschwören gegen Assange, sondern dann kontaktiert natürlich Amerika seine Alliierten und sagt, hört mal, der Assange, der geht nach Schweden, haben wir da nicht Gründe, weshalb wir den verhaften könnten, könnt ihr den beobachten und so weiter. Also es ist eine Dynamik, die ich lieber mit Behördenkollusion beschreibe als mit einer Verschwörung.

"In den angelsächsischen Medien ist es beinahe unmöglich, ein Interview zu bekommen"

Borgers: Sie sprechen in ihrem Buch auch immer wieder über die Rolle der Medien, die zunächst auch bei Ihnen ein negatives Bild von Assange kreiert haben und die ihn zuletzt weitgehend fallen gelassen haben. In Deutschland haben Sie in den letzten Tagen einige Interviews gegeben. Wie erleben Sie sonst die Reaktionen aktuell auf ihr Buch?
Melzer: Ja, es hat sich natürlich jetzt einiges bewegt. Gerade in den deutschsprachigen Medien ist das Interesse sehr groß, da kann man auch nicht mehr von einem manipulierten Narrativ sprechen. Aber gerade in den angelsächsischen Medien ist es beinahe unmöglich, ein Interview zu bekommen, wo man jetzt objektiv seine Bedenken schildern kann.
Als ich meine ersten Schlussfolgerungen präsentierte, Ende Mai 2019, da gab ich zum Beispiel ein Live-Interview der BBC World über Skype, und das wurde natürlich ausgestrahlt, weil es live was, aber kurz danach wurde es aus dem Netz genommen, und es ist heute keine Spur davon zu finden.
Ich habe die BBC dann kontaktiert und gefragt, was ist denn los? Entweder habe ich Recht, und dann muss man ja die Regierung damit konfrontieren und die Bevölkerung informieren als vierte Macht im Staat, oder ich habe nicht Recht. Aber dann ist das ja auch ein Skandal, dann muss ich ja zurücktreten, das ist auch etwas, was man dann berichten muss. Und die BBC hat einfach geantwortet, das sei im Moment nicht "newsworthy", hätte also zur Zeit keinen Nachrichtenwert. Und das fand ich dann schon ziemlich unglaubwürdig.
Borgers: Deutlich mehr wird wahrscheinlich auch bei der BBC gerade über den Fall von Alexej Nawalny berichtet. Was unterscheidet seinen Fall von Assanges Fall, was denken Sie?
Melzer: Die Fälle sind eigentlich gut vergleichbar, auch wenn das Profil der beiden Männer vielleicht nicht identisch ist. Aber wenn man die beiden Fällen vergleicht, dann sieht man natürlich deutlich, dass hier eine Voreingenommenheit der westlichen Staaten gegen Russland und für den westlichen Alliierten USA besteht.
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Der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky kritisiert den Umgang der russischen Regierung mit dem Oppositionellen Alexej Nawalny scharf. Dessen Verhaftung sei von Anfang an völkerrechtswidrig gewesen, sagte er im Dlf.

"Auf die Dynamik aufmerksam machen"

Borgers: Wie geht es jetzt weiter? Ist der Fall Assange für sie mit diesem Buch jetzt erledigt?
Melzer: Nein, das ist er nicht. Ich habe natürlich meine Mittel. Meine Werkzeuge, die ich zur Verfügung habe, sind aber weitgehend ausgenutzt. Wenn es größere Entwicklungen im Fall gibt, kann ich natürlich weiterhin erneut diplomatisch intervenieren oder auch öffentlich über Pressemitteilungen.
Aber es ist natürlich schon richtig, dass das Verhalten der Staaten, die Reaktion bis dahin nicht sehr vielversprechend ist. Darum geht es mir: Die Öffentlichkeit zu informieren, auch darüber, dass ich ja selbst die gleichen Vorurteile hatte, die viele Leser meines Buches oder Durchschnittsbürger haben, die den Fall vielleicht sonst nicht so gut kennen, die werden die gleichen Vorurteile in sich tragen.
Und ich möchte sie eben nicht nur auf diesen Fall alleine aufmerksam machen, sondern auf die Dynamik, die illustriert wird, die gezeigt wird durch diesen Fall. Das ist ja kein Einzelfall.
Ich möchte ihnen sozusagen diese Geschichte anbieten, als Schlüsselloch, um in eine Welt hineinzuschauen, in eine Parallelwelt, wo eben die Staaten die Sicherheitspolitik wirklich betreiben und wie das wirklich geschieht, nach welcher Logik, und wie stark dadurch die Rechtsstaatlichkeit unserer westlichen Demokratien bereits ausgehebelt worden ist, dort, wo es dann wirklich drauf ankommt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] In einer früheren Textfassung war die Titelbezeichnung des UN-Sonderberichterstatters falsch. Das haben wir korrigiert.