Manfred Götzke: Weißrussland wird ja oft letzte Diktatur Europas genannt, wohl auch deshalb weil der autoritär regierende Lukaschenko so viele Bürger ins Exil drängt wie kein anderer europäischer Staat: Journalisten, die unabhängig berichten wollen, regierungskritische Künstler und Musiker verlassen das Land, genauso wie eine ganze Universität. Die Europäische Humanistische Universität wurde in Minsk vor sieben Jahren dichtgemacht und hat ein Bildungsexil in Litauens Hauptstadt Vilnius gefunden. Fast alle weißrussischen Professoren dieser Uni und auch die Verwaltung sind umgezogen und ziehen noch um, und seit diesem Wintersemester ist auch ein deutscher Wissenschaftler an der Exil-Uni. Der Kulturwissenschaftler Felix Ackermann baut
als Dozent des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Vilnius derzeit ein Zentrum für Deutschlandstudien auf. Herr Ackermann, dass eine ganze Universität ins Exil geht, das ist ja ein ziemlich einmaliges Phänomen. Wie arbeitet es sich an einer Exil-Uni?
Felix Ackermann: Na, es ist alles noch sehr in Bewegung, die Hochschule ist erst 2005 nach Vilnius gegangen und hat so eine ganze Weile gebraucht, um sich dort überhaupt zu akkreditieren als litauische Hochschule, und man merkt doch sehr, dass man im Exil ist, unter anderem auch, weil sehr, sehr viele Dozenten praktisch zwischen Minsk und Vilnius die ganze Zeit hin und her pendeln. Das sind also zwei Stunden mit dem Auto, wenn man sehr schnell ist. Man braucht dann noch einige Stunden an der Grenze oder drei Stunden mit dem Zug - und es ist also auch eine Pendeluniversität, die aber eben dann im Exil ihren Arbeitsschwerpunkt hat.
Götzke: Wie wird denn dort gearbeitet und vor allem in welcher Sprache?
Ackermann: Die Arbeitssprache ist hauptsächlich russisch, das ist also ganz ähnlich wie in Minsk. Sie müssen sich vorstellen, dass die meisten Studenten von den 2000 dort immatrikulierten Studenten aus Weißrussland kommen, ganz normal sozusagen statt eines Studiums in Minsk oder Wizebsk eben sich nach Vilnius begeben, und da die Meisten russischsprachig sind, wird auch auf Russisch unterrichtet. Es gibt allerdings auch Dozenten, die aus Prinzip oder aus Gewohnheit auch auf belarussisch unterrichten.
Götzke: Richtet sich das Ganze denn tatsächlich vornehmlich an weißrussische Studierende oder gibt es auch Litauer, die diese Uni besuchen?
Ackermann: Es ist theoretisch auch möglich für russischsprachige Bewohner des Baltikums, dort einen Abschluss zu machen beziehungsweise ganz theoretisch könnten auch zum Beispiel russische Staatsbürger, die sozusagen ein EU-Diplom haben wollen, jetzt in Vilnius studieren. Aber die große Mehrheit der Studierenden sind tatsächlich junge Belarussen, die ein freieres Studium sozusagen haben wollen und tatsächlich sozusagen "in Europa" studieren wollen, und sich deshalb aus Belarus auf den Weg gemacht haben nach Vilnius.
Götzke: Es sind ja ein Drittel der Studierenden der Europäischen Humanistischen Universität (EHU), die mit ausgewandert sind mit ihrer Uni. Hat Lukaschenko diesem Brain Drain so ohne Probleme zugelassen?
Ackermann: Also offiziell gibt es keine Politik gegen die EHU, aber es gibt natürlich sehr, sehr viele Schikanen, sei es an der Grenze - ich mache gerade einen Kurs zu deutscher Nachkriegsgeschichte, und wir haben den Marshallplan bearbeitet, und ich hatte so als kleine Provokation auch einige Studenten gefragt, ob man in Belarus so einen Marshallplan aufsetzen müsste, und viele von denen waren gleich der Meinung, dass das gar nicht so ein guter Zeitpunkt wäre oder dass das Geld eher verloren gehen würde, und dann meinte einer so: Oh-oh, wenn wir das jetzt weiter hier so diskutieren, dann gibt es Probleme an der Grenze. Es ist so, dass, wenn das neue Semester beginnt oder das neue Studienjahr, dann werden gezielt die Studierenden sozusagen aus den Zügen geholt, aus den Autobussen geholt, und es gibt dann einfach in Belarus sozusagen Einrichtungen, die ganz gezielt zum Beispiel auch bei Eltern anrufen und ihnen sozusagen wie ein schlechtes Gewissen machen oder ihnen Angebote machen, kostenlos in Minsk zu studieren. Es sind immer wieder auch Studenten der EHU für politische Aktivitäten inhaftiert in Belarus, das kommt also auch vor, gerade beim Zusammenhang mit den Wahlen im Dezember.
Götzke: Sie haben das ja auch schon angedeutet: Im Grunde ist diese Exil-Uni ein Affront für die Führung des Landes. Kann man mit einem Abschluss an der EHU problemlos in Weißrussland arbeiten, oder drohen da auch Repressionen?
Ackermann: Ja, das Ziel der EHU ist ja genau, Leute anders auszubilden als in Belarus, sodass sie dann zurückkehren. Das tun auch viele Studierende, allerdings versuchen sie da auch noch ihrem Master nach dem Bachelor im Ausland zu machen, und erst dann stellt sich diese Frage für die Meisten, weil man eben doch in Belarus für viele Tätigkeiten jetzt schon offiziell einen vollen Hochschulabschluss haben muss, und dann ist es so, dass man prinzipiell natürlich in Belarus damit arbeiten kann, allerdings in vielen staatlichen Einrichtungen nicht. Und da ist das Problem, dass eben einfach weit über zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung in Belarus in staatlichen Betrieben erbracht wird. Da ist sozusagen diese Sphäre, in denen Absolventen der EHU arbeiten können, relativ gering. Als Jurist kann man definitiv nicht in einem Staatsbetrieb arbeiten, aber natürlich in einer privaten Kanzlei oder in einer privaten Firma, da könnte man arbeiten, zum Beispiel, ja?
Götzke: Sie selbst haben ja auch lange Zeit in Weißrussland gearbeitet und geforscht. Ist unabhängige Forschung im Bereich der Geisteswissenschaften, Geschichte, Politik, tatsächlich unmöglich dort?
Ackermann: Ja, also es ist so, dass heute unabhängige Forschung in Belarus praktisch unmöglich ist. Es gibt natürlich Freiräume, in denen Forscher einfach das tun, was sie für richtig halten, aber das können sie in vielen Bereichen, also gerade in Politik, Geschichte, auch belarussische Kultur und andere wichtige Sphären können wir das nicht an den Universitäten tun und auch nicht offiziell tun. Und das ist ein riesiges Problem, weshalb die Existenz der EHU in Vilnius so besonders wichtig ist. Das ist ein Ort, wo man auch zu schwierigen Themen und Fragen einfach forschen kann, ohne sofort Repressionen fürchten zu müssen.
Götzke: Wer finanziert diese Uni im Exil eigentlich?
Ackermann: Die EHU ist - um ein Beispiel zu geben: Ein großer Teil der Finanzierung kommt auch von einzelnen Regierungen, also aus ganz Europa im Prinzip, aber für so eine EHU, die hat ein Budget von fünf Millionen Euro im Jahr, ist schon der Ausfall eines Gebers - nämlich in dem Fall Griechenland, der also da "nur" mit 100.000 Euro drin ist -, da entsteht dann automatisch so eine Budgetlücke, dieses Jahr mit dem Ausfall sozusagen von Griechenland als Geber. Und man muss auch sagen, dass ein Großteil der Finanzierung derzeit noch aus Amerika kommt, also dass die Europäer schon sich beteiligen, aber eben zurückstehen, was aus Amerika kommt.
Götzke: Es könnte mehr sein.
Ackermann: Ja.
Götzke: Ein Exil ist natürlich kein Dauerzustand. Wie lange, glaubt man noch in Vilnius bleiben zu müssen?
Ackermann: Es ist klar, dass sich die politische Situation in Belarus nicht schnell ändert, also niemand verspricht sozusagen das Blaue vom Himmel, dass dort eine schnelle Veränderung absehbar ist, sondern das ist eher eine mittelfristige Tätigkeit. Es geht darum, wirklich mittelfristig sowohl Strukturen als auch eben sozusagen ganze Generationen von gut ausgebildeten Belarussen dort zu schulen. Also niemand rechnet damit, dass wir in fünf Jahren oder in drei Jahren sozusagen zurück nach Minsk gehen. Aber wenn es in Minsk Veränderungen gibt, dann ist die Universität so angelegt, dass sie dann dahin zurückgeht, selbstverständlich.
Götzke: In Litauen hat eine weißrussische Universität ein Bildungsexil gefunden, und Felix Ackermann lehrt dort seit diesem Wintersemester. Vielen Dank für diese Eindrücke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
als Dozent des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Vilnius derzeit ein Zentrum für Deutschlandstudien auf. Herr Ackermann, dass eine ganze Universität ins Exil geht, das ist ja ein ziemlich einmaliges Phänomen. Wie arbeitet es sich an einer Exil-Uni?
Felix Ackermann: Na, es ist alles noch sehr in Bewegung, die Hochschule ist erst 2005 nach Vilnius gegangen und hat so eine ganze Weile gebraucht, um sich dort überhaupt zu akkreditieren als litauische Hochschule, und man merkt doch sehr, dass man im Exil ist, unter anderem auch, weil sehr, sehr viele Dozenten praktisch zwischen Minsk und Vilnius die ganze Zeit hin und her pendeln. Das sind also zwei Stunden mit dem Auto, wenn man sehr schnell ist. Man braucht dann noch einige Stunden an der Grenze oder drei Stunden mit dem Zug - und es ist also auch eine Pendeluniversität, die aber eben dann im Exil ihren Arbeitsschwerpunkt hat.
Götzke: Wie wird denn dort gearbeitet und vor allem in welcher Sprache?
Ackermann: Die Arbeitssprache ist hauptsächlich russisch, das ist also ganz ähnlich wie in Minsk. Sie müssen sich vorstellen, dass die meisten Studenten von den 2000 dort immatrikulierten Studenten aus Weißrussland kommen, ganz normal sozusagen statt eines Studiums in Minsk oder Wizebsk eben sich nach Vilnius begeben, und da die Meisten russischsprachig sind, wird auch auf Russisch unterrichtet. Es gibt allerdings auch Dozenten, die aus Prinzip oder aus Gewohnheit auch auf belarussisch unterrichten.
Götzke: Richtet sich das Ganze denn tatsächlich vornehmlich an weißrussische Studierende oder gibt es auch Litauer, die diese Uni besuchen?
Ackermann: Es ist theoretisch auch möglich für russischsprachige Bewohner des Baltikums, dort einen Abschluss zu machen beziehungsweise ganz theoretisch könnten auch zum Beispiel russische Staatsbürger, die sozusagen ein EU-Diplom haben wollen, jetzt in Vilnius studieren. Aber die große Mehrheit der Studierenden sind tatsächlich junge Belarussen, die ein freieres Studium sozusagen haben wollen und tatsächlich sozusagen "in Europa" studieren wollen, und sich deshalb aus Belarus auf den Weg gemacht haben nach Vilnius.
Götzke: Es sind ja ein Drittel der Studierenden der Europäischen Humanistischen Universität (EHU), die mit ausgewandert sind mit ihrer Uni. Hat Lukaschenko diesem Brain Drain so ohne Probleme zugelassen?
Ackermann: Also offiziell gibt es keine Politik gegen die EHU, aber es gibt natürlich sehr, sehr viele Schikanen, sei es an der Grenze - ich mache gerade einen Kurs zu deutscher Nachkriegsgeschichte, und wir haben den Marshallplan bearbeitet, und ich hatte so als kleine Provokation auch einige Studenten gefragt, ob man in Belarus so einen Marshallplan aufsetzen müsste, und viele von denen waren gleich der Meinung, dass das gar nicht so ein guter Zeitpunkt wäre oder dass das Geld eher verloren gehen würde, und dann meinte einer so: Oh-oh, wenn wir das jetzt weiter hier so diskutieren, dann gibt es Probleme an der Grenze. Es ist so, dass, wenn das neue Semester beginnt oder das neue Studienjahr, dann werden gezielt die Studierenden sozusagen aus den Zügen geholt, aus den Autobussen geholt, und es gibt dann einfach in Belarus sozusagen Einrichtungen, die ganz gezielt zum Beispiel auch bei Eltern anrufen und ihnen sozusagen wie ein schlechtes Gewissen machen oder ihnen Angebote machen, kostenlos in Minsk zu studieren. Es sind immer wieder auch Studenten der EHU für politische Aktivitäten inhaftiert in Belarus, das kommt also auch vor, gerade beim Zusammenhang mit den Wahlen im Dezember.
Götzke: Sie haben das ja auch schon angedeutet: Im Grunde ist diese Exil-Uni ein Affront für die Führung des Landes. Kann man mit einem Abschluss an der EHU problemlos in Weißrussland arbeiten, oder drohen da auch Repressionen?
Ackermann: Ja, das Ziel der EHU ist ja genau, Leute anders auszubilden als in Belarus, sodass sie dann zurückkehren. Das tun auch viele Studierende, allerdings versuchen sie da auch noch ihrem Master nach dem Bachelor im Ausland zu machen, und erst dann stellt sich diese Frage für die Meisten, weil man eben doch in Belarus für viele Tätigkeiten jetzt schon offiziell einen vollen Hochschulabschluss haben muss, und dann ist es so, dass man prinzipiell natürlich in Belarus damit arbeiten kann, allerdings in vielen staatlichen Einrichtungen nicht. Und da ist das Problem, dass eben einfach weit über zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung in Belarus in staatlichen Betrieben erbracht wird. Da ist sozusagen diese Sphäre, in denen Absolventen der EHU arbeiten können, relativ gering. Als Jurist kann man definitiv nicht in einem Staatsbetrieb arbeiten, aber natürlich in einer privaten Kanzlei oder in einer privaten Firma, da könnte man arbeiten, zum Beispiel, ja?
Götzke: Sie selbst haben ja auch lange Zeit in Weißrussland gearbeitet und geforscht. Ist unabhängige Forschung im Bereich der Geisteswissenschaften, Geschichte, Politik, tatsächlich unmöglich dort?
Ackermann: Ja, also es ist so, dass heute unabhängige Forschung in Belarus praktisch unmöglich ist. Es gibt natürlich Freiräume, in denen Forscher einfach das tun, was sie für richtig halten, aber das können sie in vielen Bereichen, also gerade in Politik, Geschichte, auch belarussische Kultur und andere wichtige Sphären können wir das nicht an den Universitäten tun und auch nicht offiziell tun. Und das ist ein riesiges Problem, weshalb die Existenz der EHU in Vilnius so besonders wichtig ist. Das ist ein Ort, wo man auch zu schwierigen Themen und Fragen einfach forschen kann, ohne sofort Repressionen fürchten zu müssen.
Götzke: Wer finanziert diese Uni im Exil eigentlich?
Ackermann: Die EHU ist - um ein Beispiel zu geben: Ein großer Teil der Finanzierung kommt auch von einzelnen Regierungen, also aus ganz Europa im Prinzip, aber für so eine EHU, die hat ein Budget von fünf Millionen Euro im Jahr, ist schon der Ausfall eines Gebers - nämlich in dem Fall Griechenland, der also da "nur" mit 100.000 Euro drin ist -, da entsteht dann automatisch so eine Budgetlücke, dieses Jahr mit dem Ausfall sozusagen von Griechenland als Geber. Und man muss auch sagen, dass ein Großteil der Finanzierung derzeit noch aus Amerika kommt, also dass die Europäer schon sich beteiligen, aber eben zurückstehen, was aus Amerika kommt.
Götzke: Es könnte mehr sein.
Ackermann: Ja.
Götzke: Ein Exil ist natürlich kein Dauerzustand. Wie lange, glaubt man noch in Vilnius bleiben zu müssen?
Ackermann: Es ist klar, dass sich die politische Situation in Belarus nicht schnell ändert, also niemand verspricht sozusagen das Blaue vom Himmel, dass dort eine schnelle Veränderung absehbar ist, sondern das ist eher eine mittelfristige Tätigkeit. Es geht darum, wirklich mittelfristig sowohl Strukturen als auch eben sozusagen ganze Generationen von gut ausgebildeten Belarussen dort zu schulen. Also niemand rechnet damit, dass wir in fünf Jahren oder in drei Jahren sozusagen zurück nach Minsk gehen. Aber wenn es in Minsk Veränderungen gibt, dann ist die Universität so angelegt, dass sie dann dahin zurückgeht, selbstverständlich.
Götzke: In Litauen hat eine weißrussische Universität ein Bildungsexil gefunden, und Felix Ackermann lehrt dort seit diesem Wintersemester. Vielen Dank für diese Eindrücke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.