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Unabhängigkeit vor Umweltschutz

Im Osten Estlands liegen große Ölschiefervorkommen, aus denen die Esten fast ihren gesamten Energiebedarf decken. Es ist eine schmutzige Energiequelle, aber eine, die das Land unabhängig macht von russischen Stromimporten. Und das scheint den Esten wichtiger zu sein als alles andere.

Von Monika Seynsche | 22.02.2012
    Im Tagebau Aidu arbeitet ein Bagger mit langem Auslegekran, zu dessen Ende ein Stahlseil gespannt ist. Ähnlich einer Seilbahnkabine fährt an ihm entlang eine Baggerschaufel hoch und runter, kratzt Gesteinsmaterial auf und lässt es ein paar Meter weiter wieder fallen.

    Dieser Schürfkübelbagger, erzählt Tõnis Meriste bei einer Führung durch den Tagebau, schaffe den Abraum von der Gewinnungs- auf die Kippenseite. Der Umweltmanager des estnischen Energiekonzerns Eesti Energia hebt einen braun gesprenkelten Stein auf, der von der Abbruchkante hinter ihm gefallen ist.

    "Das ist ziemlich festes Material. - Hier sehen sie den grauen Kalkstein und das braune hier sind die organischen Bestandteile."

    Der Ölschiefer besteht zu etwa 50 Prozent aus Kalkstein und enthält daneben große Mengen Kerogene. Das sind organische Bestandteile, die sich zum einen ähnlich wie Kohle zur Energieerzeugung nutzen lassen und aus denen sich zum anderen eine Art Rohöl gewinnen lässt. Fast 18 Millionen Tonnen dieser Ölschieferbrocken werden jedes Jahr in Aidu und den anderen estnischen Bergwerken gefördert. Alle aktuellen und ehemaligen Minen zusammen nehmen eine Fläche von mehr als 400 Quadratkilometern ein. Ein Großteil des Ölschiefers wird in Kraftwerken verbrannt, um Strom zu erzeugen.

    "Wir hatten zu Sowjetzeiten gewaltige Probleme mit der Luftverschmutzung, denn die Kraftwerke waren lange Zeit mit keinerlei Filtern ausgerüstet."

    Filtern, die die alkalische Asche auffangen, die beim Verbrennen der großen Kalksteinanteile im Ölschiefer entsteht. Die Luftverschmutzung sei mittlerweile auf ein Fünftel zurückgegangen, sagt der Ökologe Margus Pensa von der Universität von Tallinn. Die Folgen für die Umwelt seien allerdings bis heute sichtbar.

    "Der Staub aus den Schornsteinen war sehr alkalisch und hat sich in Mooren und Sümpfen abgelagert."

    Dadurch stieg der pH-Wert in diesen natürlicherweise sauren Ökosystemen an und die Pflanzenzusammensetzung änderte sich dramatisch. Und das sei nicht das einzige Problem, dass durch die Ölschiefernutzung entstehe, sagt der Ökologe.

    "Ölschiefer enthält viel Öl, das sich unter hohen Temperaturen und großem Aufwand herauskochen lässt. Als Abfallprodukt entsteht dabei Schwelkoks, der immer noch einige organische Bestandteile enthält. Er wird auf großen Halden in der Umgebung gesammelt, und wenn diese in Kontakt mit Regenwasser kommen, können aus ihnen Ölreste, Phenole und andere Schadstoffe ausgewaschen werden und ins Grundwasser gelangen."

    Damit das in Zukunft nicht mehr passiert, sollen alle Schwelkokshalden bis 2013 mit einem wasserundurchlässigen Material abgedeckt werden.

    Tõnis Meriste ist bei seiner Führung in der Anreicherungsanlage angelangt. Eine riesige Halle voller Maschinen und Förderbänder. Hier versucht man, den Ölschiefer soweit wie möglich vom Kalkstein zu trennen.

    Das Gestein wird zerstoßen und in großen Suspensionstanks sinken die schwereren Kalksteinbrocken ab, während der leichtere Ölschiefer oben schwimmt.

    " Diese Anreicherungsanlage hier gewinnt pro Jahr aus etwa vier Millionen Tonnen Material zweieinhalb Millionen Tonnen Ölschiefer für die Energieerzeugung."

    Estland hat seit dem Ende der Sowjetunion viel getan, um die Umweltfolgen der Ölschiefernutzung zu mindern. Ein Grundproblem aber bleibt bestehen: die gewaltigen Kohlendioxidemissionen. Sie sind deutlich höher als bei allen anderen fossilen Energieträgern. Estland gewinnt aus Ölschiefern mehr als 90 Prozent seiner Energie und katapultiert allein dadurch jedes Jahr fast 18 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre.


    Hinweis: Alle Beiträge zum Themenschwerpunkt "Die Wunden der Erde" können Sie hier nachlesen.