Die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman gilt als Meisterin im Schildern existenzieller Einsamkeit. Ihre Figuren sind oft ihrem Schicksal ausgeliefert wie einer Naturgewalt. Als Autorin komischer Bücher ist sie bisher nicht bekannt geworden. Umso fulminanter ist Ekmans neuer Roman. Mit "Schwindlerinnen" hat die zweifache Trägerin des renommierten August-Preises, die nächstes Jahr achtzig wird, ein hoch amüsantes Buch über das Schreiben und über die Liebe, über die Literaturbranche und das Nobelpreiskomitee und über sich selbst geschrieben. "Schwindlerinnen" ist eine Autofiktion und zugleich ein satirischer Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre der schwedischen Gesellschaft, zugleich autobiografisch und frei erfunden und darin vergleichbar mit dem letzten Roman Vladimir Nabokovs "Sieh doch die Harlekine." Mit einer ähnlich großen Lust am ästhetischen Spiel wie Nabokov nimmt Ekman auf ihre Art die eigene Biografie zum Anlass, Autorschaft zu hinterfragen.
"Babba hat über Autobiografien immer höhnisch gelacht und gesagt, am wenigsten wahr seien sie in den Beschreibungen des eigenen Scheiterns. Selbstkritische Koketterie hat sie das genannt. Und jetzt hat sie selbst eine geschrieben."
Lillemor Troj, eine 79 Jahre alte Schriftstellerin, erfährt von ihrem Lektor, dass jemand einen Roman über sie geschrieben hat, der die intimsten Details ihres Lebens enthüllt. Der Lektor hält es für eine Autobiografie, die Troj unter Pseudonym einem anderen Verlag schickte. Nur sie weiß, dass das nicht sein kann. Sie hat noch nie selbst einen Roman geschrieben. Das ist das Geheimnis ihres Lebens. Ihre Romane wurden alle von Barbro Andersson verfasst. Barbro hatte zu Studienzeiten einen Deal mit Lillemor Troj gemacht: Barbro würde die Bücher schreiben, Lillemor würde Name und Foto und ihre Person für öffentliche Auftritte zur Verfügung stellen. Und nun will diese Barbro Andersson unter ihrem eigenen Namen einen Roman über Lillemor veröffentlichen, in dem dieses Geheimnis gelüftet wird, als Rache für eine Demütigung.
Beinahe ihr ganzes Leben sind die beiden Frauen durch eine perfekte Symbiose aneinandergeschmiedet; während die eine unansehnlich ist und weder Geschmack für Kleidung noch Sinn für Höflichkeiten besitzt, aber einen klaren, kritischen Verstand und einen rauschhaften Zugang zur Sprache, versteht sich die andere auf Etikette, Mode und Small Talk und besitzt den fürs Korrigieren und Lektorieren notwendigen analytischen Sprachzugang. Damit sind auch die zwei Seiten einer Schreibenden charakterisiert; die weltgewandte öffentliche Person und die menschenscheue, einsame. Die Autorin der Lesungen, Fernsehauftritte und Zeitungsinterviews auf der einen und die unkorrumpierbare, von Lob und Kritik unabhängig Schaffende auf der anderen Seite, diejenige also, die Joan Didion, die große amerikanische Autorin in Ekmans Alter, meint, wenn sie sagt: Schriftsteller lassen das Beste von sich am Schreibtisch zurück.
"Als Kind hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass Bücher von einer speziellen Person geschrieben werden. Bücher waren Welten. Die gab es eben. Nun wusste ich es besser, aber die entscheidende Erkenntnis, was eine Schriftstellerin war, hatte mir der Abend im Volkshaus beschert. Das war eine, die im Volkshaus stand, die mit schriller Stimme sprach und rauchte. Und dann war da eine andere, die verhext über rauchende Frauen und deren seltsames Leben schrieb. Ich dachte natürlich nicht im Traum daran, Schriftstellerin zu werden, aber mir war jetzt klar geworden, dass das Monster zwei Köpfe hat."
Aus dem schriftstellerischen Zwiespalt, der sich in Gestalt zweier Frauen ausdrückt, gewinnt der Roman seine Spannung. Barbros und Lillemors Ansichten sind so konträr, dass sich im Aufeinanderprallen die ganze Skurrilität des scheinbar Normalen offenbart, ob es um die jahrelange Hörigkeit der kleinen Leute gegenüber der schwedischen Sozialdemokratie geht, um ein Wort wie Umwelt, das irgendwann das Wort Natur ersetzte, oder um die Literaturbranche. Anlass für den Deal zwischen Barbro und Lillemor ist eine chauvinistische Grundstimmung, in der die Sexyness einer jungen Autorin mehr gilt, als das, was sie schreibt. Weil das Mädchen fotogen ist, kommt es ins Blatt, so lautet die Haltung der Jury, die Lillemor den ersten Preis in einem Lucia-Geschichten-Wettbewerb verleiht. Lillemors ansehnliches Foto steht über einem Text, den die grobschlächtige Barbro geschrieben hat.
"Lillemor sieht zehn Lucia-Kandidatinnen in weißer Bluse und engem schwarzen Rock im Gänsemarsch hereinkommen und auf einem Podium Aufstellung nehmen. Einige waren hübscher als sie. Aber keine war so sehr der Lucia-Typ wie ich, denkt sie. Das hatte sie den Komplimenten entnommen, die man ihr machte. Zu Kaffee, Likör und Cocktails kamen die Herren der Jury wieder heraus, und da erhielten die Kandidatinnen recht handfeste Komplimente. Lillemor legte jedoch keiner die Hand auf den Po."
Dass es ausgerechnet ein Lucia-Wettbewerb ist, mit dem Lillemors literarische Karriere beginnt, ist eine von vielen ironischen Anspielungen in diesem Roman. Lucia ist eine zentrale mythische Gestalt im kollektiven schwedischen Bewusstsein, deren Deutungen von religiösem Lichtwesen bis hin zum weiblichen Mordopfer reichen. Die Lucia-Nacht vor Weihnachten ist neben der Walpurgisnacht und Mittsommer das wichtigste gesellschaftliche Ereignis. Lillemor ausgerechnet als Lucia-Typus zu entwerfen, ist eine ironische Überhöhung der Rolle der Schriftstellerin und ein Spiel damit, wie nah Dichterbilder am Mythos sind. dass sie sich immer aus anderen Dichterbildern speisen, zeigt sich wiederum darin, dass Lillemor die gleichen Klamotten trägt wie Nelly Sachs.
Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Ursprung eines Textes, seiner Originalität. Der alte Gedanke des aus sich selbst heraus schöpfenden Genies wird von Ekman verworfen, allerdings nicht im foucaultschen Sinne einer Autorfunktion, in der sich Diskurse bündeln. Ekman entwickelt den Gedanken einer Zweiheit, wie ihn Gertrude Stein zum ersten Mal in ihrer "Autobiographie von Alice B. Toklas" entworfen hatte. Das Schreiben braucht den Umweg über die andere, es realisiert sich erst am Ort der Anderen. Die Frage nach dem Ursprung beginnt zu irrlichtern, wenn die eigene Stimme sich als Autobiografie einer anderen Person äußert. Ekman hat dieses Irrlichtern gekonnt in Szene gesetzt: Lillemor liegt mit zunehmender Beunruhigung im Bett, während sie Barbros Manuskript durchgeht und ihr eigenes Leben szenisch vor dem inneren Auge abläuft. Denn Barbro, die Autorin, hat dieses Leben erst als sinnstiftende Geschichte entworfen. Zur Autobiografie wird sie dadurch, dass Lillemor das Gelesene wieder erlebt und im Erinnern vervollständigt.
Das metaphorische Spiel um Wahrheit und Fiktion wird auf der Folie handfester Biografien betrieben, mit denen Ekmann die beiden Frauen ausstattet. Barbro kommt aus der Arbeiterklasse, der Vater arbeitete im Sägewerk, die Mutter in einer Bäckerei, zu Hause wird die sozialdemokratisch geprägte Literaturauswahl der örtlichen Leihbücherei gelesen. Lillemor entstammt dem bürgerlichen Milieu, einer Unternehmerfamilie, die Kunststoffboote verkauft. Lillemors erster Ehemann ist der Nachkomme eines Generals. Barbros zweiter Geliebter der Sprössling einer Bauernfamilie aus einer verarmten, aufgegebenen Gegend, der Finnmark. Plastisch lässt Ekman die unbeholfene, aber rechtschaffene Welt des "Volksheim" mit der der Bessergestellten und ihrer Idee kollidieren, schwedisches Gutmenschentum in den Rest der Welt zu exportieren. Ganz nebenbei wird das Schweden der letzten Jahrzehnte anschaulich und immer wieder satirisch kommentiert. Und alles unterliegt der Perspektive der Schreibenden. Lillemor, die Autorin der öffentlichen Auftritte, hat die Welt gesehen. Barbro, die Schreibende, bleibt zu Hause. Das Schreiben wurzelt laut Ekman also in der eigenen Herkunft.
"Babba hat ihres Wissens keine andere Welt als die um sich herum erlebt, in die sie hineingeboren wurde und an der sie sich festbiss. Keine Wiederaufbauarbeit im Nachkriegseuropa gemeinsam mit idealistischen Jugendlichen. Kein amerikanisches College mit einem Hauch von gemäßigtem Linksliberalismus. Kein Kibbuz mit Apfelsinenanbau, kein chinesisches Dorf mit haufenweise schlappen Kohlpflanzen. Babba ist zutiefst und hoffnungslos provinziell. Das Einzige, wovon Babba etwas weiß, ist unsere alte Kultur. Aber auch die ist mit Ausnahme von Swedenborg und Linné provinziell. Und hätte sie sich ohne mich überhaupt je um Linné gekümmert, denkt Lillemor."
So lebendig, witzig und anrührend wie Ekman das intime Verhältnis der beiden Frauen schildert, ist ihr, und auch das ist erstaunlich, ein queerer Roman gelungen. Die Männer kommen und gehen - ein verhinderter, egomaner Akademiker und ein bisexueller, steifer Schulleiter in Lillemors Fall, ein bankrotter Schweinezüchter und ein trinkfester, Geige spielender Straßenmusikant in Barbros Fall. Das Verhältnis der Frauen überdauert bis zum Schluss, als das Manuskript das Schweigen aufbricht, das eine Weile zwischen ihnen herrschte. Sie verbindet eine Anziehung, die im künstlerischen Schaffen und im Erfolg fußt. Das äußert sich mal in fiebriger Begeisterung und ansteckender Leidenschaft, mal in Unverständnis und Misstrauen, in Sehnsucht oder Überdruss, und nur einer der Männer hat überhaupt eine Ahnung davon. Liest man diesen Roman als queeren Text, eröffnet sich ein subversives Spiel, bei dem viele Äußerungen einen doppelten Boden gewinnen.
"Muss unser Verhältnis, das vielleicht nicht so leicht erklärbar ist, eine Lüge sein? Wird es eine Lüge, dass wir einander brauchen, nur weil wir es niemandem erzählen? Dass etwas verborgen ist, heißt nicht unbedingt, dass es unwahr oder falsch ist. Wird denn etwas dadurch wahr, dass es öffentlich wird?"
Die Milieu-und Menschenstudien Ekmans zeugten schon immer von einem genauen Blick und großer Menschenkenntnis. Hier sind sie auf mitfühlende Weise überzogen, ins Schräge gerückt. Die Figuren strotzen vor Leben wie die Figuren eines Volkstheaters, als hätte Ekman eine unbändige Lust am Absurden überkommen und die Sprache laufen lassen. Die inneren Monologe der beiden Hauptfiguren sind gefüttert mit verrückten Ideen, schnellen Dialogen und aberwitzigen Abschweifungen, die ihre Komik nicht zuletzt aus dem Gegensatz gewinnen, dass es sich um zwei alte Damen handelt, die in jugendlichem Tempo denken und reden. Ein Tempo, mit dem die Übersetzung von Hedwig M. Binder leider nicht immer mithalten kann. "Was ist so schlecht an Unterhaltung" lässt Ekman ihre Heldin Barbro provokant fragen.
"Ich schrieb das Buch über einen Mord unter den pietistischen Laestadianern. Es war kein gewöhnlicher Krimi, denn diese Chose hatte ich allmählich leid. Lillemor gefiel die Idee gar nicht, ihr waren sowohl Moore als auch die Menschen dort zuwider. Grau, meinte sie, durch und durch grau. Absolut nichts für einen Krimi, nicht mal für einen normalen Roman. Ich sagte, Geschichten seien Sprache, keine Wirklichkeit: 'Und du kannst nicht behaupten, dass meine Sprache grau ist.' Widerstrebend schrieb sie den Text ins Reine und stocherte im Grau. Sie begriff nicht, dass meine Sprache, falls sie denn grau war, so grau war wie die Bartflechte in den Fichten und der Morgennebel über dem Fluss, in dem die Leiche versenkt wurde. Lillemor hütetet sich zu klagen, war aber nervös. Sie meinte, es könne unser Ende bedeuten, wir seien in diesem Grau hängen geblieben und die Kritiker würden uns aus Langeweile töten, ungefähr so, wie man eine Blattlaus knackt, die sich zwischen Buchseiten verirrt hat. Doch es wurde ein Erfolg."
Barbro und Lillemor sind Konzentrate aus Ekmans eigenem Leben und dem Leben ihrer Romanfiguren. Das Fiktionale ragt ins Biografische hinein, Biografisches wird fiktionalisiert. Das literarische Umfeld der Heldinnen wie Stendhal, Thomas Mann, Proust, die Lyrikerin Karin Boye oder der Romancier Hjalmar Söderberg entspricht ohne Zweifel dem der Autorin. Söderberg widmete Ekman einen ganzen Roman, in dem sie auf sein wichtigstes Buch "Doktor Glas" Bezug nahm. Ebenso gibt Ekmans eigene Werkgeschichte den Hintergrund für diese autobiografische Fiktion ab. Am Beispiel von Barbros Eltern wird die Vallmsta-Tetralogie über die industrielle Entwicklung einer mittelschwedischen Kleinstadt aufgerufen. Lillemors restreligiöse Kirchbesuche spielen auf Ekmans Roman über einen Pfarrer in einer entlegenen Gemeinde an. Die Hunde erinnern an Ekmans Novelle "Hundeherz". Und der Wald spielt eine Rolle, seine Schönheit, seine Ausbeutung. Lillemor liebt es, durch die Wälder zu streifen und zu botanisieren, eine Referenz an Ekmans grandioses literatur- und kulturhistorisches Werk "Der Wald. Eine literarische Wanderung", mit dem sie der Natur des Waldes ein Denkmal setzte. Auch die ärmlichen Verhältnisse Nordschwedens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert klingen noch einmal an, denen sich Ekman in ihrer verzweigten Familiensaga "Am schwarzen Wasser" widmete, und damit auch der typische Ekman-Sound.
"Die Kinder sind Krebsscheren, die mit ihren Nabelsträngen im Schlamm unten auf dem Grund leben. Hoch über ihrem Versteck rauschen der Sozialismus und die Abstinenzbewegung, die Frömmigkeitsbewegung und die Kriege. Die Kinder leben in seichten und stehenden Gewässern, ja, in Teichen und Gruben, und sie wähnen sich möglicherweise geschützt, weil ihr wahres Leben nicht zu sehen ist. Nur eben von dem, was da oben rauscht, wissen sie nichts, und deshalb können sie aus ihrem lauen Schlamm herausgezogen und erschlagen oder vergast werden."
Beim Ausweiden eines Lachses erfahren die Frauen, dass Lillemor Troj in die Schwedische Akademie gewählt wurde. Ekman selbst war eine der ersten weiblichen Mitglieder des Nobelpreiskomitees, und von diesen Erfahrungen leben die erfrischenden Szenen, die einen Einblick in die Arbeit der Jury der wichtigsten literarischen Auszeichnung der Welt vorgaukeln. Ekmans Erfahrungen sind allerdings völlig andere als die, die ihre Heldin Lillemor Troj macht. Ekmans Stuhl in der Akademie ist seit Jahren unbesetzt. Sie verweigerte die Mitgliedschaft, als sich die Akademie im Fall der Fatwa gegen Salomon Rushdie nicht deutlich genug positionierte. Troj dagegen fühlt sich in der Akademie zu Hause. Sie mag das Weltentrückte, das Altmodische, das unkritische Beisammensein der Auserwählten. Von schlechten Rezensionen und nörgelnden Lesern geplagt, scheint ihr die Akademie wie eine zeitlose Glocke, in die man flüchten kann.
"Langsam ziehen sie in den Versammlungsraum ein. Lillemor bleibt ein wenig zurück, denn sie muss noch ihr Hörgerät einschalten. Hier ist man ihr stets mit Liebenswürdigkeit begegnet. Auch den Greisen wird Achtung zuteil, denn die Atmosphäre ist schonungsvoll. Man macht einander Komplimente für das, was zuletzt in Schriftform erschienen ist oder an dem Rednerpult in Gold und Weiß drüben im Börsensaal gesagt wurde. Sie geht zu dem weißen, mit blauem Samt bezogenen Lehnstuhl, der ihr Platz ist. Der Direktor eröffnet jetzt mit überaus leichtem Hammerschlag die Versammlung. Die Tagesordnung umfasst viele Punkte, und der Preis kommt zuletzt. Der Sekretär erhält das Wort und verliest die Aufzeichnung. So wird das Protokoll genannt und immer genannt werden. Wie so oft verliert Lillemor während dieser Verlesung den Faden und versinkt in einen außerweltlichen Dämmerschlaf. Sie ist damit nicht allein. In dem fahlen Licht, das die Kristalllüster verbreiten, sehen mehrere wie schlafende Robben auf einer Eisscholle aus."
Skurril, spannend, anrührend und voller weiser Sätze ist dieses Finale einer Schriftstellerin, deren Romane ein halbes Jahrhundert schwedischer Literatur mit geprägt haben. "Das große Finale in der Schwindlerbranche", wie der Titel im Schwedischen so treffend lautet und wovon die deutsche Version leider nur ein schwacher Abglanz ist, ist die äußerst vergnügte Abrechnung einer Autorin mit dem menschlichen Theater, auf das sie zurückblickt, was sie so einfach wie treffend zusammenfasst:
"Irgendwie ist die Vergangenheit besser. Sie ist zumindest vorbei."
Literaturhinweis: Kerstin Ekman: Schwindlerinnen. Piper Verlag, 368 S., 22,99 Euro
"Babba hat über Autobiografien immer höhnisch gelacht und gesagt, am wenigsten wahr seien sie in den Beschreibungen des eigenen Scheiterns. Selbstkritische Koketterie hat sie das genannt. Und jetzt hat sie selbst eine geschrieben."
Lillemor Troj, eine 79 Jahre alte Schriftstellerin, erfährt von ihrem Lektor, dass jemand einen Roman über sie geschrieben hat, der die intimsten Details ihres Lebens enthüllt. Der Lektor hält es für eine Autobiografie, die Troj unter Pseudonym einem anderen Verlag schickte. Nur sie weiß, dass das nicht sein kann. Sie hat noch nie selbst einen Roman geschrieben. Das ist das Geheimnis ihres Lebens. Ihre Romane wurden alle von Barbro Andersson verfasst. Barbro hatte zu Studienzeiten einen Deal mit Lillemor Troj gemacht: Barbro würde die Bücher schreiben, Lillemor würde Name und Foto und ihre Person für öffentliche Auftritte zur Verfügung stellen. Und nun will diese Barbro Andersson unter ihrem eigenen Namen einen Roman über Lillemor veröffentlichen, in dem dieses Geheimnis gelüftet wird, als Rache für eine Demütigung.
Beinahe ihr ganzes Leben sind die beiden Frauen durch eine perfekte Symbiose aneinandergeschmiedet; während die eine unansehnlich ist und weder Geschmack für Kleidung noch Sinn für Höflichkeiten besitzt, aber einen klaren, kritischen Verstand und einen rauschhaften Zugang zur Sprache, versteht sich die andere auf Etikette, Mode und Small Talk und besitzt den fürs Korrigieren und Lektorieren notwendigen analytischen Sprachzugang. Damit sind auch die zwei Seiten einer Schreibenden charakterisiert; die weltgewandte öffentliche Person und die menschenscheue, einsame. Die Autorin der Lesungen, Fernsehauftritte und Zeitungsinterviews auf der einen und die unkorrumpierbare, von Lob und Kritik unabhängig Schaffende auf der anderen Seite, diejenige also, die Joan Didion, die große amerikanische Autorin in Ekmans Alter, meint, wenn sie sagt: Schriftsteller lassen das Beste von sich am Schreibtisch zurück.
"Als Kind hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass Bücher von einer speziellen Person geschrieben werden. Bücher waren Welten. Die gab es eben. Nun wusste ich es besser, aber die entscheidende Erkenntnis, was eine Schriftstellerin war, hatte mir der Abend im Volkshaus beschert. Das war eine, die im Volkshaus stand, die mit schriller Stimme sprach und rauchte. Und dann war da eine andere, die verhext über rauchende Frauen und deren seltsames Leben schrieb. Ich dachte natürlich nicht im Traum daran, Schriftstellerin zu werden, aber mir war jetzt klar geworden, dass das Monster zwei Köpfe hat."
Aus dem schriftstellerischen Zwiespalt, der sich in Gestalt zweier Frauen ausdrückt, gewinnt der Roman seine Spannung. Barbros und Lillemors Ansichten sind so konträr, dass sich im Aufeinanderprallen die ganze Skurrilität des scheinbar Normalen offenbart, ob es um die jahrelange Hörigkeit der kleinen Leute gegenüber der schwedischen Sozialdemokratie geht, um ein Wort wie Umwelt, das irgendwann das Wort Natur ersetzte, oder um die Literaturbranche. Anlass für den Deal zwischen Barbro und Lillemor ist eine chauvinistische Grundstimmung, in der die Sexyness einer jungen Autorin mehr gilt, als das, was sie schreibt. Weil das Mädchen fotogen ist, kommt es ins Blatt, so lautet die Haltung der Jury, die Lillemor den ersten Preis in einem Lucia-Geschichten-Wettbewerb verleiht. Lillemors ansehnliches Foto steht über einem Text, den die grobschlächtige Barbro geschrieben hat.
"Lillemor sieht zehn Lucia-Kandidatinnen in weißer Bluse und engem schwarzen Rock im Gänsemarsch hereinkommen und auf einem Podium Aufstellung nehmen. Einige waren hübscher als sie. Aber keine war so sehr der Lucia-Typ wie ich, denkt sie. Das hatte sie den Komplimenten entnommen, die man ihr machte. Zu Kaffee, Likör und Cocktails kamen die Herren der Jury wieder heraus, und da erhielten die Kandidatinnen recht handfeste Komplimente. Lillemor legte jedoch keiner die Hand auf den Po."
Dass es ausgerechnet ein Lucia-Wettbewerb ist, mit dem Lillemors literarische Karriere beginnt, ist eine von vielen ironischen Anspielungen in diesem Roman. Lucia ist eine zentrale mythische Gestalt im kollektiven schwedischen Bewusstsein, deren Deutungen von religiösem Lichtwesen bis hin zum weiblichen Mordopfer reichen. Die Lucia-Nacht vor Weihnachten ist neben der Walpurgisnacht und Mittsommer das wichtigste gesellschaftliche Ereignis. Lillemor ausgerechnet als Lucia-Typus zu entwerfen, ist eine ironische Überhöhung der Rolle der Schriftstellerin und ein Spiel damit, wie nah Dichterbilder am Mythos sind. dass sie sich immer aus anderen Dichterbildern speisen, zeigt sich wiederum darin, dass Lillemor die gleichen Klamotten trägt wie Nelly Sachs.
Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Ursprung eines Textes, seiner Originalität. Der alte Gedanke des aus sich selbst heraus schöpfenden Genies wird von Ekman verworfen, allerdings nicht im foucaultschen Sinne einer Autorfunktion, in der sich Diskurse bündeln. Ekman entwickelt den Gedanken einer Zweiheit, wie ihn Gertrude Stein zum ersten Mal in ihrer "Autobiographie von Alice B. Toklas" entworfen hatte. Das Schreiben braucht den Umweg über die andere, es realisiert sich erst am Ort der Anderen. Die Frage nach dem Ursprung beginnt zu irrlichtern, wenn die eigene Stimme sich als Autobiografie einer anderen Person äußert. Ekman hat dieses Irrlichtern gekonnt in Szene gesetzt: Lillemor liegt mit zunehmender Beunruhigung im Bett, während sie Barbros Manuskript durchgeht und ihr eigenes Leben szenisch vor dem inneren Auge abläuft. Denn Barbro, die Autorin, hat dieses Leben erst als sinnstiftende Geschichte entworfen. Zur Autobiografie wird sie dadurch, dass Lillemor das Gelesene wieder erlebt und im Erinnern vervollständigt.
Das metaphorische Spiel um Wahrheit und Fiktion wird auf der Folie handfester Biografien betrieben, mit denen Ekmann die beiden Frauen ausstattet. Barbro kommt aus der Arbeiterklasse, der Vater arbeitete im Sägewerk, die Mutter in einer Bäckerei, zu Hause wird die sozialdemokratisch geprägte Literaturauswahl der örtlichen Leihbücherei gelesen. Lillemor entstammt dem bürgerlichen Milieu, einer Unternehmerfamilie, die Kunststoffboote verkauft. Lillemors erster Ehemann ist der Nachkomme eines Generals. Barbros zweiter Geliebter der Sprössling einer Bauernfamilie aus einer verarmten, aufgegebenen Gegend, der Finnmark. Plastisch lässt Ekman die unbeholfene, aber rechtschaffene Welt des "Volksheim" mit der der Bessergestellten und ihrer Idee kollidieren, schwedisches Gutmenschentum in den Rest der Welt zu exportieren. Ganz nebenbei wird das Schweden der letzten Jahrzehnte anschaulich und immer wieder satirisch kommentiert. Und alles unterliegt der Perspektive der Schreibenden. Lillemor, die Autorin der öffentlichen Auftritte, hat die Welt gesehen. Barbro, die Schreibende, bleibt zu Hause. Das Schreiben wurzelt laut Ekman also in der eigenen Herkunft.
"Babba hat ihres Wissens keine andere Welt als die um sich herum erlebt, in die sie hineingeboren wurde und an der sie sich festbiss. Keine Wiederaufbauarbeit im Nachkriegseuropa gemeinsam mit idealistischen Jugendlichen. Kein amerikanisches College mit einem Hauch von gemäßigtem Linksliberalismus. Kein Kibbuz mit Apfelsinenanbau, kein chinesisches Dorf mit haufenweise schlappen Kohlpflanzen. Babba ist zutiefst und hoffnungslos provinziell. Das Einzige, wovon Babba etwas weiß, ist unsere alte Kultur. Aber auch die ist mit Ausnahme von Swedenborg und Linné provinziell. Und hätte sie sich ohne mich überhaupt je um Linné gekümmert, denkt Lillemor."
So lebendig, witzig und anrührend wie Ekman das intime Verhältnis der beiden Frauen schildert, ist ihr, und auch das ist erstaunlich, ein queerer Roman gelungen. Die Männer kommen und gehen - ein verhinderter, egomaner Akademiker und ein bisexueller, steifer Schulleiter in Lillemors Fall, ein bankrotter Schweinezüchter und ein trinkfester, Geige spielender Straßenmusikant in Barbros Fall. Das Verhältnis der Frauen überdauert bis zum Schluss, als das Manuskript das Schweigen aufbricht, das eine Weile zwischen ihnen herrschte. Sie verbindet eine Anziehung, die im künstlerischen Schaffen und im Erfolg fußt. Das äußert sich mal in fiebriger Begeisterung und ansteckender Leidenschaft, mal in Unverständnis und Misstrauen, in Sehnsucht oder Überdruss, und nur einer der Männer hat überhaupt eine Ahnung davon. Liest man diesen Roman als queeren Text, eröffnet sich ein subversives Spiel, bei dem viele Äußerungen einen doppelten Boden gewinnen.
"Muss unser Verhältnis, das vielleicht nicht so leicht erklärbar ist, eine Lüge sein? Wird es eine Lüge, dass wir einander brauchen, nur weil wir es niemandem erzählen? Dass etwas verborgen ist, heißt nicht unbedingt, dass es unwahr oder falsch ist. Wird denn etwas dadurch wahr, dass es öffentlich wird?"
Die Milieu-und Menschenstudien Ekmans zeugten schon immer von einem genauen Blick und großer Menschenkenntnis. Hier sind sie auf mitfühlende Weise überzogen, ins Schräge gerückt. Die Figuren strotzen vor Leben wie die Figuren eines Volkstheaters, als hätte Ekman eine unbändige Lust am Absurden überkommen und die Sprache laufen lassen. Die inneren Monologe der beiden Hauptfiguren sind gefüttert mit verrückten Ideen, schnellen Dialogen und aberwitzigen Abschweifungen, die ihre Komik nicht zuletzt aus dem Gegensatz gewinnen, dass es sich um zwei alte Damen handelt, die in jugendlichem Tempo denken und reden. Ein Tempo, mit dem die Übersetzung von Hedwig M. Binder leider nicht immer mithalten kann. "Was ist so schlecht an Unterhaltung" lässt Ekman ihre Heldin Barbro provokant fragen.
"Ich schrieb das Buch über einen Mord unter den pietistischen Laestadianern. Es war kein gewöhnlicher Krimi, denn diese Chose hatte ich allmählich leid. Lillemor gefiel die Idee gar nicht, ihr waren sowohl Moore als auch die Menschen dort zuwider. Grau, meinte sie, durch und durch grau. Absolut nichts für einen Krimi, nicht mal für einen normalen Roman. Ich sagte, Geschichten seien Sprache, keine Wirklichkeit: 'Und du kannst nicht behaupten, dass meine Sprache grau ist.' Widerstrebend schrieb sie den Text ins Reine und stocherte im Grau. Sie begriff nicht, dass meine Sprache, falls sie denn grau war, so grau war wie die Bartflechte in den Fichten und der Morgennebel über dem Fluss, in dem die Leiche versenkt wurde. Lillemor hütetet sich zu klagen, war aber nervös. Sie meinte, es könne unser Ende bedeuten, wir seien in diesem Grau hängen geblieben und die Kritiker würden uns aus Langeweile töten, ungefähr so, wie man eine Blattlaus knackt, die sich zwischen Buchseiten verirrt hat. Doch es wurde ein Erfolg."
Barbro und Lillemor sind Konzentrate aus Ekmans eigenem Leben und dem Leben ihrer Romanfiguren. Das Fiktionale ragt ins Biografische hinein, Biografisches wird fiktionalisiert. Das literarische Umfeld der Heldinnen wie Stendhal, Thomas Mann, Proust, die Lyrikerin Karin Boye oder der Romancier Hjalmar Söderberg entspricht ohne Zweifel dem der Autorin. Söderberg widmete Ekman einen ganzen Roman, in dem sie auf sein wichtigstes Buch "Doktor Glas" Bezug nahm. Ebenso gibt Ekmans eigene Werkgeschichte den Hintergrund für diese autobiografische Fiktion ab. Am Beispiel von Barbros Eltern wird die Vallmsta-Tetralogie über die industrielle Entwicklung einer mittelschwedischen Kleinstadt aufgerufen. Lillemors restreligiöse Kirchbesuche spielen auf Ekmans Roman über einen Pfarrer in einer entlegenen Gemeinde an. Die Hunde erinnern an Ekmans Novelle "Hundeherz". Und der Wald spielt eine Rolle, seine Schönheit, seine Ausbeutung. Lillemor liebt es, durch die Wälder zu streifen und zu botanisieren, eine Referenz an Ekmans grandioses literatur- und kulturhistorisches Werk "Der Wald. Eine literarische Wanderung", mit dem sie der Natur des Waldes ein Denkmal setzte. Auch die ärmlichen Verhältnisse Nordschwedens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert klingen noch einmal an, denen sich Ekman in ihrer verzweigten Familiensaga "Am schwarzen Wasser" widmete, und damit auch der typische Ekman-Sound.
"Die Kinder sind Krebsscheren, die mit ihren Nabelsträngen im Schlamm unten auf dem Grund leben. Hoch über ihrem Versteck rauschen der Sozialismus und die Abstinenzbewegung, die Frömmigkeitsbewegung und die Kriege. Die Kinder leben in seichten und stehenden Gewässern, ja, in Teichen und Gruben, und sie wähnen sich möglicherweise geschützt, weil ihr wahres Leben nicht zu sehen ist. Nur eben von dem, was da oben rauscht, wissen sie nichts, und deshalb können sie aus ihrem lauen Schlamm herausgezogen und erschlagen oder vergast werden."
Beim Ausweiden eines Lachses erfahren die Frauen, dass Lillemor Troj in die Schwedische Akademie gewählt wurde. Ekman selbst war eine der ersten weiblichen Mitglieder des Nobelpreiskomitees, und von diesen Erfahrungen leben die erfrischenden Szenen, die einen Einblick in die Arbeit der Jury der wichtigsten literarischen Auszeichnung der Welt vorgaukeln. Ekmans Erfahrungen sind allerdings völlig andere als die, die ihre Heldin Lillemor Troj macht. Ekmans Stuhl in der Akademie ist seit Jahren unbesetzt. Sie verweigerte die Mitgliedschaft, als sich die Akademie im Fall der Fatwa gegen Salomon Rushdie nicht deutlich genug positionierte. Troj dagegen fühlt sich in der Akademie zu Hause. Sie mag das Weltentrückte, das Altmodische, das unkritische Beisammensein der Auserwählten. Von schlechten Rezensionen und nörgelnden Lesern geplagt, scheint ihr die Akademie wie eine zeitlose Glocke, in die man flüchten kann.
"Langsam ziehen sie in den Versammlungsraum ein. Lillemor bleibt ein wenig zurück, denn sie muss noch ihr Hörgerät einschalten. Hier ist man ihr stets mit Liebenswürdigkeit begegnet. Auch den Greisen wird Achtung zuteil, denn die Atmosphäre ist schonungsvoll. Man macht einander Komplimente für das, was zuletzt in Schriftform erschienen ist oder an dem Rednerpult in Gold und Weiß drüben im Börsensaal gesagt wurde. Sie geht zu dem weißen, mit blauem Samt bezogenen Lehnstuhl, der ihr Platz ist. Der Direktor eröffnet jetzt mit überaus leichtem Hammerschlag die Versammlung. Die Tagesordnung umfasst viele Punkte, und der Preis kommt zuletzt. Der Sekretär erhält das Wort und verliest die Aufzeichnung. So wird das Protokoll genannt und immer genannt werden. Wie so oft verliert Lillemor während dieser Verlesung den Faden und versinkt in einen außerweltlichen Dämmerschlaf. Sie ist damit nicht allein. In dem fahlen Licht, das die Kristalllüster verbreiten, sehen mehrere wie schlafende Robben auf einer Eisscholle aus."
Skurril, spannend, anrührend und voller weiser Sätze ist dieses Finale einer Schriftstellerin, deren Romane ein halbes Jahrhundert schwedischer Literatur mit geprägt haben. "Das große Finale in der Schwindlerbranche", wie der Titel im Schwedischen so treffend lautet und wovon die deutsche Version leider nur ein schwacher Abglanz ist, ist die äußerst vergnügte Abrechnung einer Autorin mit dem menschlichen Theater, auf das sie zurückblickt, was sie so einfach wie treffend zusammenfasst:
"Irgendwie ist die Vergangenheit besser. Sie ist zumindest vorbei."
Literaturhinweis: Kerstin Ekman: Schwindlerinnen. Piper Verlag, 368 S., 22,99 Euro