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Unbeantwortete Frage

In den Umfragen dümpelt die SPD deutlich unterhalb der Marke von 30 Prozent. Haben die Sozialdemokraten überhaupt eine Chance, nach den Wahlen im Herbst wieder Regierungsverantwortung zu tragen? Eine Antwort auf diese Frage verspricht Daniel Friedrich Sturm, der Parlamentskorrespondent der Zeitung „Die Welt“ in Berlin.

Von Sabine Adler |
    Mit dem mäßigen Charme einer zu dick geratenen Parteibroschüre ist das Werk aufgemacht und ebenso vorhersagbar scheint der Inhalt auf den ersten Blick zu sein. In der ersten Hälfte der rund 480 Seiten wird eine Zeit der mittlerweile 146 Jahre alten Partei untersucht, die zu kurz zurückliegt, um schon vergessen zu sein, über die aber vor allem hinlänglich und mehrfach geschrieben worden ist: die rot-grüne Regierungsperiode. Wer diesen ersten Teil nicht einfach überblättert, sondern es genau und noch einmal wissen möchte, wird neben einem minutiösen Ablauf der Ereignisse mit zum Teil sehr ausführlichen Schilderungen belohnt, wer in der SPD mit wem aus welchem Grund überkreuz liegt oder Seit an Seit marschiert, die Hackordnung anführt oder abgeben musste. Er erfährt, wann sich selbst gefürchtete Alphatiere – Stichwort Lafontaine, Schröder – ins Rudel zurückziehen mussten, weil sich ein neuer Anführer nach oben gekämpft hat oder geschoben wurde, beispielsweise Platzeck, Beck, Müntefering, Steinmeier. Im Sommer wird der jahrelang undenkbare Fall eintreten, dass Ex-Kanzler Gerhard Schröder dem Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier, seinem „Mein-mach-mal“, der „grauen Effizienz“, zuarbeitet. Der Autor ist überzeugt davon.

    „Ich glaube schon, dass Schröder dann den für ihn wichtigsten Mann in der SPD fragen wird, und das ist Steinmeier, wie umfangreich soll ich mich einbringen. Und ich glaube zum Beispiel, dass es gemeinsame Veranstaltungen von Steinmeier und Schröder, große Kundgebungen auf großen Plätzen dieses Landes nicht unbedingt geben wird, weil dann die Frage nach dem Vergleich Steinmeier- Schröder, wer hat die bessere Rede gehalten, zu Ungunsten Steinmeiers ausginge.“
    Daniel Sturm, der schon seine Doktorarbeit über die SPD, speziell ihr Verhältnis zur DDR während der Wende schrieb, nimmt in seinem Buch die zum Teil regional organisierten Männerbünde unter die Lupe, die häufig entscheidend waren für Aufstieg oder Fall der Mitspieler. Zum Beispiel von Franz Müntefering, dem heutigen SPD-Chef. Der entstammte dem Kabinett des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und SPD-Vorsitzenden Johannes Rau und kam damit aus dem strukturkonservativsten Teil der Partei, wie Daniel Friedrich Sturm schreibt. Der Autor gibt zu, dass dem alten Fuchs Müntefering noch eine Überraschung gelungen ist. Nämlich, als er zu Beginn der Koalitionsverhandlungen 2005 rücksichtslos nach der Macht griff, indem er sich selbst als Vizekanzler ins Spiel brachte, wissend, damit einen Kanzler Schröder nicht mehr durchsetzen zu können. Damit schob er Schröder, noch ehe der selbst darüber nachgedacht hatte, ins politische Abseits, die Große Koalition würde ohne ihn stattfinden.

    „Müntefering ist wirklich ein mit allen Wassern gewaschener Politiker. Ich glaube, das weiß auch Frau Merkel. Müntefering ist skrupellos, Müntefering sieht Herbert Wehner als sein Vorbild. Und Wehner war ja auch ein sehr brutaler Machtpolitiker. Er hat ja seinerzeit auch Brandt dann fallen lassen, auch wie eine heiße Kartoffel. Und, ich glaube, dass Müntefering schon ein sehr, sehr kluger Machtpolitiker ist, ein Machtpolitiker mit sehr viel Instinkt und ich kann mir vorstellen, dass er im Fall der Fälle auch Steinmeier fallen lassen könnte.“
    In Münteferings Heuschrecken-Warnung sieht Sturm visionäre Ansätze des gegenwärtigen Parteivorsitzenden.

    „Er will die SPD in der Regierung haben, das ist glaube ich bei ihm klarer als bei anderen. Der berühmte Satz „Opposition ist Mist“ und was das Verhältnis von Politik und Wirtschaft angeht, hat er, glaube ich, schon klare Vorstellungen. Primat der Politik ist ja ein Wort, was in seinen Reden immer wieder vorkommt, aber auch andere Bereiche, wie jetzt zum Beispiel die Rente mit 67 thematisiert, das Thema Ehrenamt, das Thema Erwerbsleben und so weiter.“

    Der einstige Arbeits- und Sozialminister, der für die Pflege seiner todkranken Frau sein Regierungsamt niedergelegt hatte, kehrte erneut an die Spitze der Partei zurück, als Kurt Beck zurücktrat. Aus Resignation wegen der ständigen Anfeindungen aus der eigenen Partei, an denen Müntefering, damals Vizekanzler, gehörigen Anteil hatte. Beide sind ähnlich unberechenbar und hatten einander nichts geschenkt, Beck wilderte wiederholt im Revier des Arbeits- und Sozialministers, trug Zwischensiege davon bevor er am Ende doch unterlag. Müntefering, nicht Beck, wird nun die Truppe in den bevorstehenden Wahlkampf führen, wohl wieder als Partei der Gerechtigkeit. Auch wenn die Umfragewerte noch immer bei 25 bis 28 Prozent dümpeln, bescheinigt der SPD-Experte der neuen Führung, die Partei konsolidiert zu haben.

    Daniel Sturm, der seit 2005 als Hauptstadtkorrespondent der Tageszeitung „Die Welt“ für die SPD zuständig ist, legt den Schwerpunkt auf die mehr als zehn Jahre Regierungsbeteiligung der SPD, geht punktuell aber noch vor diese Zeit zurück, wenn er zum Beispiel erklärt, warum die Genossen viele Jahre lang ausgerechnet in Oskar Lafontaine die Seele der Partei sahen, ihn unseren Oskar nannten. Während Gerhard Schröder immer nur Schröder blieb, es scheiterte, Frank Walter Steinmeier auf Frank zu verkürzen. Auch wenn beim Streit über das Verhältnis zur Linkspartei und dem SPD-Intimfeind Lafontaine derzeit Sendepause zu herrschen scheint, so dürfte das allein dem Wahlkampf und der damit selbstauferlegten Disziplinierung in der SPD geschuldet sein. Fertig sind die Genossen mit der Linkspartei noch lange nicht, prophezeit Daniel Sturm:

    „Ich bin auch sicher, dass die beiden Parteien schon in den nächsten Jahren, mittel- bis langfristige Schritte aufeinander zugehen werden. Das hängt sehr davon ab, ob sich die Linken in der Linkspartei, also die Westdeutschen, da eher durchsetzen oder eher die Pragmatiker, also die Ramelows, die Bartschens oder wie sie alle heißen, und ansonsten kann ich es mir gut vorstellen, dass mittel- oder langfristig sogar eine Fusion zwischen Linkspartei und der SPD stattfindet oder sagen wir eher, zwischen der SPD und der Linkspartei.“
    Sturm bietet noch einen anderen Erklärungsversuch dafür, warum das Thema Linkspartei derzeit nicht schmerzt:
    „Das ganze Land rückt ja nach links und die Union rückt ja auch ganz kräftig nach links. Das ist schon interessant. und ich glaube, dass das einfach mit der Krise und mit den Reaktionen auf die Krise zusammenhing. Ich glaube, die SPD könnte jetzt nicht mehr ernsthaft über die Agenda 2010 streiten. Das ist jetzt einfach dann auch Zeitgeschichte, muss man sagen. Und da hat sich jetzt durch die Krise doch etwas in den Vordergrund geschoben, was diese Diskussion im Grunde auch beendet hat, was der SPD ja erkennbar gut tut.“
    Es entsteht ein detailreiches oder – weniger freundlich ausgedrückt – kleinteiliges Bild, das die Tagespolitik nachzeichnet und mit Porträts der Akteure angereichert wurde. Dem aufmerksamen Beobachter politischen Geschehens wird wenig Neues geboten, wohl aber ist die Rückschau flüssig geschrieben und in jedem Fall ein fundierter Beitrag für das politische Gedächtnis. Wer immer mal auf ein „Who is who?“ der SPD zurückgreifen wollte, ist mit Sturms solide recherchiertem Buch gut bedient. Wohin geht die SPD? – diese im Buchtitel gestellte Frage allerdings versucht eine Antwort erst auf den allerletzten elf Seiten. Drei Szenarien von 2009 bis 2013 werden entwickelt: Die SPD in einer Ampelkoalition mit Grünen und FDP im Bund und zusätzliche rot-rote Länderregierungen. Zweitens: Die Fortführung der Großen Koalition und drittens ein Jamaika-Bündnis aus CDU, FDP und Grünen mit Steinmeier als Oppositions-Fraktionschef und Andrea Nahles als SPD-Vorsitzender. SPD-Generalsekretär Gabriel bereitet Fusionsgespräche mit der Linken vor. Diese letzte Version ist die fantasiereichste und amüsiert zweifellos am meisten, doch da ist das Buch zu Ende. Wohin die SPD geht, hat es definitiv nicht gesagt. Wer aber wissen will, wer die SPD führte und führt, wird nicht enttäuscht. Vielleicht hätte der Autor länger mit dem Verlag über den Buchtitel verhandeln sollen.

    Ein Blick voraus in die Zukunft der SPD, der eher zu einem Blick zurück geraten ist: Sabine Adler über Daniel Friedrich Sturm und sein Buch: Wohin geht die SPD? Erschienen sind die 480 Seiten im Deutschen Taschenbuch Verlag. Sie kosten Euro 16,90.