Hauptbahnhof Gießen, Gleis zwei. Ich bin auf dem Bahnsteig mit Hamse Abdirahman verabredet. Wir wollen gemeinsam von Gießen über Marburg nach Biedenkopf ins hessische Hinterland fahren. Im Zug will mir der junge Flüchtling aus Somalia seine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines unbegleiteten Minderjährigen, der seine von einem Bürgerkrieg geplagte Heimat verlassen hat. Hamse ist oft traurig, wenn er an seine Familie in Afrika denkt:
"Ich muss ehrlich sagen, es ist nicht so einfach, wenn jemand von seiner Familie weggeht. Es ist nicht einfach."
Es ist kalt und zugig auf dem Gleis zwei. Genauso kalt war es im Februar 2013, als Hamse Abdirahman in Gießen ankam. Damals war er 17 Jahre alt. Eine monatelange Flüchtlingsodyssee lag hinter ihm. Aus einer somalischen Kleinstadt ging es mit Hilfe von Schleppern über Moskau in die Ukraine. Dort musste Hamse sechs Monate im Gefängnis sitzen, weil er keine Papiere hatte.
"War sehr schlimm eigentlich. War sehr, sehr schlimm. Du kommst hierhin und dann gehst du einfach in den Knast. Du weist auch nicht, wie lange es dauert. Du hast keine Chance."
Seine Betreuerin sagt ihm: Nicht aufgeben
Nach seiner Entlassung geht es weiter nach Westen. Hamse Abdirahman will nach England. Doch die Schlepper bringen ihn an eine Grenze, an der ein Schild mit einem "D" steht. Dass es Deutschland ist, wo er landen wird, ist ihm auch diesem Moment nicht klar. Deutschland – da hätte Hamse ein "G" an der Grenze erwartet. G für Germany. Aber wofür steht das "D?"
"Damals – ich kannte es nicht. Und bei uns in Somalia wir lernen ein bisschen Englisch. Und dann habe ich gedacht, es ist einfacher, wenn es noch ein bisschen weitergeht."
Doch statt in England landet Hamse in Gießen. Direkt am Bahnhof gibt es ein Heim für unbegleitete Minderjährige. 18 Monate bleibt Hamse dort – ein großes Glück, sagt er heute. Denn er findet eine Betreuerin, die ihm immer wieder sagt: nicht aufgeben. Auch, als er einen Ausbildungsplatz in der mittelhessischen Kleinstadt Biedenkopf bekommt. Eine Gegend am Oberlauf der Lahn, die auf einen Jugendlichen aus Somalia auf den ersten Blick ziemlich befremdlich wirkt.
"Am Anfang habe ich gedacht – nein hier? Ich bleibe vielleicht nur einen Monat hier, dann muss ich weggehen."
Dealende Flüchtlinge: "Der größte Fehler ist, die haben Zeit"
Hamsi Abdirahman beißt sich durch. Bleibt in dem Biedenkopfer Kunststoffbetrieb, in dem er einen Ausbildungsplatz als Verfahrensmechaniker erhält. Das Europabild, das viele junge Afrikaner haben, sei unrealistisch, betont er:
"Bei mir auch. Ich habe gedacht, es ist alles einfacher. Wir hören nur: Europa. Europa. Wenn du hier hinkommst, ist alles anders. Wir müssen hart arbeiten, nicht aufgeben, richtig was machen."
Der junge Somalier erzählt, dass er die jungen Flüchtlinge wahrnimmt, die an den Bahnhöfen – vor allem im nahen Frankfurt am Main – Drogen verkaufen.
"Wenn man beschäftigt ist, dann hat man keine Zeit für so was. Wenn man zur Schule geht oder arbeiten, dann haben die keine Zeit für so was. Der größte Fehler ist, die haben Zeit. Ich glaube, deswegen."
Manchmal, so sagt Hamse, spricht er auch mit den jungen Dealern und fragt sie, warum sie nicht versuchen, einen Arbeitsplatz zu finden. Denn Arbeit gibt es zumindest in Mittelhessen mehr als genug, das weiß Hamse, seitdem er seinen Ausbildungsplatz hat. Jetzt ist er im dritten Lehrjahr. Die Gesellenprüfung ist im Mai.
Whatsapp-Gruppe hilft gegen Heimweh
"Das Team der Kurhessenbahn begrüßt sie ganz herzlich auf der Fahrt von Marburg an der Lahn nach Erndtebrück über Sterzhausen, Friedensdorf, Biedenkopf, Bad Laasphe."
Eine halbe Stunde lang geht es längs der Lahn durch eine schöne Mittelgebirgslandschaft. Als der Zug in Biedenkopf einläuft, spricht der junge Somalier Hamse Abdirahman von Heimatgefühlen:
"Wenn ich höre 'Biedenkopf' – dann denke ich, endlich zuhause!"
Mit seinen alten Freunden zuhause hält er die Verbindung über eine Whatsapp-Gruppe. Man führt ein kollektives, digitales Tagebuch. Das hilft gegen Heimweh. Seine Mutter ist schwerer zu erreichen. Sie hat keinen Internet-Anschluss.
"Nächster Halt: Biedenkopf."
Hamse freut sich: Kein religiöser Fanatismus in Biedenkopf
Ankunft in Biedenkopf. Vom Bahnhof am Schulzentrum gehen wir eine Viertelstunde zu Fuß zum Wohnhaus von Hamse Abdirahman. Er lebe gemeinsam mit einem jungen Eritreer in einer Werkswohnung des Kunststoffbetriebs, in dem er seine Ausbildung bekommt.
"Putzen müssen wir teilen und wir kochen manchmal zusammen."
Es ist ein altes, aber sorgfältig renoviertes Backsteinhaus am Rande von Biedenkopf, in dem Hamse nun lebt. Er kann sich auch vorstellen, nach dem Ende der Ausbildung im Mai in Mittelhessen zu bleiben – wenn er hier eine Familie gründen kann. Hamse Abdirahman ist gläubiger Moslem – aber es freut ihn sehr, dass es in Biedenkopf keinen religiösen Fanatismus gibt. Die Ruhe hier tut ihm sehr gut, sagt er.
"Dann habe ich meine Schule angefangen, Leute kennengelernt, meine Ausbildung angefangen. Dann habe ich entschieden – einfach hierbleiben."
Nach einem Tee in seiner Küche will Hamse mich unbedingt zurück durch die kalte Nacht im hessischen Hinterland zurück zum Bahnhof begleiten. Das sei Teil der somalischen Kultur, sagt er. Wenn jemand ein Gast war, bringt man ihn zurück auf den Weg.
Sein Weg, sagt der inzwischen längst volljährige Somalier, führt ihn erst mal weiterhin regelmäßig zu seinem Kunststoffbetrieb am anderen Ende der Kleinstadt. Und in seiner Freizeit nach Gießen. Nach Somalia kann und will er erst einmal nicht zurück, obwohl seine Mutter noch dort lebt. Doch manchmal träumt er davon, seine Familie zum Beispiel in Kenia bald einmal wiedersehen zu können.
Du brauchst immer den Vater, deine Mama, deinen Bruder. Aber alleine zu leben, des ist nicht so einfach.