Unser Leben besteht aus einer Abfolge von Wohnungen vom Geburtshaus bis zur letzten Ruhestätte, vom ersten Ein- bis zum finalen Auszug. Auf lange Sicht kann man sich sogar fragen, ob wir Menschen überhaupt noch die Protagonisten sind. Oder sind es vielleicht doch die Wohnungen, die ihren Lebensrhythmus dadurch erhalten, uns nacheinander ein- und auszuatmen? Insofern ist es nur konsequent, wenn der italienische Autor, Andrea Bajani, der selbst vor einiger Zeit nach Houston Texas umgezogen ist, jetzt ein „Buch der Wohnungen“ geschrieben hat. Wohnungsprosa klingt allerdings durchaus schräg:
„Wörterwohnung, 2010
Sie ist knapp einen Kilometer von der Familienwohnung entfernt, jenseits des Hauptbahnhofs von Turin. Jeden Morgen verlässt Ich das Haus, durchquert die Bahnhofshalle und begibt sich in die Wörterwohnung.“
Sie ist knapp einen Kilometer von der Familienwohnung entfernt, jenseits des Hauptbahnhofs von Turin. Jeden Morgen verlässt Ich das Haus, durchquert die Bahnhofshalle und begibt sich in die Wörterwohnung.“
Wörter- und Familienwohnung sind nur die ersten beiden ihrer Art. Bajani versammelt einen Wust an Wohnungen, die er zu den Titeln seiner insgesamt 78 Romankapitel kürt.
„Souterrainwohnung, Ofenwohnung, Wohnung unter den Bergen, Verwandtenwohnung, Sexwohnung, Schrankwohnung, Matratzenwohnung.“
Erschöpfung im Wohnungswust
So geht es bis zur Erschöpfung des Prinzips weiter. Denn Bajani schreckt auch nicht vor weit hergeholten Wohnungs-Komposita zurück. Das Auto betrachtet er als „Mobile Familienwohnung“
Um gleich einzuschränken: „Eigentlich ist sie keine echte Wohnung, obwohl sie vor Kälte und Unwetter schützt. Dass sie mobil ist, einen Motor hat und dass auf dem Armaturenbrett die Kilometer angezeigt werden, zählt nicht.“
Das mutet gewollt an, erzeugt ein merkwürdiges Selbstgespräch des Erzählers mit seinen eigenen Setzungen. Zu denen ihn ja niemand gezwungen hat. Und wenn man den Einfall in Form einer - Überraschung -: „Roten Wohnung auf Rädern, 1978. […] Typ Renault 4. Farbe Rot.“ auch noch wiederholt, macht das die Ursprungsidee auch nicht besser. Okay. Die Wohnungspointe zündet nicht.
Wagen wir als zweites die Zerschnipselungsprobe. Bajani zerschneidet nämlich seinen Plot in lauter Einzelstücke, die er achronologisch wieder zusammensetzt. So lehnt sich die 1978er Wohnungssituation plötzlich an die von 2009 an. Während die 2003er neben der 2010er steht. Klingt kleinteilig. Das ist es auch. Und dabei garantiert erkenntnisfrei.
Ein Küche-Diele-Bad-Familienroman
Lässt man Wohnungsfinte und Sequenzierungsidee beiseite, bleibt eine Erzählung, die man so tausendfach schon gelesen hat: ein Familien- und Schriftstellerroman, über drei Generationen hinweg erzählt: Großmutter, Eltern, zwei Geschwister – das war's. Erzählt wird aus der Perspektive des Sohnes. Immerhin blitzt Bajanis Erzähltalent immer wieder auf:
„Daher haben die Fenster auf der Straßenseite gegenüber jeden Abend – und später zur Nachtzeit – diese Szene vor sich: einen unter Pullovern begrabenen jungen Mann, manchmal mit Mütze über den Ohren, der hektisch auf den Tasten eines Computers herumhämmert, installiert auf einer aufgebockten Spanplatte, die für den Stuhl zu hoch ist. Das Ganze mitten im Schneegestöber, das den Anblick von Weitem verwischt, falls denn wirklich jemand hinschaut.“
Die Umkehr der üblichen Gegenstands-Mensch-Beziehung ist Bajanis Lieblingsfigur: Die Fenster beobachten eine Szene, nicht der Mensch. Wenn Fenster fenstern wird das Passive zum Akteur gemacht. Bajani beherrscht das Spiel mit der kontraintuitiven Verkehrung aus dem FF und wiederholt es so geduldig, bis auch der langsamste Leser gemerkt haben muss: hier lebt die Wohnung, nicht der Mensch.
Erzählerische Finesse im Leerlauf
Nein, auch das bringt den Roman nicht zum Schillern. Weil der Erzähler dann prompt der nächsten, gravierenden Fehleinschätzung unterliegt. Bajanis Roman beginnt nach dem Vorbild von Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ mit einem Taufakt. Der Erzähler verleiht seinem Helden großzügig einen Namen. Bei Goethe klingt das so:
„Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht.“
Bajani macht daraus folgenden wohnungsakribischen Taufakt:
„Die erste Wohnung hat drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Bad. Der Raum, in dem das Kind schläft, das wir der Einfachheit halber Ich nennen werden, ist in Wirklichkeit eine Abstellkammer mit einer Liege.“
Die Sache mit der versprochenen Einfachheit geht leider nach hinten los. Die Entscheidung, das Kind „Ich“ zu nennen, führt unablässig zu sprachlichen Verrenkungen. Und weil der Erzähler später auch noch Ichs Oma einfach Oma und dessen Ehefrau noch simpler „Ehefrau“ nennt, wimmelt es vor Sequenzen wie:
„Ich bleibt nur die Narbe auf dem Brustbein, die er ansehen kann. Das tut er jetzt; während Ehefrau schläft, beugt er sich darüber im Halbdunkel des Zimmers.“
Was für ein sprachlicher Murks. Entweder erzählt man in der 1. Person Singular. Oder man gibt seinem Protagonisten einen Namen. Muss ja nicht gleich Otto sein. Dieser Roman enttäuscht. Sprachlich, erzählerisch und italianistisch. Das geht bis hin zur Entführung von Aldo Moro. Von Umberto Eco noch als das dunkle Loch beschrieben, in das die italienische Geschichte und Politik gestürzt sei, erscheint sie hier unter dem Label „Gefangenenwohnung“ als sechsteilige Episode um eine Wandattrappe. Dieser Roman leidet an seiner ganz eigenen Art von akuter Wohnungsnot.
Andrea Bajani: „Buch der Wohnungen“
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Kampa Verlag, Zürich. 304 Seiten, 24 Euro.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Kampa Verlag, Zürich. 304 Seiten, 24 Euro.