Modiano ist ein Autor von hohem Wiedererkennungswert, und die Kritik dankt es ihm mit den üblichen Floskeln, von denen ich eben eine auch gebraucht habe: "unverwechselbar." Andere heißen "unvergesslich", "die Magie seines Stils", "einzigartige, persönliche, eigene Welt." Autoren von hohem Wiedererkennungswert geraten ab dem sechsten oder achten Buch leicht in die Gefahr zu langweilen, weil der - immer gerechte und immer ungerechte - Leser irgendwann dazu neigt zu sagen: "Das habe ich nun schon oft genug gelesen."
Modiano entgeht dieser Gefahr souverän. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, seinen ersten Sätzen zu entkommen, und bevor man zum ersten Mal innehält, hat man schon die ersten zwanzig Seiten oder mehr gelesen. Selbst, wo der erste Satz im Präsens steht, wie in dem Roman "Eine Jugend", verweist der Ton sofort auf das Vergangene, das behutsam heraufgeholt, lebendig gemacht und gerettet werden muß. Denn das Ethos von Modianos Schreiben ist es, das scheinbar für immer Verschwundene im Erzählen zu retten.
Die Zeit der deutschen Besatzung und die sechziger Jahre sind die Bezugspunkte, zu denen er immer wieder zurückkehrt. Das ist durchaus biographisch fundiert: die Zeit, in der sein jüdischer Vater sich in Paris als Schwarzhändler durchschlug, und die Zeit der eigenen Jugend, an deren Ende der Vater die Familie verließ und verschwand.
Das Bedrohtsein, das Sichverlieren, das Verschwinden: das sind die Grundfiguren, die in Modianos Romanen immer wiederkehren. "Walter sagte, er wolle eine Reportage machen über Leute, die in Paris verschwanden." So heißt es gegen Ende des ersten Teils von "Unbekannte Frauen". Wer vom Unbestimmten, vom nicht mehr in allen Details Feststellbaren erzählt, muss dies keineswegs auch im unbestimmten Ton tun. Modianos Sprache, auch dafür ist er gerühmt worden, ist transparent, leicht, fast klassisch. Die sprachliche Transparenz befördert hier aber gerade unklare Verhältnisse. Auch im neuen Buch ist Modianos Welt bevölkert von Hochstaplern und kleinen Schwindlern. Nein, auch diese Bezeichnungen sind viel zu eindeutig. Es sind einfach nicht ganz durchschaubare Figuren, die sich anstatt ihrer eigenen Geschichten manchmal fremde ausleihen, wenn sie von sich erzählen, und bei denen es nichts Kriminelles bedeuten muß, wenn sie unter falschem Namen leben, so wie die erzählenden Frauen dieses Triptychons allesamt keinen Namen haben. Das alles ist nur Ausdruck ihrer prinzipiellen Fremdheit. Von Guy Vincent, ihrem Geliebten, der nicht wirklich so heißt und am Ende natürlich verschwindet, erzählt die erste junge Frau: "In der folgenden Zeit hatte ich jedesmal, wenn wir an einem öffentlichen Ort waren, den Eindruck, daß er sich unbehaglich fühlte, als habe er mit niemandem etwas gemein. Wie ein Fremder, der die Sprache eines Landes nicht beherrscht und fürchtet, man könne ihn jeden Augenblick ansprechen."
Der Schleier, der sich zwischen Modianos Helden und die Welt schiebt, liegt bei aller Transparenz auch zwischen seiner Sprache und dem, was sie zu beschreiben vorgibt. Auch die einfachsten Satzfolgen, die scheinbar nur Sachverhalte mitteilen, produzieren vor allem Bilder und Stimmungen: "Am Sonntagabend wartete ich immer auf den Bus, der mich ins Internat zurückbrachte. Die Haltestelle war an der großen Platane vor dem Gemeindeamt von Veyrier-du-Lac. Ich erinnere mich nur an Sonntagabende im Herbst oder Winter. Es war schon dunkel. Ich stieg in den Bus, und die Plätze waren schon ab Annecy alle besetzt." Klare Sätze, sollte man meinen: Eine Bushaltestelle in der Provinz, die Rückfahrt eines jungen Mädchens ins Internat. Aber warum erinnert sie sich nur an Abende im Herbst und Winter, wo sie doch auch im Frühjahr und Sommer dieses Internat besucht? Weil sie diese Wahl getroffen hat, weil sie sich so und nicht anders erinnern will.
Diese junge Frau, die zweite Stimme in Modianos Dreifachbild, tötet am Ende ihrer Geschichte übrigens aus Notwehr einen Mann, und die dritte gerät in irgendeinen esoterischen Zirkel. Sie alle erzählen diese Episoden aus ihrer Jugend viel später, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Jahre danach. Aber ihre Stimmen sind die der jungen Frauen, fast noch Mädchen, die sie damals waren, und die erinnerte Zeit ist ganz und gar präsent, ohne die Patina des Erinnerns. Für den Schutzumschlag des Buches hat der Verlag ein Foto von Robert Doisneau ausgewählt, dem großen fotografischen Chronisten der Stadt Paris in den fünfziger und sechziger Jahren. Auch dieses Foto, fast fünfzig Jahre alt, ist ohne Patina, aber voller Wehmut und damit Modianos Erzählkunst kongenial. Nein, Modiano können wir gar nicht oft genug lesen.
Modiano entgeht dieser Gefahr souverän. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, seinen ersten Sätzen zu entkommen, und bevor man zum ersten Mal innehält, hat man schon die ersten zwanzig Seiten oder mehr gelesen. Selbst, wo der erste Satz im Präsens steht, wie in dem Roman "Eine Jugend", verweist der Ton sofort auf das Vergangene, das behutsam heraufgeholt, lebendig gemacht und gerettet werden muß. Denn das Ethos von Modianos Schreiben ist es, das scheinbar für immer Verschwundene im Erzählen zu retten.
Die Zeit der deutschen Besatzung und die sechziger Jahre sind die Bezugspunkte, zu denen er immer wieder zurückkehrt. Das ist durchaus biographisch fundiert: die Zeit, in der sein jüdischer Vater sich in Paris als Schwarzhändler durchschlug, und die Zeit der eigenen Jugend, an deren Ende der Vater die Familie verließ und verschwand.
Das Bedrohtsein, das Sichverlieren, das Verschwinden: das sind die Grundfiguren, die in Modianos Romanen immer wiederkehren. "Walter sagte, er wolle eine Reportage machen über Leute, die in Paris verschwanden." So heißt es gegen Ende des ersten Teils von "Unbekannte Frauen". Wer vom Unbestimmten, vom nicht mehr in allen Details Feststellbaren erzählt, muss dies keineswegs auch im unbestimmten Ton tun. Modianos Sprache, auch dafür ist er gerühmt worden, ist transparent, leicht, fast klassisch. Die sprachliche Transparenz befördert hier aber gerade unklare Verhältnisse. Auch im neuen Buch ist Modianos Welt bevölkert von Hochstaplern und kleinen Schwindlern. Nein, auch diese Bezeichnungen sind viel zu eindeutig. Es sind einfach nicht ganz durchschaubare Figuren, die sich anstatt ihrer eigenen Geschichten manchmal fremde ausleihen, wenn sie von sich erzählen, und bei denen es nichts Kriminelles bedeuten muß, wenn sie unter falschem Namen leben, so wie die erzählenden Frauen dieses Triptychons allesamt keinen Namen haben. Das alles ist nur Ausdruck ihrer prinzipiellen Fremdheit. Von Guy Vincent, ihrem Geliebten, der nicht wirklich so heißt und am Ende natürlich verschwindet, erzählt die erste junge Frau: "In der folgenden Zeit hatte ich jedesmal, wenn wir an einem öffentlichen Ort waren, den Eindruck, daß er sich unbehaglich fühlte, als habe er mit niemandem etwas gemein. Wie ein Fremder, der die Sprache eines Landes nicht beherrscht und fürchtet, man könne ihn jeden Augenblick ansprechen."
Der Schleier, der sich zwischen Modianos Helden und die Welt schiebt, liegt bei aller Transparenz auch zwischen seiner Sprache und dem, was sie zu beschreiben vorgibt. Auch die einfachsten Satzfolgen, die scheinbar nur Sachverhalte mitteilen, produzieren vor allem Bilder und Stimmungen: "Am Sonntagabend wartete ich immer auf den Bus, der mich ins Internat zurückbrachte. Die Haltestelle war an der großen Platane vor dem Gemeindeamt von Veyrier-du-Lac. Ich erinnere mich nur an Sonntagabende im Herbst oder Winter. Es war schon dunkel. Ich stieg in den Bus, und die Plätze waren schon ab Annecy alle besetzt." Klare Sätze, sollte man meinen: Eine Bushaltestelle in der Provinz, die Rückfahrt eines jungen Mädchens ins Internat. Aber warum erinnert sie sich nur an Abende im Herbst und Winter, wo sie doch auch im Frühjahr und Sommer dieses Internat besucht? Weil sie diese Wahl getroffen hat, weil sie sich so und nicht anders erinnern will.
Diese junge Frau, die zweite Stimme in Modianos Dreifachbild, tötet am Ende ihrer Geschichte übrigens aus Notwehr einen Mann, und die dritte gerät in irgendeinen esoterischen Zirkel. Sie alle erzählen diese Episoden aus ihrer Jugend viel später, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Jahre danach. Aber ihre Stimmen sind die der jungen Frauen, fast noch Mädchen, die sie damals waren, und die erinnerte Zeit ist ganz und gar präsent, ohne die Patina des Erinnerns. Für den Schutzumschlag des Buches hat der Verlag ein Foto von Robert Doisneau ausgewählt, dem großen fotografischen Chronisten der Stadt Paris in den fünfziger und sechziger Jahren. Auch dieses Foto, fast fünfzig Jahre alt, ist ohne Patina, aber voller Wehmut und damit Modianos Erzählkunst kongenial. Nein, Modiano können wir gar nicht oft genug lesen.