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Psychologie
Der dunkle Geist - Vorstoß ins unbewusste Bewusstsein

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass es eine Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstsein nicht gibt. Experimente zeigen: Was dem Geist vorbehalten schien, kann auch das Unbewusste, Bewegungen vorhersagen und sogar rechnen. Kann der Vorstoß ins Unbewusste uns lehren, was Bewusstsein eigentlich ist?

Von Martin Hubert |
Wissenschaftlerin leuchtet mit einer Taschenlampe auf ein menschliches Gehirn.
Der unbewusste Geist ist für die exakten Wissenschaften immer noch ein großes Rätsel. (imago images/Ikon Images/Gary Waters)
Ein abgedunkelter Raum in einer psychiatrischen Einrichtung der Alexianer in Köln. Alireza Sibaei, der therapeutische Leiter der Alexianer, spricht zu einem älteren Mann. Heller Schlafanzug. Sein schütteres Haar sorgfältig gekämmt, sein Gesicht blass.
„Okay, ich schalte das Gerät ein und mal schauen, wie wir nachher überhaupt die Signale wahrnehmen.“
Herr Kelterbaum reagiert nicht. Nach einem Herzstillstand und einer Sauerstoffminderdurchblutung seines Gehirns wurde er vor 20 Jahren zum Wachkomapatienten. Die Ärzte sprechen auch von „reaktionsloser Wachheit“. Herr Kelterbaum öffnet manchmal seine Augen, scheint also wach zu sein, antwortet aber weder auf Reize noch auf Ansprache. Alireza Sibaei versucht trotzdem, Signale aus der Tiefe seines Geistes einzufangen.
„Jetzt ziehen wir die Haube - einmal Kopf hoch, wunderbar, ich muss kurz das Kissen wegtun - jetzt aber die Haube, perfekt.“

Auf der Suche nach dem unbewusstem Geist

Die EEG-Haube gehört zu einem mobilen Gerät, das bisher weltweit nur in wenigen Wachkomakliniken eingesetzt wird: das „Mind Beagle“. 16 Elektroden, ein Verstärker, Software, die die Hirnsignale analysiert.
„Okay, und ich schau mal ob die zentrale Elektrode richtig in der Mitte ist, ich werde ein bisschen herunterfahren, nicht erschrecken, Herr Kelterbaum, okay, das Gel spritzen und danach schauen wir einmal, ob alles gut gelaufen ist.“
Eigentlich versucht Alireza Sibaei mit Hilfe des Mind Beagle nur das zu bestätigen, was Menschen aus dem Umfeld von Wachkomapatienten schon lange sagen. Ihr Geist ist nicht tot.
„Unser Pflegepersonal oder die Therapeuten, die wissen schon, Herr X. oder Frau Y., wie er überhaupt reagiert, wann der oder sie wach ist und welche Wachheitsreaktionen vorhanden sind. Die müssen nicht unbedingt wissen, was Bewusstsein bedeutet, die kennen einfach unsere Patienten.“
Pflegende sprechen mit den Wachkomapatienten, erzählen, was sie gerade tun. Und oft kommt etwas zurück.
„Ich versuche es meistens durch Gesichtsausdruck, Mimik, solche Faktoren herauszufinden. Wenn sie sehen, wie sie auf bekannte Stimmen oder Angehörigenstimmen reagieren, also man geht davon aus, dieses Restbewusstsein hat immer noch Funktionen, unbewusst.“
Wenn Alireza Sibaei Herrn Kelterbaum anspricht, scheinen sich dessen Gesichtsmuskeln leicht anzuspannen. In seinen Augen schimmert ein Funken Aufmerksamkeit, man hat das Gefühl, er lauscht. Ist das nur eine körperliche Reaktion - oder verweist es tatsächlich auf eine Art unbewussten Geist?
Darstellung von mehreren übereinanderliegenden Gehirnwellen im Elektroenzephalogramm (EEG), vor einem bunten Hintergrund.
Gehirnwellen im Elektroenzephalogramm (EEG) bei Epilepsie. (imago images / agefotostock)

Wo fängt Bewusstsein an?

Gibt es das überhaupt, Geist ohne Bewusstsein?
“Stellen sie sich vor, Tennis zu spielen”, sagt Steven Laureys. 2005 stellte ein Team mit dem arrivierten Wachkomaforscher von der Universität Liège eine Patientin vor genau diese Aufgabe. Gleichzeitig beobachteten die Wissenschaftler ihre Hirnaktivität im funktionellen Magnetresonanztomogramm. Die motorischen Areale waren ähnlich aktiv wie bei Gesunden, die sich bewusst vorstellten, Tennis zu spielen. Es ging den Forschern damals darum, ein Restbewusstsein einzufangen, um eine Prognose abzuleiten: Wird die Patientin wieder in ein bewusstes Leben zurückkehren? Laureys konnte das kurz darauf an einem anderen Patienten direkt beobachten.
„Es stellte sich dann wirklich heraus, dass er nicht unbewusst war. Wir konnten das dann weiter voranbringen und mit ihm kommunizieren.“
Seitdem fand man mit Hilfe dieser Methode noch andere Wachkomapatienten mit vergleichbaren Hirnaktivitäten, die später ins bewusste Leben zurückkehrten. Aber es sind nur wenige Patienten und Patientinnen, und nicht alle erholten sich gleich gut. Außerdem gibt es bei der Diagnose des Restbewusstseins eine schwerwiegende Einschränkung. „Niemand hat bis heute die neuronalen Grundlagen wirklich verstanden.“
Die existierenden Theorien sind nicht in der Lage, genau zu sagen, welche Hirnareale für das Bewusstsein zuständig sind. „Wir müssen daher einfach akzeptieren, dass es in vielen Fällen keine Sicherheit gibt. Je höher wir von komatösen zu nicht reagierenden zu minimal bewussten Patienten steigen, desto stärker wird die Unsicherheit.“

Nicht „Ich denke!“, sondern „Es denkt!“

Wenn aber gar nicht so klar ist, wo Bewusstsein beginnt – ergibt es dann überhaupt Sinn, Bewusstsein und Unbewusstes voneinander zu trennen?
Mancher Wachkomapatient lebt 20 und mehr Jahre in seiner Welt. Reagiert nicht sichtbar auf Reize, kommuniziert nicht aktiv und kann nicht Ich zu sich sagen. Möglicherweise aber verarbeitet er Reize innerlich und verfügt somit über eine Art Basis-Geist, der dem bewussten Geist zugrunde liegt. Die Philosophen Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche hatten die Idee eines solchen Geistes bereits im 18. und 19. Jahrhundert ins Spiel gebracht. Nicht „Ich denke!“, sondern „Es denkt!“.
Eindeutige Belege gab es dafür lange nicht und auch die neuen Indizien sind nicht unumstritten.

Spuren von Bewusstsein in der Hirnaktivität

„Herr Kelterbaum, sie kriegen wieder Kopfhörer, achten Sie darauf! Sie werden zwei unterschiedliche Töne hören.“
Alireza Sibaei beginnt bei den Alexianern in Köln-Porz mit seinem ersten Test. Die Elektroden des Mind-Beagle suchen im Gehirn von Herrn Kelterbaum als Reaktion auf die einzelnen Töne nach der so genannten P300-Welle. Sie zeigt ganz elementar an, ob ein Reiz registriert und verarbeitet wird.
„Es geht jetzt los, bleiben sie wach. Ja, jetzt geht es los, achten Sie darauf, jedes Mal, jedes Mal wenn sie scharfe, hohe Töne hören, bitte mitzählen, jetzt. Erfahrungsmäßig sage ich mal, die erste Sequenz ist immer schlechter als die anderen und in ein paar Minuten werden wir sehen, wie signifikant das überhaupt war.“
Eine Hand zeigt auf Gehirnströme (EEG), die auf einem Monitor abgebildet werden.
Anhand von Gehirströmen lässt sich messen, was eine Person wahrnimmt. (picture alliance / Friso Gentsch)

Die Erforschung einer mysteriöse Welt

„Ich habe früher geglaubt, dass man Bewusstes und Unbewusstes scharf voneinander unterscheiden muss. Das hatte mit einem Wunsch nach Vereinfachung zu tun. Denn es ist ja viel einfacher, Kategorien scharf voneinander zu trennen, als davon auszugehen, dass sie überlappen“.
Der italienische Philosoph Michele Farisco lehrt an der schwedischen Universität Uppsala, ist aber auch am europäischen Human Brain Project beteiligt. Einen entscheidenden Schritt voran brachte ihn ein Forschungsaufenthalt in Liège. „Das hat es mir ermöglicht, Patienten mit beeinträchtigtem Bewusstsein zu treffen, und ihre mysteriöse und faszinierende Welt zu erforschen.“
Inzwischen hat Farisco einen umfassenden Begriff von Bewusstsein entwickelt und dazu mit Steven Laureys einen programmatischen Aufsatz veröffentlicht. „Es ist zweckmäßig, Bewusstsein als eine fundamentale Eigenschaft des lebendigen Gehirns zu definieren. Es ist an dessen intrinsische Tendenz gebunden, permanent die Welt zu beobachten, zu bewerten und Modelle von ihr aufzustellen.“

Wie im Traum

Tatsächlich ist das Gehirn immer aktiv, auch wenn gerade keine spezifische Aufgabe zu lösen ist. Es registriert, wie warm eine Hand ist, die die Haut berührt. Oder ob eine Stimme vertraut ist. Auch wenn wir davon wenig merken.
„Diese spontane oder intrinsische Hirnaktivität bildet für mich die grundlegende Ebene des Bewusstseins. Bewusstsein interpretiere ich dann als umfassende Eigenschaft des Gehirns, die in zwei Modalitäten auftreten kann: Wir sind uns etwas gewahr oder nicht. Beides existiert auf einem Kontinuum.“
Es gibt für Farisco einen bewussten Geist im traditionellen Sinn: Er löst Aufgaben gezielt und kann seine Ergebnisse berichten. Parallel dazu existiert ein unbewusster Geist, der immer arbeitet, aber normalerweise im Verborgenen bleibt. Ein Beispiel dafür, dass sich Bewusstes und Unbewusstes überlappen können, ist für Farisco das Träumen. „Oft erinnern wir uns an Träume, obwohl wir gar nicht merken, dass wir träumen.“
Da wir unbewusst träumen, uns jedoch bewusst an Träume erinnern können, müssten beide Modalitäten des Geistes miteinander verbunden sein. Demnach umfasse der Geist nicht nur Bewusstsein und Restbewusstsein, sondern auch das Unbewusste.

Das Bewusstsein weiß nur, was das Unbewusste kennt

„Wir haben ja keine Ahnung, woher unsere Gedanken kommen.“ Auch der Psychologe Ran Hassin von der Hebräischen Universität in Jerusalem glaubt, dass Geist nicht auf Bewusstsein zu reduzieren ist. Unsere wie aus dem Nichts hervorschießenden Gedanken könnten nur aus dem Unbewussten kommen, sagt er. Bevor ich denke, denkt es. Unser Bewusstsein habe nur geringe Kapazitäten, es sei auf ein unterirdisches Fundament angewiesen. Hassin liebt Pointen und nennt als Beispiel eine Frage, die im Leben eines Menschen weitreichende Konsequenzen hat: Möchtest du mich heiraten?
“Was passiert zwischen dem Ende dieser Frage und der Reaktion die darauf folgt?“
Für eine umfassende Analyse formt sich die spontane Antwort im Kopf des Gegenübers ziemlich schnell.
„Eine mögliche Antwort wäre etwa „Ich mag den Kerl“. Möglichkeit zwei: „Er ist ein bisschen nervig, aber unser Sex ist großartig“. Solche Gedanken kommen einem in den Sinn, Gefühle kommen in den Sinn. Sie sind die Summe von Prozessen, die unbewusst ablaufen. Manchmal sind es gute, manchmal schlechte Zusammenfassungen. Bewusste Erfahrungen sind also wichtig, aber die ersten Intuitionen entstehen definitiv unbewusst.“
Wenn Bewusstes aber aus unbewussten Aktivitäten entsteht, dann darf es für Hassin nicht nur keine scharfe Grenze zwischen beiden geben. Das Unbewusste muss in gewisser Wiese auch ähnliche Fähigkeiten besitzen wie der bewusste Geist. Als Konsequenz ruft der Psychologe für die Forschung frei nach Obama das „Yes it can“-Prinzip aus.
„Ich behaupte: Immer dann, wenn wir eine kognitive Fähigkeit haben, die wichtig für den Organismus ist, gibt es einen Weg zu zeigen, dass sie auch unbewusst ausgeübt werden kann. Das heißt nicht, dass das in der gleichen Weise und in der gleichen Leistungsfähigkeit wie im Bewusstsein geschieht, es heißt einfach nur, dass diese Fähigkeit unbewusst ausführbar ist.
Ran Hassin möchte das mit Experimenten untermauern. In einem will er zeigen, dass wir Zukünftiges unbewusst vorhersagen können.
Die Illustration zeigt Menschen mit Sprechblasen in den Händen die an einer Leiter anstehen.
Wie entstehen Gedanken? Weiß das Unterbewusstsein was wir denken bevor wir es tun? (imago images / Ikon Images)

Das Unbewusste als Vorhersage der Zukunft

Versuchspersonen sitzen vor einen Monitor, auf dem sich ein Punkt in eine bestimmte Richtung bewegt. Eine Methode namens Continuous Flash Suppression, abgekürzt CFS, projiziert wechselnde bunte Bilder so schnell auf ein Auge, dass es sie nicht verarbeiten kann. Das überfordert den Sehapparat insgesamt, sodass der Punkt auch für das andere Auge unsichtbar bleibt, er lässt sich nur unbewusst wahrnehmen.
„Der Punkt hat sich also bewegt, dann hat die Bewegung gestoppt und der Punkt ist abgetaucht. Kurze Zeit später erscheint er dann wieder sichtbar auf dem Monitor. Manchmal in direkter Fortsetzung der unsichtbaren Bewegung, manchmal woanders.
Hassin hat unter anderem die Augenbewegungen der Versuchspersonen analysiert und festgestellt, dass die Versuchspersonen den korrekten Zielort des Punktes vorhersehen konnten. So, als ob sie den maskierten Punkt wahrgenommen und seine Bewegung unbewusst berechnet hätten. Hassins Schlussfolgerung.
„In Bezug auf Bewegungen zeigt das definitiv, dass Menschen die Zukunft vorhersagen können - ohne dass sie wissen, dass sie es tun.“

Experimentelle Belege

Das passt zur Theorie von Michele Farisco. Der unbewusste Geist des Gehirns scheint permanent dabei zu sein, die Umwelt einzuschätzen und Modelle von ihr zu berechnen.
Ein anderes, viel diskutiertes Experiment soll belegen, dass wir sogar Rechenaufgaben unbewusst lösen können. „Die Versuchspersonen sahen einfache Gleichungen, sowas wie drei plus vier ist gleich sieben.“
Die Aufgabe „Drei plus vier“ ist wieder mit der CFS-.Methode maskiert, nur das Ergebnis sichtbar. Manchmal ist es korrekt - „ist gleich sieben“. Manchmal falsch – zum Beispiel „ist gleich neun“. Die Versuchspersonen sollten das Ergebnis jeweils laut vorlesen, denn psychologische Tests zeigen, dass man ein Ergebnis schneller vorliest, wenn es zu dem passt, was man schon weiß.
„Und genau das haben wir hier gefunden. Die Versuchspersonen waren bei den korrekten Ergebnissen etwas schneller als bei den nicht korrekten. Wir lernen daraus, dass wir Mathematik betreiben können, obwohl wir die Zahlen gar nicht sehen. Wir können sowas tatsächlich.“
Das Unbewusste scheint ziemlich clever zu sein. Was an sich keine Überraschung sei. „Wir sagen eigentlich gar nichts Neues über das Unbewusste, neu ist nur, dass wir das jetzt mit Experimenten belegen können, aber von der Sache her ist es nicht neu.“

Erinnerungsspeicher oder Assoziationsmaschine?

Trotzdem halten sich in der Hirnforschung bis heute die alten Dogmen. Eines besagt, dass der Hippocampus, eine seepferdchenförmige Hirnstruktur, nur bewusste Erlebnisse speichern und verarbeiten könne, aber keine unbewussten. Die Berner Psychologin Katharina Henke dagegen hat ein andere Theorie. Der Hippocampus sei eine universale Assoziationsmaschine, die auch unbewusst arbeiten könne.
„Der Hippocampus kann Assoziationen in jedem sensorischen Bereich mit jeglicher Kognition und jedem Gefühl rasch assoziieren, quasi alle Eindrücke, die auf mich eindringen, die kommen auch beim Hippocampus an, so dass er auch alles mit allem assoziieren kann.“
Henke hat das mehrfach experimentell untersucht. Versuchspersonen sehen auf einem Bildschirm Gesichter, unter die jemand Berufsbezeichnungen geschrieben hat: „Förster“, „Lehrer“ zum Beispiel oder „Redakteurin“. Jedes Bild erscheint nur 17 Millisekunden lang, unmittelbar vorher und nachher sehen die Versuchspersonen schwarz-weiße Pixelbilder. Das sorgt dafür, dass die Gesichter nicht bewusst wahrgenommen werden können. Zehn Minuten später sollen die Versuchspersonen dann Fragen beantworten. Haben sie die Verbindung zwischen Gesicht und Beruf unbewusst gelernt?

Erinnerungen ohne Bewusstsein: überzufällig häufig

„Raten Sie, welchen Beruf diese Person haben könnte, die Sie sehen. Man hat die Person gesehen, deren Gesicht zumindest gesehen und musste spontan, aus dem Bauchgefühl raten, was für einen Beruf diese Person hat. Und man war überzufällig korrekt im Rateverhalten, wenn man den Beruf vorher unterschwellig gelesen und zum Gesicht assoziiert hatte. Das zeigt, dass man also unbewusste semantische Assoziationen abspeichern und später erinnern kann.“
Das Ergebnis lag knapp zehn Prozent über der Zufallsmarke, ließ sich aber verlässlich  wiederholen. Etwa 25 Studien hat Katharina Henke inzwischen durchgeführt, die nahelegen, dass unbewusstes Erinnern und Lernen auch bei anspruchsvolleren Aufgaben möglich ist. Ist die Bedeutung des Unbewussten damit ausreichend bewiesen?
Zeichnung: Gehirn inmitten anderer Dinge, Daten und Formeln
Das Gehirn tut nie nichts. Das meiste davon passiert für den Mensch unbewusst. (imago / Shotshop)

Kann das Unbewusste wirklich so viel? 

„Herr Kelterbaum, sie sind wieder wach, das ist gut, machen wir weiter mit unserer Testung.“
In Köln-Porz hat der Wachkomapatienten Herr Kelterbaum zu 90 Prozent richtig erkannt, dass ihm hohe Töne zugespielt wurden. Jetzt befestigt Alireza Sibaei an seinen Handgelenken Elektroden, die Vibrationen auslösen können.
„Ihre Aufgabe: Jedes Mal wenn Ihre rechte Hand vibriert - hier ist die rechte Seite - wenn das vibriert, bitte im Kopf mitzählen. Ich werde auch ein paar Mal mitmachen, okay, wir starten jetzt. Wenn ihre rechte Hand vibriert, bitte mitzählen und es geht jetzt los: jetzt… jetzt… weiter so.“  
Zeigt die P300-Welle in Herrn Kelterbaums Gehirn, dass er zielgerichtet Vibrationen auf seiner rechten Hand registrieren kann? Einige Minuten später spuckt Mind Beagle das Ergebnis aus: eine Enttäuschung.
„Gut, sie sind durch, Herr Kelterbaum. Ja, da sieht man auch schon, also die Genauigkeit war nur zehn Prozent und das ist zu wenig.“

Ganz sicher vielleicht

Nicht nur bei den Tests von Alireza Sibaei klappt nicht alles, sondern auch bei den psychologischen Laborstudien zum Unbewussten. Es gibt durchaus Kritik, doch es ist unklar, ob sie an die Substanz geht oder nur Feinheiten betrifft. Guido Hesselmann von der Psychologischen Hochschule in Berlin hat in einem Aufsatz Ran Hassins „Yes it can“-Prinzip ein zurückhaltenderes „Definitely maybe“ entgegensetzt.
„Wir wollten mit diesem „Definitely maybe“‑ Artikel einfach nur einen Gegenpol setzen und ein bisschen auf die Probleme mit diesem Ansatz hinweisen.“ Probleme, die Hesselmann zum Beispiel auch bei Ran Hassins Studie zum unbewussten Rechnen sieht. Zum einen fand Hassin unbewusste Effekte nur bei der Subtraktion, nicht aber bei der Addition. Die Studie, bei der die Versuchspersonen mit unsichtbaren Zahlen rechnen sollten, sieht Guido Hesselmann zudem auch methodisch problematisch.

Methodische Fehler verzerren die Ergebisse

„Also es wurden etwa 70 Versuchspersonen gemessen und etwas mehr als die Hälfte hat tatsächlich die unsichtbaren Reize gesehen. Das heißt insgesamt betrachtet waren die Reize einigermaßen sichtbar, schwach sichtbar, aber sie waren sichtbar, wenn man jetzt die ganze Stichprobe nimmt, die gemessen wurde. Und es ist leider ein verbreitetes aber falsches Verfahren, dann einfach diese Leute rauszulassen aus der statistischen Auswertung und sich nur auf die zu konzentrieren, die den Reiz nicht gesehen haben. Das ist ein Fehler und kann dazu führen, dass man einen Effekt findet, den es eigentlich in der Gesamtstichprobe in der Form nicht gibt.“
Hesselmann moniert auch, dass nicht definiert worden sei, ab wann ein Reiz tatsächlich als unsichtbar zu gelten hat. Das mache Studienergebnisse schwer vergleichbar. Außerdem hätten die Arbeitsgruppen verschiedene Methoden angewendet, um die Reize zu maskieren, und je nach Methode und Fragestellung sei das Ergebnis dann unterschiedlich ausgefallen. Mal scheinen Unbewusstes und Bewusstes stark voneinander getrennt zu sein, mal eng gekoppelt. Hesselmanns letzter Kritikpunkt an den Laborergebnissen:
„Dass die wirklich zeitlich sehr begrenzt sind und relativ klein. Das heißt jetzt nicht, dass sie uninteressant sind, die sind unheimlich wichtig, um das Gehirn zu verstehen, wie es funktioniert, aber die sind kein Hinweis darauf, dass wir ein unheimlich reiches Unbewusstes haben, was ständig uns beeinflusst.“

Versuchspersonen antworten ganz unterschiedlich auf versteckte Reize

„In der Psychologie sind ja Effekte generell meistens eher kleiner und wenn man jetzt einfach nur davon spricht, es gibt einen Effekt, dann weckt man, glaube ich, sehr oft falsche Vorstellungen.“
Markus Rothkirch von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité sieht die Dinge ähnlich wie Guido Hesselmann. Er findet die Forschungen zum Unbewussten äußerst spannend und arbeitet selbst auf dem Gebiet. Er warnt aber auch vor Übertreibung und vorschneller Verallgemeinerung.
„Dass man dann eben sehr oft denkt, das ist jetzt ein Effekt, der in allen Personen mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auftritt. Und gerade wenn es um unbewusste Prozesse geht, sind sie oft nochmal kleiner und dann stellt sich immer die Frage okay, aber inwiefern ist er jetzt überhaupt noch praktisch bedeutsam, praktisch relevant?“
Die Studien zeigen: Versuchspersonen antworten ganz unterschiedlich auf unbewusste Reize. Der eine verarbeitet sie mit hoher, der andere mit geringer Wahrscheinlichkeit. Sie können sogar auf unterschiedliche Aspekte dieser Reize reagieren, ergänzt Guido Hesselmann.

Fragmentiertes Bewusstsein

„Das, würde ich sagen, ist eine recht neue Erkenntnis, dass wir, wenn wir einen Reiz auf dem Bildschirm präsentieren, dass tatsächlich der gewissermaßen fragmentiert, also dass wir die Form nicht wahrnehmen, aber die Farbe zum Beispiel noch wahrnehmen und das öffnet natürlich noch einmal einen ganz neuen Blick auf dieses ganze Feld, dass offensichtlich auch Ereignisse zerlegt werden gewissermaßen und Sie bestimmte Eigenschaften noch wahrnehmen und die anderen nicht.“
Das vorausgesetzt glaubt aber auch Marcus Rothkirch, dass man den Geist nicht in zwei getrennte Teile aufspalten sollte. „Also ich würde sagen, dass das letztendlich wahrscheinlich die Mehrheit so sieht, dass das jetzt nicht so einen scharfen Übergang gibt von unbewusst zu bewusst, sondern dass es tatsächlich entsprechend dann auch einen Übergang, eine Transitionsphase gibt zwischen diesen beiden.
Illustration eines abstrakten Kopfs in der Seitenansicht, dem von Händen Puzzleteile eingesetzt werden.
Fragmentiertes Bewusstsein: Unter bestimmten Umständen kann die Farbe, aber nicht mehr die Form eines Reizes wahrgenommen werden. (imago/Ikon Images/Gary Waters)

Ethische Konsequenzen

Das Unbewusste bleibt widerspenstig. Aber Hartnäckigkeit bei der Kontaktaufnahme könnte sich lohnen. Denn auch wenn das Bewusstsein gestört oder ausgeschaltet ist, funktionieren vielleicht unbewusste Anteile des Geistes. Michele Farisco, der Philosoph von der Universität Uppsala jedenfalls wendet sich entschieden dagegen, bei der Forschung an Wachkomapatienten wie bisher hauptsächlich nach Anzeichen von Bewusstsein zu suchen.
„Die Suche nach Anzeichen für ein normales Bewusstsein reicht nicht aus, um den Patienten eine ausreichende klinische Versorgung zu gewährleisten. Denn es passiert eine Menge auf der Ebene des Unbewussten. Wenn wir bestimmten Bewusstseinsfähigkeiten ethische Relevanz zuschreiben und diese Fähigkeiten auch im unbewussten Gehirn registrieren, dann sollten wir auch diesem ethische Relevanz zuschreiben.“
Vielleicht sorgt der regelmäßige Kontakt mit dem unbewussten Geist von Wachkomapatienten dafür, dass sie sich körperlich entspannen und besser fühlen. Auch wenn sie nicht das vollständige Bewusstsein wiedererlangen. Und das muss nicht auf Wachkomapatienten begrenzt bleiben.
Katharina Henke von der Universität Bern glaubt, dass Ähnliches auch für den Umgang mit Dementen gilt. Sie hat untersucht, wie stark diese generell von Amnesien, also von totalem Gedächtnisverlust betroffen sind. "Und haben gefunden, dass die Personen, die keine sehr, sehr schwere Amnesie haben, unbewusst noch episodisch lernen konnten und auch erinnern konnten. Deswegen darf man Demente und Amnestiker nicht unterschätzen. Man sollte sie nicht behandeln wie Menschen, die eh nichts mehr abspeichern können, sondern sie so behandeln wie ganz normale Menschen und auch davon ausgehen, dass, wie man sie behandelt, absolut erinnerbar ist von diesen Amnestikern und von diesen Dementen.“

Kommunikation mit dem Unbewussten – keine ausgemachte Sache

„Erst einmal starten wir mit auditiven Fragen, Herr Kelterbaum, heißen sie mit Vornamen Heinz?“
Bei den Alexianern in Köln geht es Alireza Sibaei auch um die wichtigste Frage: Wird man über technische Geräte irgendwann mit dem unbewussten Geist von Wachkomapatienten kommunizieren können?
„Heißen sie mit Vornamen Heinz? Wenn sie mit Ja antworten wollen, machen Sie eine Bewegung mit der linken Hand, machen Sie eine Faust mit der linken Hand, wenn sie Ja antworten wollen. Wenn sie Nein antworten wollen, dann eine Bewegung mit der rechten Hand, machen Sie eine Faust mit der rechten Hand. Ich stelle noch einmal die Frage: Heißen sie mit Vornamen Heinz?“
An diesem Tag geht die Kommunikation mit Herrn Kelterbaum über ein erstes Probieren nicht hinaus. Doch Alireza Sibaei ist zuversichtlich.
„Wir sind ganz in der Anfangsphase, aber zumindest kann man sich ganz gut vorstellen, vielleicht irgendwann: Geräte, die Kommunikation zwischen Menschen in diesem Zustand mit der Außenwelt ermöglichen, das ist machbar. Ich bin davon überzeugt, von unseren 24 Klienten, die hier sind, mehr als die Hälfte können von dieser Möglichkeit auf jeden Fall profitieren.“
„Gut, Herr Kelterbaum, ich lasse Sie wieder in Ruhe. Danke, dass sie wieder mitgemacht haben, Herr Kelterbaum, wir sehen uns bald wieder, schönen Tag noch, Tschüss!“