Da sitzt er also, der Schriftsteller Thomas Melle auf einem Sessel im Spotlight, das rechte Bein übers linke geschlagen, neben ihm ein kleiner Tisch mit Laptop und Wasserglas.
Thomas Melle (Avatar): "Herzl… (husten) Herzlich Willkommen!"
Da sitzt er also und erzählt von sich. Oder doch nicht?
Thomas Melle (Avatar): "Meine Name ist Thomas Melle und hier - das erste Bild bitte! - haben sie gleich ein Bild aus meiner Kindheit."
Während auf einer Leinwand das Bild des echten Thomas Melle als Kind auftaucht, stellt man beim (zweiten) Blick auf den Mann im Sessel fest, dass da gar kein Mensch sitzt: Die Lippenbewegungen sind nicht ganz synchron zum Gesagten, am Hinterkopf klafft ein Loch, das Kabel und Festplatten offenbart, dazu rattert und summt es bei jeder Bewegung, die er, der Roboter, vollzieht.
Thomas Melle (Avatar): "Wenn Sie gekommen sind, um hier einen Burg-Schauspieler zu sehen dann sind sie falsch. Aber wenn sie gekommen sind, um das Authentische zu sehen, dann sind sie hier auch falsch. Ich will mich nicht mehr exponieren, nicht so, nicht als das Echte, nicht als der echte Mensch!"
Schaurig schöner Doppelgänger
"Uncanny Valley", unheimliches Tal - so nennt der japanische Robotiker Masahiro Mori die Spanne, wenn ein Roboter einem Menschen ähnlich sieht, aber nicht genug, so dass er Schauder und Befremden auslöst.
Wie der künstliche Thomas Melle auf der Bühne: Schaut er einen an, mit silbrigen Augen und geröteten Wangen, zeigt er auf einen, dann ist das wirklich: unheimlich.
Thomas Melle (Avatar): "Es ist mir unheimlich, hier so vor ihnen zu sitzen und von ihnen beobachtet zu werden. Und irgendwie mitzubekommen, dass alles unter ihren Augen Verschiebungen ausgesetzt ist und etwas anderes bedeutet, wenn ich es jetzt sage, als wie wenn ich es früher gesagt habe."
Aber nicht nur uns ist das unheimlich, sondern anscheinend auch dem Roboter, der alleine auf der Bühne über seine Gefühle monologisiert; der seine Autobiografie erzählt; und die vom legendären Informatiker Alan Turing:
Thomas Melle (Avatar): "Turing war einer der Erfinder des Computers und wenn man so will selbst eine Art Computer, wenn auch ein sehr tragischer. Wieso sage ich Computer? Nun, er war so klug und visionär, dass er unsere heutigen Computer schon vorausgesehen hat."
Die Maschine lässt den Menschen verschwinden
Mensch und Roboter, Melle und Turing, Schein und Sein - darum dreht sich dieser Abend, der vieles zugleich ist: eine KI-Performance, ein Vortrag, ein Theater-Essay, eine Bild- und Video-Dokumentation. Auf der Leinwand sehen wir den echten Thomas Melle, wie er einen KI-Experten oder einen Hörgeschädigten mit implantierter Hörhilfe, einen Cyborg, interviewt…
Interviewter Mann: "Hier unter meiner Haut ist ein Stückchen Metall… und das macht mich schon ein Stück zu einer Mensch-Maschine."
Und wie er schließlich selbst zur Maschine wird:
Thomas Melle (Avatar): "Die Maschine tritt ganz an meine Stelle und ich verschwinde, wie ich es in schwachen Momenten schon immer wollte. Ich wollte doch weg sein."
Wo hört der Mensch auf und wo fängt der Roboter an? "Uncanny Valley" zeigt die Algorithmen und Codes unseres menschlichen Alltags und die Gefühle und Gesten der Computerwelt. Genau dieses Vertauschen, dieses Querdenken und die direkte Ansprache an das Publikum macht das Stück stark. Eine vierte Wand gibt es hier nicht:
Thomas Melle (Avatar): "Machen wir doch mal einen kleinen Versuch. Schließen Sie die Augen! … Was ist Ihre erste Erinnerung? Das erste Bild vielleicht von sich selbst oder vom Boden in Ihrem Kinderzimmer?"
Fluch und Segen der Künstlichen Intelligenz
Technischer Fortschritt wird nicht verdammt, sondern intelligent nach seinen Konsequenzen hinterfragt. Was ist der Unterschied, wenn ein Roboter statt eines Schauspielers tagtäglich das gleiche Theaterprogramm auf der Bühne abspielt? Oder sich plötzlich um pflegebedürftige Menschen im Altersheim kümmert. Ist das körperliche Entlastung? Geistige Entfremdung? Oder seelische Entleerung?
Computerstimme: "Wie heißt du? Was bist du von Beruf? Wie siehst du aus?"
Viele Fragen, die Antworten muss der Zuschauer selbst finden. Regisseur Stefan Kaegi von der Theatergruppe Rimini Protokoll hat Erfahrung mit solchen Projekten im analog-digitalen Grenzbereich. Mehr als einen Avatar, eine Leinwand und einen Scheinwerfer braucht er nicht, um Thomas Melles selbstreflexive, ambivalente, kluge Gedanken perfekt in Szene zu setzen. Reduziert auf das Wesentliche.
Und so klingt dann auch das Fazit des Abends
Thomas Melle: "Am Ende kann ich ihm immer den Stecker ziehen!"