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Unentdecktes Manuskript von Rudolf Borchardt
Gerhard Schuster: "Er ist ein großer Womanizer"

Im Nachlass des Dichters Rudolf Borchardt (1877-1945) ist ein unentdeckter Erotik-Roman aufgetaucht. Enthüllt hat ihn Gerhard Schuster, Editor und Kommentator von Borchardts Schriften. Man sehe die ganze Halbwelt des Berlin um 1900, sagte Schuster im, DLF.

Gerhard Schuster im Gespräch mit Antje Allroggen |
    Das Berliner Stadtschloss um 1900
    Rudolf Borchardt schildert die Ereignisse in den Monaten Oktober/November 1901 in Berlin. Hier ist das Stadtschloss 1900 aufgenommen. (picture-alliance / Berliner Kurier)
    Antje Allroggen: Rudolf Borchardt, ein Dichter, 1877 in Königsberg geboren und 1945, nachdem er von SS-Schergen nach Tirol verschleppt worden war, dort gestorben. Ein jüdischer Lyriker, den wohl jeder zumindest namentlich kennt. Keine kanonisierte Bibliothek kommt ohne ihn aus. Trotzdem ist er bis heute ein Unbekannter und Ungelesener geblieben. Das könnte sich jetzt ändern, denn im Nachlass fand man plötzlich ein bisher noch unentdecktes Romanfragment, in dem es von bisher ungeahnten pornografischen Anzüglichkeiten nur so wimmeln soll. Enthüllt wurden sie von Gerhard Schuster, Editor und Kommentator von Borchardts Schriften. Ich habe ihn gefragt, wie es möglich ist, ein rund 1.000seitiges autobiografisches Romanfragment jahrzehntelang zu übersehen.
    Gerhard Schuster: Das kann sehr gut sein, wenn das Manuskript wie in diesem Falle mit der Hand geschrieben ist, winzig klein geschrieben ist, sodass auf ein zweiseitig beschriebenes Blatt ungefähr fünf bis sieben Typoskript-Seiten gehen. Ich wusste von der Existenz eines solchen Manuskriptes aber nur, wie soll ich sagen, durch die kichernden Mitteilungen der Witwe, die sagte, ja da gibt es noch was, aber das ist nichts für Sie wegen der Thematik, die auf den ersten Blick, sagen wir mal, erotisch und pornografisch ist. Dann erlosch die Schutzfrist am 31. Dezember 2015 und jetzt haben wir das kleine Problem, dass einerseits die Rechte an dem Werk insgesamt frei sind, andererseits aber diese Sperrung noch besteht, und wir müssen jetzt mit viel Geduld und Freundlichkeit mit dem noch lebenden jüngsten Sohn verhandeln, dass er diese Sperrung, die sozusagen überhängt, jetzt einvernehmlich mit dem Direktor des Deutschen Literaturarchivs öffnet.
    "Erotik ist, glaube ich, wenn man sie ernst nimmt, nie schlüpfrig"
    Allroggen: Was steht in den Texten? Ist es wirklich so schlüpfrig erotisch? Ist es besonders aus seiner Jugendzeit, wie es in den Agenturen hieß, aus der Berliner Zeit - 1892 siedelte die Familie von Moskau nach Berlin über? Wie passt das zusammen? Bis jetzt haben wir gehört, Gerhard Schuster, es wäre besonders viel Herder gelesen worden von Rudolf Borchardt in seiner Berliner Zeit.
    Schuster: Erotik ist, glaube ich, wenn man sie ernst nimmt, nie schlüpfrig. Dann sind es höchstens schlechte Texte und davon haben wir weiß Gott genug. Das ist schon richtig. Groschenromane sind was anderes.
    Es handelt sich hier darum, dass Borchardt Ende der 30er-Jahre in einer sehr schwierigen biografischen Situation - er war von Deutschland ausgegrenzt mit allem, was dazu gehört - offenbar noch mal zwischen 1937 und 1939 sich vornimmt, einen Teil seines Lebens sozusagen dokumentarbiografisch zu beschreiben, und schildert dann aus dem Abstand eines 60jährigen die Monate Oktober/November 1901. Er greift fast 40 Jahre zurück und in diesen drei Monaten stürzt er sich dann mit großem Elan in das Berliner Tag- und Nachtleben. Das heißt, er arbeitet zwar an seiner Promotion, aber eigentlich schießt er mit dem Taxi und mit der U-Bahn kreuz und quer durch die Stadt und hat sozusagen ein Rendezvous, ein Zufallsrendezvous, so muss man sagen, nach dem anderen.
    Allroggen: Da musste er sich ganz schön beeilen in drei Monaten Freiheit.
    Schuster: Da musste er sich beeilen. Aber wenn Sie den Tagesablauf, der sehr atemlos ist, anschauen, dann ist es sozusagen eine Jagd hinter sich selbst her. Er ist ein großer Womanizer, das war er wohl immer, und macht sich geradezu einen Sport daraus, Zufallsbekanntschaften zu schließen und die dann natürlich auch entsprechend zu steuern. Ich sage das deswegen, weil der Zungenschlag pornografischer Roman ist ganz irreführend. Es ist ein großes Berlin-Stück und das ist im Werke Borchardts auch ganz ungewöhnlich, weil wir ihn normalerweise als einen abgehobenen Erzähler kennen, der sich eher in historischen Stoffen bewegt, und wir haben hier einen ganz hellsichtigen Beobachter, der das Alltagsberlin um 1900 in einer Weise schildert, wie ich zumindest in Deutschland kein vergleichbares Beispiel kenne.
    Wir reden immer von den 20er-Jahren, die "golden Twenties", mit den Versatzstücken Straßencafé und Jazz und so weiter, aber hier sieht man das kaiserzeitliche Berlin, nur eben nicht feierlich mit Paraden und Blechmusik, sondern hier sieht man die ganze Halbwelt dieses Berlin um 1900, und das ist ganz großartig geschildert.
    "Borchardt ist kein Humorist"
    Allroggen: Sie haben Borchardts amouröse Erfahrungen in seiner Zeit in Berlin ja als "Weltpuff Berlin" bezeichnet. Das Ganze hat literarische Qualität, haben Sie gerade gesagt. Hat es auch eine gewisse komische Seite, oder nimmt sich Borchardt auch hier sehr ernst?
    Schuster: Borchardt ist kein Humorist. Das kann man nicht sagen. Und Selbstironie ist nicht unbedingt seine Stärke. Das Wort "Weltpuff" ist ein Zitat aus dem Text, der ja keine Überschrift hat. "Weltpuff" habe ich jetzt vorläufig mal vorgeschlagen, "Weltpuff Berlin", weil das kommt in einer wörtlichen Rede vor, wo er sagt, Berlin ist ein Weltpuff. Das heißt, da kommt internationales Publikum zusammen aus allen Gegenden …
    Allroggen: Schön doppeldeutig.
    Schuster: Sehr doppeldeutig. - Das ist also ein Kreuzungspunkt der Begierden und der Leidenschaften und das ist die obere Welt und es ist auch die untere Welt, es sind die Grand Hotels genauso wie die Stundenhotels. Da trifft sich alles und das verquirlt sich sozusagen zu einer neuen Internationalität, und das wird in diesem Text abgebildet.
    Allroggen: Gerhard Schuster klärte auf über das von ihm entdeckte pornografische Romanfragment Rudolf Borchardts.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.