Florian Tefke „Kannst Du mich sehen?“ Schüler: „Ja.“ Florian Tefke: „Dann stelle ich hier mal einen Teller hin…Kannst du mich jetzt sehen?“ Auf dem Schulhof der Grundschule Marmstorf ist der Tote Winkel Thema. Rechts neben einem Löschgruppenfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr steckt Polizeiverkehrslehrer Florian Tefke mit roten Hütchen den Bereich ab, in dem die Schülerinnen und Schüler am Ende verschwinden werden. Zumindest für Klassenlehrerin Meriam Hamouda, die hinterm Steuer sitzt.
Tefke: „Seid ihr alle drinne? – Frau Hamouda, wen können Sie alles sehen von den Kindern, die direkt neben dem Lkw stehen?“ Hamouda: „Gar keinen mehr!“ Tefke: „So, Freunde! Obwohl ihr direkt neben dem Lkw steht, werdet ihr nicht gesehen. Wollt ihr es mal selber ausprobieren? Ok. Dann fangen wir mit den Mädchen an. Ladies first!“ Jeder und jede darf einmal ins Führerhaus klettern. Jeder und jede merkt sofort, was mit dem Toten Winkel gemeint ist.
Jedes Jahr führt dieser blinde Fleck auf der rechten Fahrzeugseite zu schweren Unfällen. Wenn Lkw-Fahrer beim Rechtsabbiegen Menschen übersehen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, enden diese Unfälle besonders oft tödlich.
Wie Abbiege- oder Totwinkel-Assistenten arbeiten
Genau das soll die EU-Verordnung 2019/2144 ändern. Neben einer ganzen Reihe anderer Sicherheitsvorschriften schreibt die Verordnung vor: Ab dem 6. Juli 2022 müssen von Grund auf neu entwickelte Lkw-Typen mit Abbiege-Assistenzsystemen ausgestattet sein. Ab Juli 2024 gilt diese Regel dann auch für alle neu zugelassenen Lkw. Die Abbiege- oder Totwinkel-Assistenten arbeiten mit Sensoren und sollen die Fahrerinnen und Fahrer immer dann durch optische und akustische Signale warnen, wenn sich Menschen im Toten Winkel befinden.
Wie viele schwere Unfälle es durch rechtsabbiegende Lkw jedes Jahr gibt, beobachtet die Interessenvertretung von Radlerinnen und Radlern, der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club. Der ADFC wertet dazu Polizei- und Pressemitteilungen zu Unfällen im Straßenverkehr aus. Und dabei gebe es einen erfreulichen Trend, sagt Roland Huhn, Rechtsreferent beim ADFC.
Huhn: „Über die Jahre gab es jährlich 33 Unfälle: ‚Lkw beim Abbiegen überfährt Radfahrer oder Radfahrerin mit tödlichen Verletzungen‘. 2020 war nochmal ein Höhepunkt mit 40 Toten, aber im Jahr darauf, im letzten Jahr waren es 20. Und dieser Trend setzt sich dieses Jahr fort. Wir sind mittlerweile schon im Juni und wir haben bisher fünf tödliche Unfälle verzeichnet.“ Für Roland Huhn vom ADFC sind die sinkenden Zahlen ein Beleg dafür, dass kluge rechtliche Vorgaben tatsächlich helfen, schwere Unfälle zu verhindern.
Was jetzt schon vorgeschrieben ist
So schreibt die Straßenverkehrsordnung schon seit 2020 vor, dass Lkw-Fahrer nur noch mit Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen dürfen. Und schon heute seien viele Lkw mit Abbiege-Assistenten unterwegs, sagt Roland Huhn. Dass es nun auch eine EU-weite Regelung gibt, das sei ein Schritt in die richtige Richtung. Aber der Schritt komme sehr spät.
Denn die Technik des Abbiege-Assistenten sei schon vor Jahren verfügbar gewesen. Aber für die Verkehrsminister der 27 EU-Länder hätte das Projekt nicht die höchste Priorität gehabt, kritisiert Rechtsreferent Roland Huhn. Den damals zuständigen deutschen Bundesverkehrsminister nimmt er in diesem Fall dennoch gegen Kritik in Schutz. „Der letzte Bundesverkehrsminister, Herr Scheuer, hat sich da große Mühe gegeben, hat noch rein halbes Jahr früher rausgeholt. Deswegen auch das Inkrafttreten im Juli und nicht, wie sonst, zum Jahresanfang. Mehr war halt nicht drin.“
Andere EU-Länder hätten nun mal weniger Interesse an neuen Fahrerassistenzvorgaben als Deutschland, sagt Huhn. Zum Beispiel, weil dort weniger Menschen durch Abbiegeunfälle sterben oder verletzt werden. „Es gibt Länder, die haben wenig Radverkehr. Es gibt Länder, die haben keine eigene Lkw-Industrie. Es gibt andere Länder, die haben eine, sind aber vielleicht nicht ganz so stark wie die deutsche Industrie, die sagt: ‚Wir haben die Technik eigentlich schon. Von uns aus könnte das alles viel früher kommen.‘ Andere haben da eher gebremst.“
Das bestätigen auch diejenigen, die im Verkehrsausschuss des EU-Parlaments an der Verordnung mitgearbeitet haben. Gegenwind für eine schnellere Umsetzung sei aus einigen osteuropäischen Ländern gekommen, sagt Ismail Ertug. Er sitzt für die SPD im EU-Parlament. „Die ganze EU ist ja auch ein Kompromiss, sage ich immer. Und auch da gibt es Kompromisse. Und bei Kompromissen sind sie eben daran gebunden, auch womöglich diejenigen Länder zu bedienen, denen das etwas zu schnell geht. Kurzum: Ja, es hätte schneller gehen können, kann man bedauern, aber das ist nun mal so in der Europäischen Union.“
Kritik am Zeitplan
Wie Roland Huhn vom ADFC lobt auch Ismail Ertug das Engagement des einstigen CSU-Bundesverkehrsministers Scheuer für die möglichst schnelle Einführung von Abbiege-Assistenten. Kritik gibt es trotzdem. Etwa von der Grünen-EU-Abgeordneten Anna Deparnay-Grunenberg. Sie kritisiert, dass die Abbiegehilfe erst in zwei Jahren auch bei neuzugelassenen Lkw zur Pflicht wird. „Jede Zahl ist einfach ein Mensch, der auf der Straße in einer Alltagsmobilitätssituation das Leben verliert. Das müssen wir nicht vergessen. Deswegen bin ich nicht wirklich zufrieden – neue Fahrzeugtypen ab 2022, für die Neuzulassung ab 2024. Es ist auch problematisch mit dem Bestand und das lässt auch viel Zeit für noch einige unnötige Unfälle.“
Damit auch der Lkw-Bestand nachgerüstet wird, initiierte Andreas Scheuer die Aktion „Ich hab‘ den Assi“. Die Idee: Auch das Speditionsgewerbe soll seinen Beitrag zur Nachrüstung leisten. Unterstützt wird dieser Ansatz vom „Bundesverband Spedition und Logistik“ oder dem „Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung“, kurz: BGL.
Auch wenn Lkw-Fahrer heute durch mehr Außenspiegel als je zuvor die rechte Fahrerseite besser im Blick haben, bleibe der Tote Winkel eine Gefahr, sagt BGL-Sprecher Martin Bulheller: „In der konkreten Abbiegesituation muss er auf den Gegenverkehr achten, er muss auf den Querverkehr von rechts und links achten, er muss auf die Ampel gucken, wenn eine da ist, er muss auf die Beschilderung gucken. Er muss in so viele Richtungen gucken während des Abbiegevorgangs, dass die Wahrscheinlichkeit viel zu hoch ist, dass er den Radfahrer, der da mal für einen kurzen Moment in seinem rechten Spiegel auftaucht und als dunkler Punkt da durchhuscht, dass er den Moment verpasst.“
Verbandssprecher: 80 Prozent der Unfallfahrer müssen Beruf aufgeben
Für Verbandssprecher Martin Bulheller ist der Abbiege-Assistent eine Herzensangelegenheit. Vor ein paar Jahren starb die junge Tochter eines Bekannten. Ein Lkw-Fahrer hatte sie beim Rechtsabbiegen übersehen. Noch heute mache es ihm zu schaffen, wenn er an der Unfallstelle vorbeifährt. Und natürlich treffe so ein Unfall auch die Fahrer der Lkw, sagt Bulheller. „Die für uns zuständige Berufsgenossenschaft sagt also: Bei Lkw-Fahrern, die an tödlichen Abbiegeunfällen beteiligt sind, müssen 80 Prozent den Beruf aufgeben, die können kein Lenkrad mehr in die Hand nehmen. Die müssen sich irgendwas Anderes suchen. Und die sind natürlich auch vielfach psychisch langzeitgeschädigt.“
Bulheller geht davon aus: Die Neuregelungen der EU zu den Abbiege-Assistenzsystemen werden erst in den nächsten Jahren greifen. Erst dann, wenn diese Systeme auch bei neuzugelassenen Lastern Pflicht werden. Eine verpflichtende Nachrüstung der schon rund 600.000 Lkw auf deutschen Straßen ist nicht vorgesehen. Aber es gibt Nachrüst-Programme der Bundesregierung und auch in vielen Bundesländern ist das Thema längst angekommen. Vorreiter war der Stadtstaat Hamburg.
Ausgearbeitet wurden die Pläne in der Innenbehörde unter Senator Andy Grote, SPD. „Die ersten Überlegungen gab es 2018. Wir hatten eine ganze Reihe schwerer, zum Teil tödlicher Abbiegeunfälle, wo Radfahrer dann auch ums Leben gekommen sind. Da haben wir gesagt: ‚Wir müssen was machen!‘ Wir haben uns dann mit der ganzen Regelungslage, mit den eigenen Möglichkeiten im Land und der EU auseinandergesetzt und haben gesagt: ‚Das geht uns alles zu langsam, wir müssen hier was Eigenes machen!‘“
Schnell war klar: die Handelsmetropole Hamburg kann keine Vorgaben für die tausenden, auch ausländischen Lkw machen, die Tag für Tag vor allem im Hafen, aber auch auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Stattdessen nahm der Hamburger Senat die Lkw von städtischen Unternehmen in den Blick. „Die städtischen Fahrzeuge sind halt immer in der Stadt, immer hier im Verkehr. Deswegen haben wir gesagt, mit denen fangen wir an. Erstmal die über 7,5 Tonnen, das sind 900 Fahrzeuge gewesen immerhin. Und dann im zweiten Schritt auch die über 3,5 Tonnen schweren Fahrzeuge. Das waren dann nochmal 600. Also insgesamt 1.500 Fahrzeuge. Und wir haben parallel eben auch Logistikunternehmen in Hamburg angesprochen, die dann zum Teil auch mitgemacht haben, sodass wir darüber auch nochmal ein paar hundert Fahrzeuge ausgestattet haben.“
Mit Sensoren gegen die Unfallgefahr
In Hamburg sind heute schwere Feuerwehrfahrzeuge, Mülllaster, Polizei-Lkw und Wasserwerfer mit Abbiege-Assistenzsystemen unterwegs. Die Hamburger Hochbahn, das städtische Verkehrsunternehmen, hat 600 ihrer 1.110 Busse schon nachgerüstet. Am Ende soll die ganze Flotte mit der Abbiegehilfe unterwegs sein, erklärt Hochbahn-Ingenieur Thilo Kemper vor einem parkenden Bus auf dem Betriebshof. „Dass der Bus einen Abbiege-Assistenten verbaut hat, das sieht man am kleinen schwarzen Kasten hinter dem Vorderrad an der rechten Seite, das ist nämlich der Sensor. Das ist ein Radarsystem…der tastet mittels Radarstrahlen hier das Umfeld ab in einem Bereich fünf Meter vor dem Sensor, fünf Meter hinter dem Sensor und in der Breite drei Meter, also über eine gesamte Fahrbahn.“
Der Radarsensor schickt die Umgebungsinformationen dann in den Innenraum. Benny Bahrs ist Busfahrer bei der Hochbahn. Langsam fährt er an, will demonstrieren, wie das System arbeitet. Rechts neben der großen Frontscheibe kann Benny Bahrs auf einem kleinen, kreisrunden Display erkennen, ob der Bereich neben dem Bus frei ist oder nicht.
„Wir haben am Anfang zwei grüne Punkte auf der rechten Seite. Und diese grünen Punkte, die breiten sich dann ringförmig nach oben und unten, also halbmondförmig um den Kreis rum aus. Und dann kommen die nächsten LEDs dazu und dann färbt sich das langsam von Grün über Gelb ins Orangerote hinein. Und dann macht er auch diese Geräusche und piept dann auch gleich los.“ Draußen auf dem weiten Hochbahn-Parkplatz steht Thilo Kemper und simuliert den Ernstfall. Mit anderthalb Meter Abstand fährt Benny Bahrs langsam an ihm vorbei. - Setzt dann den Blinker rechts.
„Ich hab‘ den Lenker jetzt nach rechts eingeschlagen gehabt, den Blinker rechts gesetzt. Und er wäre genau in meine Abbiegerichtung hineingelaufen. Und dann fängt er an zu Piepen und jetzt blinkt er auch in den Farben Grün und Rot. Da ist Gefahr, da ist etwas, was sich in Deine Fahrtrichtung hineinbewegt.“ Gerade wenn der Bus besonders voll ist, bei schlechtem Wetter oder in den dunklen Wintermonaten sei der Abbiegeassistent eine große Hilfe für Busfahrer, findet Benny Bahrs.
Auch wenn das System beim Heranfahren an Bushaltestellen oft warnt, obwohl keine Gefahr droht. Das Radar kann dann nicht unterscheiden zwischen einem Radfahrer, der sich nähert und Fahrgästen, die sich bei der Ankunft des Busses schon mal in Richtung Fahrbahn aufmachen. Auch wegen der Fehlalarme ist Benny Bahrs froh, dass das System nicht auch noch mit einem Notbrems-Assistenten gekoppelt ist. „Bei einem Verkehrsunfall ist oft gar nicht der Aufprall, also wenn man einen PKW wegschiebt, das Schlimme, sondern dieses Bremsen, diese Vollbremsung von einem Fahrzeug. Das ist auch für die Fahrgäste alles andere als bequem und kann auch schon zu Verletzungen führen. Und so hat der Busfahrer zumindest immer die Kontrolle über das Fahrzeug.“
Versicherer: Es dauert noch zehn Jahre
Die flächendeckende Einführung zusätzlicher Assistenzsysteme wird sich noch lange hinziehen – vor allem weil die Assistenten erst ab 2024 für Neuzulassungen vorgeschrieben sind. Das sagt Siegfried Brockmann. Er leitet die „Unfallforschung der Versicherer“ unter dem Dach des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft. „Einen kleinen Vorteil haben wir beim Lkw, die Umschlagsgeschwindigkeit ist hier kürzer als beim Pkw. Denn die werden ja abgeschrieben und das heißt, die Haltedauern sind kürzer als beim Pkw und deswegen kommen neue Fahrzeuge auch etwas besser in den Markt. Gleichwohl wird es so sein, dass von jetzt an gerechnet es sicherlich noch etwa zehn Jahre braucht, bis jeder Lkw mit einem Assistenten ausgerüstet ist.“
Damit auch losgelöst von den EU-Regularien möglichst viele Lkw auf deutschen Straßen die neuen Systeme nutzen, folgen viele Bundesländer dem Hamburger Vorbild. In Hessen und Berlin, in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen, in Bayern und Brandenburg wurden nach Auskunft der zuständigen Ministerien die schweren landeseigenen Fahrzeuge mit Totwinkel-Assistenten nachgerüstet. Auch etliche Kommunen rüsten ihre städtischen Flotten nach.
Und auch der Bund hat ein Förderinstrument geschaffen, das Speditionen bei der Nachrüstung ihres Fuhrparks unterstützen soll. Über das so genannte „De-Minimis“-Programm wurden in den letzten zwei Jahren Abbiegesysteme für knapp 6.000 besonders schwere Lkw gefördert. Aus einem weiteren Topf wurde die entsprechende Nachrüstung für 28.600 Fahrzeuge ab 3,5-Tonnen subventioniert.
Trotzdem verzichten viele Unternehmer bisher darauf, ihre Lkw in der Werkstatt mit der Technik ausstatten zu lassen, erklärt Martin Bulheller vom „Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung“. „Der Unternehmer muss natürlich als Unternehmer rechnen. Und für den Tag hat er keine Einnahmen. Und bei den Niedrigmargen, die wir in der Branche haben – wenn sie gut sind, haben sie drei Prozent Umsatzrendite im Moment mit den extrem gestiegenen Dieselpreisen – da muss man froh sein, wenn überhaupt noch was übrig ist.“
Die Hamburger Mobilitätsexpertin Katja Diehl geht dennoch davon aus: für große Logistikunternehmen ist die Ausrüstung ihrer Lkw-Flotte mit Abbiege-Assistenten kein finanzielles Problem. Dagegen stünden kleinere Speditionen – nach Ausfällen in der Pandemiezeit und durch die gestiegenen Dieselpreise – unter Kostendruck. „Es ist natürlich auch kein Geheimnis, dass die Lkw-Branche sehr spitz rechnet und zum Teil auch gar nicht mehr deutsches Personal nimmt und deutsche Fahrzeuge fahren lässt. Das ist ja alles sehr auf billig, billig ausgelegt. Und da sind natürlich die Tausender, die so ein System auch kostet, nicht gerade erwünscht. Ich glaube, da steht dieses Gewinnmachen eher im Fokus als Sicherwerden.“
Und eine Pflicht zur Nachrüstung der bestehenden Lkw-Flotte gibt es nicht, kritisiert Katja Diehl. Wie viele Lkw freiwillig mit einem Totwinkel-Assistent auf deutschen Straßen unterwegs sind, dazu liegen dem zuständigen Bundesamt für Güterverkehr, das auch die Fördergelder vergibt, keine Zahlen vor. Martin Bulheller tippt auf eine fünfstellige Zahl von Lkw – bei über 420.000 mautpflichtigen Lkw, die nach Angaben des Bundesamts für Güterverkehr tagtäglich in Deutschland unterwegs sind.
Weil es noch Jahre dauern wird, bis ein Großteil der europäischen Lkw mit Totwinkel-Warnern unterwegs ist, plädiert Katja Diehl dafür, den Gütertransport in Städten in Zukunft ganz neu zu denken. „Ich sehe es als unzeitgemäß an, nicht nur im Sinne der Sicherheit, sondern auch im Sinne von Stadtgefühl und Raumgefühl, dass solche riesigen Dinger überhaupt noch hierherfahren müssen. Ich sehe nicht, dass zukünftig noch solche großen Tonner sich durch unsere Stadträume bewegen.“
Größte Gefahr geht nicht von Lkw aus
Stattdessen könnten außerhalb der Städte Logistikdrehscheiben entstehen. Um die Waren dann von dort aus mit kleinen Lieferwagen ins Zentrum zu transportieren. Schon heute könnte auch der Straßenraum so umgebaut werden, dass allein durch die Verkehrsführung, durch getrennte Fahrspuren für Kfz und Radfahrer, Unfälle vermieden werden. Diesen Ansatz unterstützt auch Unfallforscher Siegfried Brockmann vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft.
„Wenn wir das auseinanderziehen, das heißt, wenn ich getrennte Ampelphasen habe – der Radfahrer hat Grün, wenn der abbiegende Autofahrer Rot hat und umgekehrt – dann habe ich natürlich auch keinen Konflikt mehr, das ist ja klar. Es sei denn, jemand missachtet das Rotlicht. Aber ansonsten habe ich diese Stellen dann vollständig befriedet.“
In Kopenhagen und Amsterdam sind diese entzerrten Kreuzungen längst Realität. Natürlich müssten die Menschen dann an den Ampeln mehr warten und es brauche ausreichend Platz für die Zusatzspuren, sagt Brockmann. Aber am Beispiel Berlin – der Stadt, in der Brockmann lebt – zeige sich, dass Kreuzungsumbauten für mehr Verkehrssicherheit bei vielen Stadtverwaltungen einfach keine Priorität haben.
„Das ist auch meine Hauptkritik, dass da keine Bestandsaufnahme stattgefunden hat. Wenn es sie gibt, weiß ich davon nichts. Das müsste gleich in eine Pipeline gelenkt werden, dass man sagt: ‚Ok, diese Stellen, die können wir im Zeitraum X umrüsten und das ist jetzt unser Plan.‘ Das vermisse ich im Moment total. Denn was man tun kann, das sollte man eben auch tun.“
Die EU-Verordnung 2019/2144 mit ihren Vorschriften für neue Assistenzsysteme wird mehr Sicherheit bringen, sagt auch Unfallforscher Brockmann. Trotzdem wird er sich, wenn er mit dem Fahrrad auf Berliner Straßen unterwegs ist, nicht komplett auf die neue Technik verlassen. „Es gibt keinen Zeitvorteil, der es wert wäre, dass ich am Ende unterm Lkw-Zwillingsreifen liege. Insofern: wenn ich mir unsicher darüber bin, ob der Lkw wartet. Ehrlich gesagt: ich warte dann.“
Die neuen EU-Regelungen zu den Lkw-Abbiegeassistenten können Leben retten. Die Zahl von insgesamt 59 Menschen, die nach Angaben der Unfallforscher der Versicherungswirtschaft 2020 durch Unfälle mit Lkw starben, diese Zahl könnte noch weiter sinken. Allerdings geht die größere Gefahr für Menschen auf dem Rad gar nicht von Lkw aus. Bei Zusammenstößen mit Pkw starben 2020 154 Radfahrerinnen und Radfahrer.