"Wenn man im Kopf hat, wie 1989 die Wiedervereinigung gelaufen ist, Ungarn war der entscheidende Anstoß, wo die Zäune abgebaut worden sind. Und nun auf einmal werden diese Zäune aufgebaut."
Sagt der Leiter des Goethe-Instituts Budapest, Michael Müller-Verweyen.
"Ungarns Regierung sind nicht Ungarns Bürger. Es gab auch eine große Hilfsbereitschaft in Budapest, am Ostbahnhof, wo die Leute ankamen und versorgt wurden. Ungarn hat das Problem, dass es nur unter einer politischen Brille wahrgenommen wird."
Das reiche nicht, findet Müller-Verweyen. In Zeiten der Flüchtlingskrise, die den Nationalismus in Ungarn anschwellen lässt, hat das Goethe-Institut versucht, auch alternative Blicke auf Ungarn zu richten. Intellektuelle und Künstler zeigen hier, das andere Ungarn, das sich gegen die restriktive Flüchtlingspolitik der Regierung wendet. Das Projekt "Grüße aus der Mitte des Kontinents" zeigt auf einer zweisprachigen Internetseite Texte und Lesungen. Zudem Kurzvideos von Künstlern und Schriftstellern und Filmmaterial aus einem Flüchtlingslager.
Namhafte Autoren wenden sich gegen Orbán
Namhafte Autoren wie László Végel, Krisztina Tóth oder Görgy Dragomán zählen zu den Projektteilnehmern. Auch der Schriftsteller László Márton, der in seinem neuen, bald auch auf Deutsch erscheinenden Roman "Ungarn 1882" auf die lange Geschichte von Flucht und Vertreibung in Ungarn hinweist. Als ich ihn zum Gespräch in einem Budapester Café treffe, zitiert er zunächst ein paar Zeilen aus dem Romananfang.
"Der andere Hydrakopf, der unser Land anfletscht, ist die galizische Flüchtlingskrise. Zehntausende, ja hunderttausende Juden strömen aus Russland in unser benachbartes Galizien. Sie kommen in die Täler des Pruth und Sereth. Sie lungern herum in Stanislau, liegen auf der faulen Haut in Drohobytsch. Sie stehlen sich über den Uschok-Pass, schleichen den Verecke-Pass entlang und werden bald hier unter uns sein, wo wir doch so schon voll von Juden sind."
Lászlo Martón schildert die Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Ungarn, beschreibt, wie vor allem die Juden im Ungarn des 19. und 20. Jahrhunderts vertrieben wurden. Es ist eine Geschichte, die von den Ereignissen eingeholt wird.
"Dass die ungarische Gesellschaft schon vor 130 Jahren voll von Vorurteilen und Hass und Neid war und diese Züge bis heute nicht verschwunden sind. Heute sind nicht die Juden die Hauptdarsteller, sondern die Opfer des Bürgerkriegs in Syrien. Heute gibt es in Ungarn so gut wie überhaupt keine Flüchtlinge. Und trotzdem ist die Hysterie und die Angst sehr stark. Und das hängt auch mit historischen Reflexen zusammen. Eine Welle aus dem Osten ist immer hoch gefährlich. Ungarn ist immer das Opfer. Das Land ist mental total ausgeliefert und wird ruiniert."
Theaterprojekt für Jugendliche
Unweit des Parlaments hat Árpád Schilling, einer der bekanntesten Theatermacher und politischen Aktivisten Ungarns, sein Büro. Theaterpädagogische Arbeit mit Jugendlichen steht im Zentrum seines Projekts "Krétakör", das sich nach dem kaukasischen Kreidekeis von Bertolt Brecht benannt hat und mit dem er Jugendliche aus der politischen Apathie erwecken möchte.
"Krétakör ist kein Theater, es ist ein künstlerisch-soziales Projekt. Zum Beispiel zur Integration der Roma. Wir gehen aufs Land, in Schulen. Es sind gerade die 14- bis 18-jährigen Schüler, die wir mit politisch-demokratischen Fragen erreichen wollen. Politik muss auch in der Schule ankommen. Jetzt machen wir gerade ein Projekt mit ihnen gegen die Anti-Migrationspolitik im Land."
Das Referendum hält Schilling vor allem für ein Machtspiel Orbáns.
"Es ist eine Kampagne für seine Wiederwahl 2018. Die Frage ist sinnlos. Es geht nicht um Brüssel, es geht um ihn. Viele Menschen verstehen das nicht, sie haben Angst."