Ankunft in Budapest. Treffpunkt ist der Mari-Jászai-Platz, an der Donau. Skater nutzen die Herbstsonne und probieren neue Kunststücke. Der 62-jährige Historiker János Rainer trägt Jeans und Brille, er wartet schon auf dem Platz, neben dem Denkmal für Imre Nagy, Symbolfigur des Aufstandes gegen die Sowjets und ihre ungarischen Statthalter. Das Denkmal steht erst seit Kurzem hier.
"Die Statue steht auf einer Brücke. Die Abdrücke der Panzerketten sind dort zu sehen. Imre Nagy steht in der Mitte der Brücke. Ursprünglich hat er auf das Parlament geblickt, den Ort, wo er die dramatischsten Stunden seines Lebens verbracht hat – als "Ministerpräsident der Revolution" – von Ende Oktober 1956 bis zum 4. November. Im Morgengrauen flohen sie von dort vor den Truppen der Sowjets."
Später – nach dem Scheitern des Aufstandes, wurde Imre Nagy hingerichtet, sein Leichnam verscharrt, erst 1989 feierlich umgebettet. Hunderttausende nahmen in Budapest daran teil, auch der damals noch junge Studentenführer Viktor Orbán.
Im "Weißen Haus" saß die Staatssicherheit
Neben dem Platz, linker Hand, steht ein weißer Bau. Der Volksmund nennt ihn das "Weiße Haus". Heute haben dort die Parlaments-Fraktionen ihre Büros. Es hat aber eine Geschichte, die weiter zurück reicht – in die Ostblock-Zeit:
"Dieses Haus war nach dem Krieg das Innenministerium, genauer der Sitz der Staatssicherheit, also die politische Polizei. Von 1957 bis zur 1989 war es dann der Sitz des Zentralrats der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Hier hatte auch János Kádár sein Büro. Und ganz frisch: Im Jahr 2019 holten sie auch die Statue von Imre Nagy her. Die war vor 13 Jahren nicht weit von hier aufgestellt worden, fünf Minuten Fußweg stand sie."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Ungarn und Europa - 30 Jahre Umbruch.
Imre Nagy passte nicht mehr
Die demokratische Opposition habe das Nagy-Denkmal nach 1989 nicht zufällig neben dem Parlament aufgestellt, sagt der Historiker, der ein Jahr nach dem Aufstand 1956 geboren ist. Und auch der Umzug der Imre-Nagy-Statue neben das Budapester "Weiße Haus" sei nicht zufällig, meint János Rainer, der heute an der Universität Eger lehrt:
"Das ist eine interessante Botschaft: Offiziell wurde die Imre-Nagy-Statue deshalb entfernt, weil dort ein Denkmal von 1934 wieder aufgestellt wird, das an die Opfer der Räterepublik von 1919 erinnert, die erste kommunistische Diktatur. Auf dem Kossuth-Platz findet ein großangelegter Umbau statt. Auf gut Deutsch: Der Platz soll so aussehen wie zum Ende der Herrschaft Horthys. Und da passte die Statue von Imre Nagy nicht hinein. "
Reichsverweser Horthy und seine Truppen hatten die Räterepublik 1919 bezwungen – und ein autoritäres System errichtet, das auch mit Hitler kooperierte, um die Gebiete zurückzubekommen, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Friedensvertrag von Trianon 1920 verloren gegangen waren – immerhin zwei Drittel des ungarischen Territoriums – in Siebenbürgen, der Zips, der Vojvodina.
Eindimensionale Sicht auf den Volksaufstand
Wir lassen Imre Nagy auf seiner Brücke aus Metall stehen, Grünspan verleiht ihr Patina, er trägt Hut, Brille und Mantel – so scheint uns der Politiker mit bronzenem Blick hinterher zu schauen. Wir spazieren am "Weißen Haus" vorbei, am Olympia-Park, die Ringe in ungarischen Farben angemalt, Straßenbahnen der Linie Zwei ziehen an uns vorbei – sie fahren in Richtung Kossuth-Platz, in Richtung Parlament.
János Rainer ist ein gewissenhafter Historiker, dem holzschnittartige Vereinfachungen ein Gräuel sind. Er erzählt davon, wie regierungstreue Historiker im Gedenkjahr 2016 zum 60. Jahrestag des Aufstandes Imre Nagy in Artikeln torpedierten, als Reformkommunist passte er nicht mehr ins "nationalistische" Geschichtsbild. Der Aufstands-Experte schimpft über die eindimensionale Sicht der heutigen Regierung auf 1956.
"Auf der einen Seiten waren die Kommunisten und die sowjetischen Truppen. Auf der anderen Seite das ungarische Volk. Und das Symbol dieser Erhebung waren die mit der Waffe in der Hand kämpfenden Jugendlichen, die "Pester Jungs". Die werden idealisiert – und auf der anderen Seite waren die Truppen des Teufels. Die Arbeiterräte, die verschiedenen linken Parteien – die werden unterschlagen. Damals wollte man aber nicht das Horthy-Regime restaurieren, man dachte, es gibt eine Art dritten Weg: ein bisschen demokratisch, ein bisschen sozialistisch, ein bisschen bürgerlich. Und das wollen sie vereinfachen."
"Das hier ist doch sehr die alte Horthy-Propaganda"
Wir stehen jetzt auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament, an der großen Trikolore werden die beiden Wachsoldaten abgelöst. Touristen auf Segway-Rollern fahren vorbei. Eine Reiseführerin aus Granada stellt sich ihrer Gruppe vor.
János Rainer zeigt auf einen Bauzaun, der mit einer Sichtblende versehen ist, wir treten näher, spähen durch ein paar Schlitze. Nächstes Jahr wird des Trianon-Friedensvertrages von 1920 gedacht, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor. Den Tag der Unterzeichnung – den 4. Juni – hat die Regierung zum offiziellen Feiertag gemacht und "Tag des Zusammenhalts" getauft. János Rainer erklärt, was hier gebaut wird.
"Hier entsteht der Trianon-Gedenkort. Das ist eine in die Erde eingelassene Rampe, die man hier sieht. Da kann man hinunter gehen – und auf Marmortafeln links und rechts – so die Pläne – sieht man die Namen der Ortschaften im alten Ungarn. Ich denke, die Botschaft ist: Das alte Ungarn ist untergegangen, aber nur unter der Oberfläche. Natürlich ist Trianon traumatisch. Aber das hier ist doch sehr die alte Horthy-Propaganda: zurück zum alten Ungarn."
Die innenpolitische Botschaft: Ungarn als Opfer
Natürlich wolle niemand die mitteleuropäische Friedensordnung verändern, und Grenzen neu ziehen, glaubt der Historiker, die Botschaft sei eine innenpolitische: Ungarn als Opfer, die ungarische Nation, die so viele Schläge hinnehmen musste, die Einheit der Nation, die als Gedanke weiter lebt – damit wolle die Regierung Orbán das Land zusammen halten.
"Hier ist nicht von künftigen Zielen die Rede, sondern von der glorreichen Vergangenheit – und ihren Schatten. Eine Karikatur, wie ich meine, man könnte auch klüger über die Vergangenheit sprechen, oder über die Gegenwart oder - um Gottes willen – über die Zukunft. "
Am Parlament hängen nur zwei Flaggen: Die von Siebenbürgen und die ungarische, die blaue EU-Fahne fehlt. Eine Entscheidung des Hausherrn – Parlamentspräsident Kövér – und auch das eine politische Botschaft: Nation sticht Europa. Der gleiche Hausherr hat kürzlich erklärt, "checks and balances" – demokratische Kontroll-Mechanismen - seien "Mist". Kritische Journalisten hat er mit Hausverbot belegt und eine eigene Leibgarde installiert.
"Nach 30 Jahren zurückzuschauen, das ist bitter"
An der linken Seite des Parlaments führt eine Treppe unter den Platz, auf dem die Sowjets und ihre ungarischen Verbündeten 1956 ein Blutbad angerichtet haben. Im Keller gibt es eine multimediale Dauerausstellung, man hört die sowjetischen Panzer und Zeitzeugen erzählen.
János Rainer hat die Ausstellung mit konzipiert – lange Jahre hat er das Institut zur Erforschung des Aufstandes von 1956 geleitet, eine Gründung der Wendezeit. Fast auf den Tag 30 Jahre nach seiner Gründung wurde es dem umstrittenen Veritas-Institut angegliedert, und kam damit unter Regierungskontrolle. Der alte Sitz, die Räume in einem Altbau in der Innenstadt, sind leer, erzählt Rainer. Er und seine Kollegen kündigten.
"Nach 30 Jahren zurückzuschauen, das ist bitter. Ich war 1989 schon erwachsen, das war vielleicht die glücklichste Zeit meines Lebens. Und es verbittert mich sehr, dass das nur eine Episode war und wir seit gut neun Jahren in eine sehr andere Richtung gehen. Das ist eine autokratische Ordnung, deren Schlagkraft seit 2010 beständig wächst. Und ich habe das Gefühl: Das Ende der Fahnenstange ist hier noch nicht erreicht. "