EU-Ratsvorsitz Ungarn
Rückt Orbán die EU noch weiter nach rechts?

Am 1. Juli übernimmt Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft - das Mitgliedsland, das sich am häufigsten und konsequentesten gegen die europäische Zusammenarbeit stellt und ein anderes Europa anstrebt. Was kann man von dieser Präsidentschaft erwarten?

01.07.2024
    Ungarns Premierminister Viktor Orban neben Fahnen europäischer Länder
    Ungarn übernimmt ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft und stellt sie unter das Motto: "Make Europe great again". (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Geert Vanden Wijngaert)
    Ungarn ist seit 2004 EU-Mitglied. Unter seinem Ministerpräsidenten Viktor Orbán übernahm es 2011 erstmals die EU-Ratspräsidentschaft. Ab dem 1. Juli dieses Jahres steht Ungarn erneut an der Spitze, obwohl es unter Orbán oft gegen die europäische Zusammenarbeit opponiert hat und an einem Europa arbeitet, das grundlegend anders sein soll.

    Inhalt

    Welche Agenda will Ungarn bei seinem zweiten EU-Ratsvorsitz setzen?

    Ungarn hat seine EU-Ratspräsidentschaft unter das Motto "Make Europe Great Again" gestellt, eine Anspielung auf das Wahlkampfmotto des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, "Make America Great Again". Orbán gilt als Unterstützer von Trump. Auch zu Russland pflegt der Ungar enge Beziehungen – sein demonstrativer Handschlag mit Präsident Wladimir Putin provozierte in Brüssel Ärger.
    Ungarns Ratspräsidentschaftsprogramm spiegelt zudem klar die nationalen Interessen wider, wie den Ausbau des Handels mit Asien und die Förderung der EU-Erweiterung Richtung Westbalkan. Der Budapester Soziologe Balint Major ordnet diese Ziele im Kontext von Ungarns guten Beziehungen zu China und Serbien ein. Ungarn wolle neue strategische Partner gewinnen, nachdem Polen als Verbündeter verloren gegangen sei.
    Budapest will den Fokus auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der EU und die Verteidigungsfähigkeit Europas legen. Ein Sprecher der ungarischen Regierung in Budapest nannte zudem die Bekämpfung der irregulären Migration als eine der Hauptprioritäten der ungarischen Ratspräsidentschaft. Er betonte die Notwendigkeit einer effektiven Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten und den wichtigsten Herkunfts- und Transitländern.
    Einen Tag vor Beginn der Ratspräsidentschaft kündigte Orbán ein neues Bündnis seiner rechtspopulistischen Fidesz-Partei mit politisch ähnlich ausgerichteten Parteien aus Österreich und Tschechien an. Es soll die größte Rechtsaußenfraktion im EU-Parlament werden. Die Gruppierung soll den Angaben zufolge „Patriots for Europe“ (Patrioten für Europa) heißen. 
    Trotz Orbáns konfrontativer Rhetorik in der Vergangenheit erwartet Politologin Ellen Bos von der Andrássy-Universität in Budapest eine professionelle und kooperative Durchführung des Vorsitzes. Die sehr scharfen Töne des ungarischen Ministerpräsidenten seien ganz stark für die innenpolitische Auseinandersetzung in Ungarn gedacht. Das Programm der Ratspräsidentschaft zeige eine versöhnliche Ausrichtung. Darin heißt es:

    Ungarn wird sich als ehrlicher Makler im Geiste einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen, für den Frieden, die Sicherheit und den Wohlstand eines wirklich starken Europas einsetzen.

    Dies deute darauf hin, dass Ungarn bestrebt sei, eine konstruktive Rolle zu spielen und das negative Bild, das es momentan habe, in der EU wieder aufzuhellen, so Bos. Ungarn habe zwar immer die Möglichkeit, Themen zu verschieben und Entscheidungen zu verzögern. Doch weil es in vielen Positionen Ungarns keine Mehrheit gibt, glaubt die Politologin nicht an eine grundsätzliche Änderung des Kurses.

    Was bedeutet der ungarische Ratsvorsitz für die Rechtspopulisten im Parlament?

    Orbán strebt danach, die EU grundsätzlich umzugestalten. Er setzt darauf, dass innerhalb der EU-Mitgliedstaaten ein politischer Umschwung stattfindet, der mehr rechtspopulistische Parteien in Regierungsposition bringt, sodass sich dann seine Linie durchsetzen wird.
    Politologin Bos sieht diese Ziele aber in weiter Ferne. Rechtspopulistische Kräfte seien zwar stärker geworden. "Aber sie sind noch weit davon entfernt, eine Mehrheit sowohl im Europäischen Rat als auch im Europäischen Parlament zu haben."
    Die Rechten im neuen Parlament seien zudem viel gespaltener als noch im alten Parlament, da sie unterschiedliche Fraktionen planen.
    Ungarn übernimmt den Ratsvorsitz in einer Zeit des Umbruchs in den Institutionen, nur drei Wochen nach der Europawahl. Genau das macht die sechs Monate aber auch besonders, sagt Politologin Bos. Denn im Mittelpunkt stehen erstmal die Verteilung der wichtigsten Ämter in der Europäischen Union. Das Parlament muss sich konstituieren, die Fraktionen müssen sich finden. "Es sind eher solche Aufgaben, die im Mittelpunkt stehen, und es wird wenig Gesetzgebungsarbeit geben."

    Wie hat sich Beziehung zwischen Ungarn und der EU entwickelt?

    Der Beitritt zur EU im Jahr 2004 war für Ungarn ein bedeutender Schritt Richtung Westen. Die Mitgliedschaft brachte wirtschaftliche Unterstützung und Reformen in vielen Bereichen, einschließlich Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. In den ersten Jahren gab es eine positive Zusammenarbeit mit der EU, während Ungarn seine Institutionen an europäische Standards anpasste.
    Das Land zählt zu den größten Empfängern von EU-Finanzmitteln. Diese Gelder kommen vor allem ungarischen Landwirten zugute und tragen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur im Land bei.
    Obwohl Orbán in seiner ersten Amtszeit proeuropäisch agiert hatte, änderte sich sein Kurs nach der Wiederwahl 2010 drastisch. Es kam zu Spannungen mit Brüssel aufgrund von Reformen, die die Medienlandschaft und institutionelle Unabhängigkeit in Ungarn beeinflussten.
    Seit 2018 läuft gegen Ungarn ein Verfahren nach Artikel sieben des EU-Vertrags, mit dem die EU-Grundwerte geschützt werden sollen. Dies könnte zu einem Stimmrechtsentzug im Europarat führen, was aber als unwahrscheinlich gilt, weil dafür die Zustimmung aller anderen 26 Mitgliedsstaaten nötig ist.
    Zusätzlich hat die EU 2021 einen neuen Rechtsstaatsmechanismus eingeführt, um EU-Gelder zurückhalten zu können, wenn in einem Mitgliedsland die Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist. Ungarn erhielt im Frühjahr 2022 die erste Mitteilung, seitdem wurden mehrere Milliarden Euro an EU-Geldern nicht ausgezahlt. Zudem wurde Ungarn im Juni 2024 zu einer Geldstrafe von 200 Millionen Euro verurteilt, weil es das EU-Asylrecht missachtet hatte.
    Das EU-Parlament hatte für die Aussetzung der ungarischen Ratspräsidentschaft gestimmt, die Staats- und Regierungschefs der anderen Mitgliedsstaaten lehnten dies jedoch ab .

    Welche Aufgaben und Bedeutung hat der EU-Ratsvorsitz?

    Der Ratsvorsitz steht nicht zur Wahl: Jedes EU-Mitgliedsland übernimmt etwa alle dreizehneinhalb Jahre für ein halbes Jahr den Vorsitz, unabhängig von seiner Größe. Ungarn folgt auf Belgien, ab Januar 2025 übernimmt turnusgemäß Polen für ein halbes Jahr.
    Der Vorsitz im Rat der Europäischen Union hat zwei Hauptaufgaben: Er plant und leitet die Sitzungen des Rates und seiner Vorbereitungsgremien, um einen geordneten Ablauf der Gesetzgebungsverfahren sicherzustellen. Und er vertritt den Rat gegenüber anderen EU-Organen wie der EU-Kommission und wirkt in Verhandlungen und Sitzungen auf Einigungen über Gesetzgebungsvorhaben hin, soll also als "Makler" fungieren.

    Belgien hat wichtige Vorhaben noch im Juni über die Bühne gebracht

    Der Einfluss des EU-Ratsvorsitz-Landes ist aber überschaubar. Der größte Teil des Gesetzesvorhaben kommt von der EU-Kommission. Und: Die Spitzenjobs in der EU und ein Milliardenprogramm für die Ukraine sind noch im Juni unter der belgischen Ratsvorsitz beschlossen worden.
    Die Agenda bestimmt der Vorsitz hauptsächlich auf Ministerebene. Ungarn kann seine Themen in den nächsten sechs Monaten also auf die Tagesordnungen der Ministertreffen setzen. Allerdings sind die Minister nicht verpflichtet, diese Vorhaben zu genehmigen.
    Die Sitzungen aller Staats- und Regierungschefs werden von einem ständigen Ratspräsidenten geleitet. Aktuell ist dies noch der Belgier Charles Michel. Als dieser Anfang des Jahres zurücktreten wollte, gab es großen Widerstand, weshalb er seine Entscheidung zurückzog. Hätte bis zum 1. Juli kein Nachfolger gefunden werden können, wäre Orbán interimsmäßig auch Ratspräsident geworden.

    og