Archiv

Ungarn und der Grenzzaun
Kaum kritische Stimmen von Kirchenvertretern

Der ungarische Grenzzaun polarisiert. Die ungarische Regierung will mit dem Stacheldrahtzaun an der serbisch-ungarischen Grenze die Flüchtlingsbewegungen kontrollieren. Viele Ungarn protestierten. Die großen Kirchen aber verhielten sich still. Warum ist das so? Und warum erheben einige Bischöfe dennoch ihre Stimme?

Von Anna Frenyo |
    Syrische Flüchtlinge versuchen am 25.08.2015 von der serbischen Seite den Grenzzaun an der ungarisch-serbischen Grenze bei Röszke zu überwinden.
    Syrische Flüchtlinge versuchen von der serbischen Seite den Grenzzaun an der ungarisch-serbischen Grenze bei Röszke zu überwinden (Gregor Mayer)
    Diese Flüchtlinge müssen die Nacht vor dem Bahnhof Szeged verbringen. Rund fünfzig sind es an diesem Sommerabend im August – Männer, Frauen und Kinder aus Syrien und Afghanistan. Gerade wurden sie an der Grenze zu Serbien von der ungarischen Polizei aufgegriffen, nun schickt sie die ungarische Einwanderungsbehörde weiter in ein Flüchtlingslager. Der letzte Zug nach Budapest ist aber schon abgefahren. Die ungarische Bahngesellschaft hält ihre Wartehallen geschlossen, auch bei Kälte und Regen bleiben die Flüchtlinge draußen im Freien.
    Freiwillige Helfer bringen Essen und Wasser. Auch mit Informationen helfen sie weiter, sogar mit Notunterkünften. Die humanitäre Hilfe am Bahnhof kommt von Bürgern, die sich selbst organisieren, und nicht vom ungarischen Staat. Über tausend Flüchtlinge kommen täglich in Ungarn an. Die Einwanderungsbehörde verteilt an sie Dokumente auf Ungarisch – ohne freiwillige Helfer wie den evangelischen Pfarrer Sándor Cserháti würden sie nicht einmal wissen, in welches Flüchtlingslager sie weiterfahren müssen.
    "Gestern Nacht hat ein Mitarbeiter der Bahn mir gesagt, ich helfe hier bestimmt nur, weil ich unzufrieden mit meinem Beruf bin. Ich habe ihm nicht verraten, was mein Beruf ist. Neulich hat der Vizepräsident des nationalen Sicherheitsdienstes behauptet, wer den Flüchtlingen hilft, will die Regierung stürzen. Wenn ich so etwas höre, denke ich: Die Menschen suchen nach Scheinargumenten, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen – und zwar dafür, dass sie nicht mithelfen."
    Sándor Cserháti hilft bei der Bürgerinitiative freiwillig und nicht offiziell als Pfarrer – er versteht selber nicht, warum die Kirchen so langsam reagieren. 200 Kilometer weiter in Budapest erklärt es der lutherische Bischof Tamás Fabiny folgendermaßen:
    "Hier in Ungarn waren wir völlig unvorbereitet auf diesen Flüchtlingsstrom. Wir müssen dazu lernen. Wir brauchen Tipps und Hilfe von unseren evangelischen Partnergemeinden in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Italien. Wie helfen sie an Bahnhöfen? Wie funktioniert Kirchenasyl? Das ist in Ungarn völlig unbekannt."
    Kirchen schweigen zur Flüchtlingspolitik
    Mit etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung ist die evangelisch-lutherische Kirche eine kleine Kirche in Ungarn. Die calvinistisch-reformierte Kirche hat deutlich mehr Mitglieder, ungefähr 16 Prozent und die römisch-katholische Kirche über 50 Prozent. Ihre karitativen Einrichtungen sind etwa in den Flüchtlingslagern tätig. Zur Flüchtlingspolitik der Regierung nehmen sie jedoch nur sehr vorsichtig oder gar keine Stellung. Miklós Beer, Bischof von Vác in Nordungarn, ist einer der wenigen Katholiken, die ihre Stimme erheben und den Grenzzaun kritisieren:
    "Leider schweigt die Kirche. Das tut mir weh, und ich schäme mich dafür. Wir reagieren viel zu langsam. Anders als Papst Franziskus: Der hat sehr schnell reagiert. Bereits seine erste apostolische Reise führte nach Lampedusa. Und genau an dem Tag, als Ungarn den Bau des Grenzzauns angekündigt hat, hat er sofort reagiert. Und zwar mit diesem Appell: 'Baut keine Mauer. Auch Flüchtlinge sind eure Geschwister.'"
    Bischof Beer unterstützt diesen Appell. Zugleich plädiert er dafür, zu differenzieren und genauer hinzusehen. Es gebe durchaus Argumente für den Bau des Grenzzauns. Dennoch: Die ungarische Regierung habe eine schlechte Figur gemacht.
    "Da war ein Fehler in der Kommunikation unserer Regierung, das hätten sie besser erklären müssen. Später hat Ministerpräsident Viktor Orbán sehr weise gesagt, wir bauen den Zaun nur, damit die Menschen legal durch die Tür reinkommen und nicht illegal durch das Fenster. Ich sehe schon ein, dass wir diesen Flüchtlingsstrom irgendwie bremsen müssen, damit wir mit der Situation umgehen können."
    Kirchen hängen von staatlichen Geldern ab
    Ähnlich argumentiert Tamás Fabiny, der evangelische Bischof. Vor fünf Jahren, als die bürgerlich-konservative Regierung gewählt wurde, da begrüßte er noch das Votum. Sein Eindruck heute: Die Regierung erwarte von den Kirchen bedingungslose Treue. Das hat auch finanzielle Gründe. Die Kirche hängt letztlich von staatlichen Fördergeldern ab.
    "Aber als Bischof muss ich dennoch meine Meinung sagen können. Mir scheint, dass diese Regierung Angst hat, wenn ich etwas kritisiere, würde ich ihre Legitimität in Frage stellen. Dabei will ich lediglich wissen: Wieso gab es überhaupt keinen Dialog zur Frage des Grenzzauns?"
    Den fehlenden Dialog bemängelt auch der katholische Bischof Beer, obwohl er grundsätzlich mit der Regierung Orbáns sympathisiert. Er wirft ihr aber vor, an den Egoismus und die Ängste der Menschen zu appellieren: mit Diskussionen über die Einführung der Todesstrafe oder mit Plakaten, die sich gegen Immigranten richten. Das zieht rechtsnationale Wähler an.
    "Als ich diese Plakate gesehen habe, hätte ich weinen können. Ein Zeichen der Hektik. Gerade diese Regierung, die so viel Gutes getan hat und Ungarn aus dem Elend herausgeholt hat! Die öffentlichen Plätze sehen jetzt viel besser aus. Vieles wurde renoviert, ich sehe wieder Leben überall. Viktor Orbán respektiere ich sehr – mir scheint, er hat sehr schlechte Berater."
    Von der Todesstrafe über die Einwandererpolitik bis hin zum Grenzzaun, der Flüchtlinge abhalten soll, nach Ungarn zu gelangen. Außer Bischof Beer und Fabiny hört man kaum kritische Stimmen zu einer Regierung, die sich dezidiert als christlich versteht. Die Mehrheit der Kirchen profitiert von der Nähe zur Regierung.