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Ungarns Bildungsminister zur EU-Flüchtlingsquote
"Was beschlossen ist, das ist unwirksam"

Ungarns Bildungsminister Zoltán Balog hält am Nein seiner Regierung zur Flüchtlingsquote fest. Der EU warf er vor, fast "fanatisch" an diesem Punkt festzuhalten. Auch Ungarn wolle dazu "beitragen, dass die EU gestärkt" werde, das müsse aber auf Augenhöhe und nicht nach dem Recht des Stärkeren geschehen, sagte er im Dlf.

Zoltán Balog im Gespräch mit Christine Heuer |
    Die Grenze zwischen Serbien und Ungarn
    Ungarn wolle über die Flüchtlingsquote neu verhandeln, sagte Bildungsminister Zoltán Balog im Dlf (Martin Gerner)
    Christine Heuer: Vor dem EU-Gipfel platzierte ausgerechnet einer der wichtigsten EU-Vertreter-Ratspräsidenten, Donald Tusk, einen politischen Tsunami. Die Flüchtlingsverteilung in der Europäischen Union, mehrheitlich beschlossen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, habe die Europäer gespalten und funktioniere schlecht. Dass Tusk recht hat, bezweifelt keiner, aber die Botschaft hinter seiner Feststellung, dass die Westeuropäer nicht länger auf der Pflicht zur Solidarität auch widerspenstiger osteuropäischer Staaten herumreiten sollen, die ist bei vielen in der EU alles andere als gut angekommen. Der alte Streit wurde in Brüssel also neu aufgelegt, gelöst wurde er aber nicht.
    Am Telefon ist der ungarische Bildungsminister Zoltán Balog, das Ungarn Viktor Orbáns lehnt es wie Polen etwa und Tschechien ja strikt ab, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Guten Morgen, Herr Balog!
    Zoltán Balog: Schönen guten Morgen!
    Heuer: Die Kanzlerin, die deutsche Bundeskanzlerin, wirft Ihnen und den anderen Visegrád-Staaten selektive Solidarität vor. Ich nehme an, da wollen Sie widersprechen.
    Balog: Ja, wir verstehen das nicht, wie man fast fanatisch an einem einzigen Punkt Solidarität misst, und das soll die Zwangsverteilung von Flüchtlingen sein, und davon absieht, wie in anderen Feldern wir miteinander solidarisch umgehen.
    Ich glaube, was wir brauchen, das ist eher eine den Mitgliedstaaten gerechtwerdende Solidarität, und ich denke, dass wir hier und übrigens nicht in Osteuropa – wir fühlen uns in Mitteleuropa, das ist Zentraleuropa hier, wo diese Staaten sind, Osteuropa beginnt an der Ostgrenze von Ungarn und von Polen, also dass das nicht wahrgenommen wird.
    Statt über Tusk sich zu ärgern, sollte man überlegen, warum so ein weiser Mensch, der immer kooperativ war und auch an der Spitze der Regierungschefs steht in Europa, solche Gedanken formuliert. Das ist nicht deshalb, weil er jetzt böse geworden ist und deshalb moralisch verurteilt werden muss, sondern weil etwas eingesehen hat, was andere nicht einsehen können, aber – Sie haben es auch gesagt – den Tatsachen entspricht, und da sollte man Konsequenzen ziehen, denke ich.
    "Zum Einvernehmen gehören zwei Partner"
    Heuer: Ja, aber wieso ziehen denn die Visegrád-Staaten nicht Konsequenzen und sagen, dann lösen wir jetzt dieses Problem einvernehmlich mit dem Rest der EU und erklären uns dazu bereit, Flüchtlinge aufzunehmen nach der Quote, die ja von der EU beschlossen worden ist?
    Balog: Zum Einvernehmen gehören zwei Partner. Was beschlossen ist, das ist unwirksam, das ist nicht effektiv, das ist nicht nachvollziehbar, und das kann man nicht machen.
    Heuer: Entschuldigung, Herr Balog, aber das ist ein Mehrheitsbeschluss in der Europäischen Union, üblicherweise hält man sich an solche Beschlüsse.
    Balog: Alles, was Rechtsvorschrift ist in der Europäischen Union, haben wir eingehalten, und wir werden das auch in der Zukunft einhalten, wir bestreiten nur, ob das eine vernünftiger Beschluss ist und ob das überhaupt zu verwirklichen ist oder nicht. Und ich denke, auch mit Ihnen bin ich einig, dass das nicht funktioniert – nicht nur mit Blick auf die Visegrád-Staaten, sondern grundsätzlich in Europa nicht.
    Heuer: Also politische Verständigung ist immer nötig, ich sag noch mal, die hat eigentlich in diesem Punkt stattgefunden. Sie sagen, Sie halten die Rechtsvorschriften ein, es gibt ja ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach dem die Visegrád-Staaten Flüchtlinge aufnehmen müssen. Ungarn will dieses Urteil nicht akzeptieren – so viel zu den Rechtsvorschriften, Herr Balog.
    Balog: Ja, wir wollen darüber verhandeln, und das tun wir auch auf gleiche Weise und zu was uns dieser Beschluss verpflichtet, was übrigens nicht mehr gültig ist, weil die Frist schon abgelaufen ist. Aber Sie sehen auch Länder, die bereit waren, an diesem Mechanismus teilzunehmen, die haben versagt und es hat nicht funktioniert. Ich denke, das ist eine falsche Entscheidung, die 2015 gefallen ist, wo die Grenzen übrigens gegen jegliche Vorschriften der EU – das muss man auch sagen – aufgemacht worden sind und da eine Krise entstand, hinterher reparieren wollen: Auf diese Weise geht das nicht. Warum reden nicht wir …
    Heuer: Herr Balog, Entschuldigung …
    Balog: Warum reden nicht wir, wie Solidarität auf andere Art und Weise möglich ist unter europäischen Staaten.
    Heuer: Darüber reden Sie ja unentwegt in der EU, aber auf dem Punkt würde ich dann doch gerne noch mal beharren. Es gibt ein EuGH-Urteil, das sie nicht anerkennen. Sie erkennen die europäische Rechtsprechung nicht an.
    Balog: War das europäische Rechtsprechung, als Deutschland die Grenzen eröffnet hatte 2015 im September?
    "An vielen Stellen gibt es Streit in der EU, was Rechtsvorschriften bedeuten"
    Heuer: Dazu gab es kein Urteil, aber zu dieser Flüchtlingsquote gibt es ein Urteil, und der Europäische Gerichtshof sagt auch, die Ungarn, auch die Polen und andere müssen Flüchtlinge aufnehmen. Sie erkennen die europäische Rechtsprechung nicht an, wie soll das funktionieren?
    Balog: An vielen Stellen gibt es Streit in der EU, was Rechtsvorschriften bedeuten und welche Konsequenzen das hat. Deutschland, glaube ich, hat solche Verfahren, mehrere Dutzend, Ungarn auch und andere Länder auch. Solcher Streit muss ausgetragen werden und man muss zu einer Lösung kommen, die den Ländern entspricht und auch den Rechtsvorschriften entspricht.
    Heuer: Das heißt, der EuGH ist Ihnen aber ziemlich egal?
    Balog: Ich hab gerade das Gegenteil gesagt. Ich hab gesagt, man soll darüber verhandeln, was das bedeutet und wie weit das überhaupt zu verwirklichen ist.
    "Die EU ist unser Zuhause"
    Heuer: Was, Herr Balog, ist das Wichtige an der EU aus Ihrer Sicht, weshalb wollen Sie da unbedingt Mitglied sein?
    Balog: Das ist eine gute Frage. Wir fühlen uns wohl, das ist unser Zuhause, und das war auch damals unser Zuhause, als der Kommunismus herrschte und wir nicht mit Europa in Einheit leben konnten. Das Einzige ist, was wir wollen, dass diese Entscheidungsmechanismen, die immer mehr einfach das Recht der Stärkeren hervorbringen, dass das geändert wird. Das ist immer ein Missverständnis, dass die Ungarn nicht in der EU sein wollen oder die jetzige Regierung.
    Ich weiß nicht, ob Sie die Umfragen kennen – die größte Akzeptanz der Europäischen Union ist in Ungarn zurzeit. 80 Prozent der Ungarn meinen, dass es hier unser Platz ist, unsere Stelle, und wir wollen auch beitragen dazu, dass die EU gestärkt wird.
    Unser Wirtschaftswachstum über vier Prozent, ganz in großer Kooperation mit der deutschen Wirtschaft übrigens, und das kommt auch Deutschland zugute. Und auch, wenn wir über Solidarität sprechen, wir denken, dass wir da Pflichten haben, ich weiß nicht, ob Sie unsere Programme kennen. Wir haben gerade beschlossen, die Visegrád-4-Staaten, dass wir mit 35 Millionen Euro zum Schutz der Südgrenze in Libyen beitragen. Der Streit geht nicht darum, wer ist böse oder wer ist nett und wer wäre denn gut, sondern auf welche Weise wir diese Gemeinsamkeit in der EU verwirklichen können. Und unser Beitrag eben, wo das Übel, wo das Unheil entstand, dort sollte man helfen, und nicht dieses Unheil nach Europa bringen. Das ist unser Grundsatz, und wir versuchen, danach zu handeln. Wenn Sie mir erlauben, noch einen Punkt zu nennen.
    Heuer: Kurz!
    Balog: 6.000 junge Leute studieren heute bezahlt durch die ungarischen Steuerzahler, mehr als die Hälfte aus Muslimstaaten, wo wir zeigen wollen, wer zu uns kommt und hier sein will und unsere Gesetze und Kultur akzeptiert, ist herzlich willkommen.
    "Diese Stimme sollte gehört werden"
    Heuer: Herr Balog, Sie sagen, Sie wollen, dass in der EU nicht das Recht der Stärkeren herrscht, darüber kann man sicher lange diskutieren, aber versteht, dass wir Mehrheitsentscheidungen haben in der Flüchtlingspolitik, an die sich eben viele der aus westlicher, westeuropäischer Sicht osteuropäischen Staaten nicht halten.
    Sie sind relativ spät zum Klub gestoßen und wollen ihn jetzt verändern. Darf ich das fragen: Steht Ihnen das wirklich zu?
    Balog: Wir wären auch früher schon beigetreten, das lag nicht an uns, dass das etwas spät geworden ist.
    Heuer: Wir hätten Sie auch gerne früher gehabt, Herr Balog!
    Balog: Das glaube ich übrigens, das ist wenigstens ein gemeinsamer Punkt. Wissen Sie, dass Deutschland mit den Visegrád-Staaten mehr Handels- und Wirtschaftsbeziehungen hat und einen viel höheren Wert als mit Frankreich oder mit anderen Ländern? Das sind wichtige neue Mitglieder, übrigens seit Jahrzehnten schon, über ein Jahrzehnt hinaus schon, und diese Stimme sollte gehört werden. Wir sollten zurückfinden zu dem Stil, was etwa vor zehn Jahren noch herrschte, wo auch Kleinere gehört worden sind. Und wenn ich dann doch zu einem konkreten Punkt noch zurückkehren kann: Warum reden wir nicht darüber, dass das nicht nur eine Frage der Humanität ist, sondern dass wir andere Probleme haben, an jedem Arbeitsmarkt und die demografischen Probleme, also die fehlenden Kräfte am Arbeitsmarkt in Deutschland.
    Heuer: Weil wir beide, Herr Balog, dazu leider heute früh hier im Deutschlandfunk nicht hinreichend Zeit haben, und ich möchte Ihnen gerne noch eine Frage stellen: Es gibt ja viele Kritiker der Visegrád-Staaten, die sagen, wenn die sich nicht an die Flüchtlingsvereinbarung halten, dann müssen eben Fördergelder gestrichen werden. Es gibt immer mehr Stimmen in der Europäischen Union, die sagen, wenn sich ein Teil Europas immer verweigert in dieser essenziellen Frage und, wie es ja auch heißt, sich von Grundwerten der Europäer verabschieden, dann laufe es eben darauf hinaus, dass es ein Kerneuropa geben müsse am Ende von den Staaten, die wirklich miteinander an einem Strang ziehen wollen. Macht Ihnen das nicht Sorge? Wir haben zuletzt gehört, Martin Schulz will die Vereinigten Staaten von Europa, und er kündigt schon an, wer da nicht mitmachen will – damit meint er Sie –, der fliegt dann eben raus.
    Balog: Ja, Martin Schulz und sein Stil und seine Entscheidungen und wie er innerhalb von ein paar Tagen einen total anderen Standpunkt bezieht, das will ich gar nicht kommentieren. Ich habe oft den Eindruck, gerade wenn ich solche Menschen höre, dass die Ratlosigkeit, die in Deutschland herrscht im Blick auf die Zukunft und die Europäische Union, soll damit gelöst werden, dass man Sündenböcke findet und dann eben fast fanatisch an einem einzigen Punkt Solidarität und Kooperation misst, wo wir übrigens tausend Dinge haben, wo wir gut zusammenarbeiten, wo wir kooperieren, wo wir beitragen. Und auch in diesem Feld hätten wir konstruktive Vorschläge, die einfach nicht gehört werden, sondern modalisierend einfach an diesem Punkt festgemacht werden, wer ist böse und wer ist nett. Und ich denke, das ist ein falscher Zugang zu dem Problem. Wir brauchen viel mehr Diskussion darüber auf Augenhöhe und nicht in diesem Oberlehrerstil.
    "Die Diskussion ist offen"
    Heuer: Aber, Herr Balog, wenn Sie sagen, die Osteuropäer wollen ihr Ding durchziehen in der EU, ich verkürze das drastisch, dann dürfen andere das auch sagen. Es ist nicht nur Martin Schulz, Emmanuel Macron denkt auch über ein Kerneuropa nach.
    Balog: Ja, die Diskussion ist offen, und darüber sollten wir auch reden. Aber solange wir nicht zum Einvernehmen kommen, solange soll man die Länder, die eine andere Meinung haben, nicht vergewaltigen.
    Heuer: Zoltán Balog, der ungarische Bildungsminister, im Interview mit dem Deutschlandfunk heute früh. Herr Balog, ich danke Ihnen sehr dafür!
    Balog: Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.