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Ungarns Flüchtlingspolitik
EU-Abgeordnete Harms wirft Orban Kalkül vor

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban habe darauf gesetzt, dass sich die Situation angesichts Tausender Flüchtlinge so dramatisiere, wie das jetzt der Fall sei, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, im DLF. Er habe die Flüchtlinge zu Geiseln seiner Politik gemacht.

    Rebecca Harms, Fraktionschefin der europäischen Grünen, vor dem Budapester Ostbahnhof
    Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. (picture alliance/dpa/Szolt Szigetvary)
    Viktor Orban habe ganz bewusst demonstrieren wollen, dass die Asylpolitik in Europa Chaos verursache. Das habe Kalkül gehabt. Sie wisse nicht, ob Orban das tatsächlich von Anfang an geplant habe, aber er habe damit gearbeitet, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, im Deutschlandfunk. Allerdings zeige die chaotische Situation angesichts Tausender ankommender Flüchtlinge in Ungarn und Griechenland auch, dass die Dublin-Regeln nicht mehr funktionierten, betonte Harms. Diese seien der Versuch gewesen, alle Probleme der Flucht auf die Länder am Rande der EU abzuwälzen.
    Neben Ungarn kritisierte Harms auch Großbritannien für den Umgang mit Flüchtlingen. Sie sprach sich zudem für verbindliche Quoten bei deren Verteilung in Europa aus. Allerdings sollten sich die wirtschaftlich stärkeren Länder auch mit größeren Quoten beteiligen als die schwächeren Staaten. Von Strafmaßnahmen bei einer Verweigerung halte sie nichts, sagte Harms. Besser sei es, den Konsens mit diesen Ländern zu suchen. Die "vernünftigen Länder" in Europa dürften mit der Neugestaltung der Asyl- und Einwanderungspolitik nicht warten, "bis der letzte in Europa mit an Bord" sei.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Die vielen Flüchtlinge, und wie wir sie am besten aufnehmen in Europa, darüber beraten seit gestern die Außenminister der Europäischen Union bei ihrem Treffen in Luxemburg. Viele Westeuropäer sind empört, dass die meisten osteuropäischen Staaten sich weigern, viele Flüchtlinge auch bei sich aufzunehmen und zu überlegen, wie der Bann gebrochen werden kann. Heute Morgen müssen wir aber erst einmal darüber sprechen, dass Österreich und Deutschland Tausende Flüchtlinge, die in Bussen aus Ungarn weggefahren werden, aufnehmen. Und am Telefon begrüße ich Rebecca Harms, die Vorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament. Guten Morgen, Frau Harms!
    Rebecca Harms: Guten Morgen!
    Heuer: Ungarn fährt nun also Flüchtlinge in Bussen an die österreichische Grenze. Von dort werden die meisten wohl weiterreisen nach Deutschland. Was bedeutet das für die europäische Flüchtlingspolitik?
    Harms: Die europäische Flüchtlingspolitik, die war ja lange auf dieser Dublin-Regulierung aufgebaut, die schon angesprochen worden ist gerade, und das war der Versuch, alle Probleme der Flucht nach Europa auf die Ränder der Europäischen Union abzuwälzen. Und dieses Prinzip, dass die Länder, die Außengrenzen haben, alleine damit zurechtkommen sollten, oder zuerst mal damit zurechtkommen sollten, das hat nicht mehr funktioniert, weil immer mehr Menschen den Weg nach Europa, in die Europäische Union gesucht und zuletzt eben nicht nur auf die Inseln im Mittelmeer, nach Griechenland oder nach Malta gefunden haben, sondern auch bis nach Budapest gelangt sind, also dem Zentrum Europas nähergekommen sind. Und angesichts dieser Situation in Ungarn, in Budapest insbesondere - die Bilder sind ja um die Welt gegangen -, mussten die vernünftigen Europäer zugeben, dass es mit den Dublin-Regeln jetzt nicht mehr weitergeht.
    "Orbán hat sie chaotische Situation sich entwickeln lassen"
    Heuer: Die Bilder aus Budapest sind um die Welt gegangen. Sie selbst waren gerade in Budapest. Wie haben Sie denn die Lage der Flüchtlinge erlebt?
    Harms: Ich meine, ich habe auch schon schreckliche Situationen in Griechenland zum Beispiel in den letzten Jahren gesehen in den Abschiebelagern, die es da gegeben hat, und zum Teil werden die immer noch benutzt. Die waren auch schon furchtbar. Aber was ich da in Ungarn gesehen habe, das hat mich wirklich völlig sprachlos gemacht zuerst. Weil es eine Situation war, die kann man sich vorstellen, wenn in einer Stadt Krieg ist und Menschen sich in Keller flüchten. Aber eine Stadt wie Budapest, also einer dieser wunderbaren, vibrierenden europäischen Großstädte, sehr schön, und dann geht man in den Transitbereich in einem Bahnhof und findet ein solches Elend von Tausenden, die nicht mehr mit Wasser, nicht mit Toiletten versorgt werden und die nur gerade so versorgt werden von kleinen, aber großartigen Flüchtlingsorganisationen. Das ist einfach unerträglich gewesen, und ich glaube, dass es auch wirklich die Unerträglichkeit dieser Situation gewesen ist, die Bilder, die davon rumgegangen sind in Europa, die dazu geführt haben, dass die Deutschen und die Österreicher sich jetzt in dieser Situation diesen Ruck gegeben haben, zu sagen, dass sie die Flüchtlinge auch aufnehmen, wenn sie nicht registriert sind.
    Heuer: Vermuten Sie eigentlich Absicht hinter dem Verhalten der ungarischen Behörden? Die könnten ja auch ein bisschen anders mit den Flüchtlingen umgehen. Sollen die Menschen abgeschreckt werden, gerade um weiterzureisen?
    Harms: Nachdem ich da war, denke ich, dass das, was viele Ihrer Kollegen schon vor meinem Besuch gesagt haben, dass das stimmt. Also, Orbán hat darauf gesetzt in den letzten Wochen, zu demonstrieren, dass eine Politik der Einwanderung und eine gute Asylpolitik in Europa Chaos verursacht. Und er hat auch versucht, dadurch, dass er so Laisser-faire gemacht hat, dass er sich diese chaotische Situation so hat entwickeln lassen - er hat auch darauf gesetzt, dass er die Bilder bekommt, die Situation in Ungarn bekommt, die zeigen, dass das, was er zur Grundlage seiner Politik in Ungarn macht, nämlich dass die ungarische Kultur und Zivilisation, die westliche Lebensweise, das christliche Ungarn unvereinbar ist mit der Einwanderung von Flüchtlingen aus muslimischen Ländern. Das hat am Ende wirklich Kalkül gehabt. Ich weiß nicht, wie geplant das war, aber er hat damit gearbeitet. Und diese These, dass er die Flüchtlinge zu den Geiseln seiner Politik gemacht hat, die teile ich inzwischen ausdrücklich.
    "Wir brauchen solche verbindliche Quoten"
    Heuer: Hat Viktor Orbán und haben vielleicht auch andere Staaten, nicht nur in Osteuropa - Annette Riedel hat das gerade gesagt -, auch Portugal, Spanien, man muss hinzufügen, Großbritannien, wollen eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen - haben diese Staaten eigentlich verstanden, was die europäische Idee ist?
    Harms: Es ist gut, dass Sie jetzt selber noch Cameron gesagt haben, weil das ist ein Land, das mit seiner Regierung gerade ganz aggressiv gegen eine menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik auftritt. Und ja, das ist die richtige Frage. Haben die das verstanden, dass die Werte, auf die sich die Europäische Union immer orientiert hat, also Gültigkeit der Menschenrechte, ist das, was eine Gemeinschaft der Staaten, so wie sie entstanden ist, was sie braucht, um zu funktionieren. Und wenn Staaten da aussteigen, dann muss man sich wirklich fragen, wie das sein kann. Ich bin der Meinung, dass man das untereinander klären sollte, und ich glaube nicht, dass die Idee der Strafe in dieser Situation als Erstes nützt. Also ich bin oft dafür, dass die Europäer ihre Regeln auch mit Instrumenten zur Durchsetzung unterlegen. Aber in dieser Situation, dass wir eine Akzeptanz für eine andere Flüchtlings-, Asyl- und Einwanderungspolitik wollen, weiß ich nicht, ob das Strafen der richtige Weg ist. Ich möchte auf der anderen Seite auch nicht, dass die vernünftigen Länder mit einer Verbesserung der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik warten, bis der Letzte in Europa an Bord ist. Dafür ist das Problem, dem wir gerecht werden müssen, ja viel zu groß.
    Heuer: Frau Harms, Jean-Claude Juncker, der Kommissionspräsident, der scheint jetzt über ein Paket nachzudenken mit einer verbindlichen Quotenregelung, aber auch mit mehr sicheren Drittstaaten und mit der Strafe, die Sie angesprochen haben, nämlich der Strafe übers Geld, nach dem Motto, wenn ihr keine Flüchtlinge aufnehmt, dann müsst ihr eben denen, die es tun, Geld geben. Ist das ein erfolgversprechender Plan?
    Harms: Was die Quoten angeht, da bin ich eben der Meinung, dass man das nach einem Prinzip erst mal vertreten sollte, dass die stärkeren Länder eben sich stärkere, größere Quoten, mit stärkeren, größeren Quoten beteiligt werden als die schwächeren Länder. Vielleicht hilft das auch. Ich habe gesehen, in Polen hat sich die Debatte in den letzten Tagen und Wochen auch verändert. Es gibt auch da eine größere Offenheit. Und wir brauchen solche verbindliche Quoten. Die sollten nicht klein sein. Die sollten großzügig sein, weil sonst kommen wir damit auch wieder nicht weiter.
    "Aufnahme ist nur der erste Teil"
    Heuer: Also großzügig auch zum Beispiel für Ungarn, Polen, Portugal, Großbritannien?
    Harms: Die werden unterschiedlich sein. Meiner Meinung nach muss man das so machen, dass man wie bei anderen Modellen der europäischen Lastenteilung, dass man da die wirtschaftliche Stärke der Länder berücksichtigt. Wenn man sich jetzt einigt darüber, wie die Quoten für wen festgelegt werden.
    Heuer: Das war ja von Anfang an der Plan, den Jean-Claude Juncker vorgelegt hat.
    Harms: Ja, das muss man auch noch mal ausdrücklich argumentieren und den Ländern eine Chance geben, so wie man das in Europa immer gemacht hat. Danach kann man auch über so einen Fonds reden. Aber das muss ja auch funktionieren. Wenn man die Flüchtlinge, die Flüchtlingsquoten durchsetzt und in den Ländern nichts getan wird für eine Willkommenskultur, wie man das jetzt in Deutschland nennt, oder für Integration, dann ist das ja auch nicht gut. Weil wir wissen ja, dass die Aufnahme immer nur der erste Teil des Kapitels ist, und dass der zweite und größere Teil, der kommt ja dann, und da ist es ja auch so, dass wir in Deutschland hart daran arbeiten müssen, dass wir das, was wir jetzt in der Notsituation, was wir da leisten, dass wir das auch hinterher dann fortsetzen. Weil die Leute müssen Sprachkurse bekommen, die Leute müssen ihre Kinder in die Schule schicken können. Wir wollen denen Arbeit geben, damit es nicht neue Konfrontationen auch innerhalb der Gesellschaften gibt, die dann die Flüchtlinge aufnehmen. Und das kann man meiner Meinung nach schlechter mit Druck hinkriegen und besser im Konsens hinbekommen. Das gilt nicht nur für die deutsche Debatte, sondern das gilt natürlich erst recht für solche Länder wie die osteuropäischen.
    Heuer: Also weiter sprechen und Überzeugungsarbeit leisten. Rebecca Harms, die Vorsitzende der Grünen im Europaparlament. Frau Harms, danke für das Gespräch heute früh!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.