Archiv


Ungeschützter Verzehr?

Hunderte Pflanzenschutzmittel sind in der Europäischen Union zugelassen. In Spuren belasten die Pestizide Obst und Gemüse aus konventionellem Anbau. Verbraucher sind verunsichert und fürchten gesundheitliche Risiken durch den Verzehr von Erdbeeren, Kopfsalat & Co.

Von Volker Mrasek |
    Abamectin. Bromoxynil

    "Erdbeeren heute hier, Schale Erdbeeren hier für nur 1,99!"

    "Tüte Champignons ein Euro hier!"

    "Blumenkohl hier für nur 2,50! Sonst noch was?"

    Chlorpyrifos, Diuron

    "Klementinen heute hier 15 Stück 2,50. Radieschen hier für 1,50."

    Endosulfan, Fenoxicarb

    "Bananen heute hier das Kilo für nur 1,20. Einen Euro klein?"

    Glyphosat, Hydroxyatrazin

    "Ich denke, ein Problem ist, dass wir tatsächlich mit Rückständen an Pflanzenschutzmitteln auf unserer Nahrung rechnen müssen."

    Isoproturon, Kresoxim-Methyl

    "Was ist mit einem Tütchen Champignons für ein Euro? Nix?"

    "Man denkt, es wird gespritzt. Und bis zum Zeitpunkt der Ernte ist das weg."

    Malathion, Novaluron

    "Das entspricht aber wirklich nicht der Realität. Also, wenn wir Stoffe ausbringen in die Umwelt..."

    Permethrin, Quintozen

    "...dann haben wir auch mit Rückständen zu tun."

    Rimsulfuron, Simazin

    "Wie die toxikologisch bewertet werden müssen, kann dann immer noch verschieden diskutiert werden."

    "Heute sind wir auf dem Stuttgarter Großmarkt. Die fangen schon morgens um zwei, drei hier unten an mit Obst und Gemüse"

    "Also, das läuft so ab: Der Kontrolleur bekommt die Probenanforderung vom Untersuchungsamt. Wir möchten bitte in der und der Kalenderwoche die und die Ware in der und der Menge abgeben."

    "Ich habe eine Liste dabei, mit der Vorgabe vom Chemischen Untersuchungsamt. Anhand von dieser Liste müssen wir zehn Proben holen."

    "Was weiß ich? Zehn Köpfe Salat in der 14. KW am Dienstag im Untersuchungsamt abgeben."

    "Beerenobst, Auberginen, Tafeltrauben, Knollen- und Stangensellerie, die untersucht werden auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln. Das ist mein Programm heute."

    "Dann richtet sich der Kontrolleur, eventuell zwei Kontrolleure, darauf ein, dass die die Proben holen."

    "Also, da gehen wir mal los und gucken wir mal, was wir kriegen."

    "Die Proben werden auf das Untersuchungsamt gegeben. Und dann fangen wir an zu warten auf das Ergebnis."

    "Habt Ihr Trauben da?"

    "Nein."

    "Keine Trauben?"

    "Keine mehr."

    "Da habt Ihr Glück gehabt! Dann gehen wir gleich weiter, ja? Also tschüss!"

    "Tschüss dann ..."

    Georg Cossini streift durch sein Revier. Der gelernte Koch arbeitet im Stuttgarter Amt für Öffentliche Ordnung. Er überprüft regelmäßig Lebensmittelbetriebe, Imbissbuden, Kantinen und Restaurants – aber auch den ortsansässigen Großmarkt ...

    "Morgen!"

    "Hallo!"

    "Wie geht’s? Gut?"

    "Gut."

    "Ich nehme eine Probe Trauben mit..."

    "Alles klar."

    "...ja? Da brauch’ ich noch den Lieferschein."

    "Ja."

    "Habt Ihr den?"

    "Ja."

    Wenn Cossini Obst- und Gemüse-Proben einsammelt, bei denen überprüft werden soll, ob sie mit Pflanzenschutzmitteln belastet sind, dann kann er sicher sein: Verbraucher sind an den Ergebnissen brennend interessiert ...

    "Was machen da? Jede fünf Karton, hm?"

    "Ja, wir nehmen aus jedem Karton eine raus."

    "Wenn ich diese aufmachen, kommt automatisch nächste Tag ist kaputt."

    "Das ist so. Das ist so mit der Probe."

    Viele Verbraucher fürchten, dass von Pestizid-Rückständen in Lebensmitteln ein gesundheitliches Risiko ausgeht.

    "Jetzt gehen wir ans Eintüten, also das heißt, die Probe wird jetzt entnommen. Also, vom Aussehen sind’s wunderschöne Trauben. Jetzt hoffen wir nur nicht, dass was dabei rauskommt."

    Pflanzenschutzmittel können Nerven-, Immun- und Hormonsystem schädigen, zumindest in höheren Konzentrationen. Das beunruhigt Verbraucher ...

    "Jetzt nehm’ ich noch die Vorderseite von diesem Karton mit, wo alles draufsteht. Wo die Trauben herkommen. Es wird dann abfotografiert, also der Karton. Man weiß nie: Man könnte den später einmal als Beweismittel brauchen."

    Lebensmittel-Kontrolleure und staatliche Untersuchungsämter können nur eine überschaubare Zahl von Stichproben nehmen und analysieren. Da will auch Thomas Stegmanns gar nicht abwiegeln. Der Tierarzt leitet die Dienststelle für Lebensmittelüberwachung, Verbraucherschutz und Veterinärwesen im Stuttgarter Ordnungsamt:

    "Wenn Sie den Umfang der Waren sehen, wie viele 100.000 Tonnen da durchgehen, das können Sie nicht lückenlos überwachen. Das ist genauso, wie Sie nicht jeden Autofahrer in Deutschland überwachen können. Das geht nicht."

    "Also tschüss. Bis zum nächsten Mal."

    "Ja."

    "Das war es jetzt. Jetzt legen wir die Probe ins Fahrzeug. Und dann war es das für den Großmarkt heute."

    Und selbst wenn Erdbeeren, Paprika oder Salatgurken am Ende zu hoch mit Pflanzenschutzmitteln belastet sind – bis ein Analyse-Ergebnis aus dem Untersuchungsamt vorliegt, vergehen in der Regel zwei bis drei Wochen. So lange liegt frisches Obst und Gemüse aber nicht beim Händler. Das heißt: Lebensmittel, die eigentlich nicht verkehrsfähig sind, weil sie über den gesetzlichen Höchstwerten für Pestizide liegen, landen dennoch auf dem Teller des Verbrauchers. Stegmanns:

    "Die Ware ist weg. Der Fall ist im wahrsten Sinne des Wortes gegessen."

    Seit mehreren Jahren kümmert sich auch Greenpeace intensiv um Pestizid-Rückstände in Obst und Gemüse. Die Umweltschutzorganisation prangerte zunächst die aus ihrer Sicht zu häufigen Höchstmengen-Überschreitungen an. Bis heute ist Manfred Krautter bei Greenpeace Deutschland für das Thema zuständig. Der Chemie-Ingenieur gewann damals den Eindruck, ...

    "... dass es da einen chronischen Lebensmittelskandal gibt, sprich: Die Belastungen von Obst und Gemüse sind über Jahre deutlich angestiegen. Letztendlich sah es so aus, dass in Deutschland wir im Jahr 2002, 2003 bei etwa acht bis neun Prozent Überschreitungen lagen. Das heißt: Etwa ein Zehntel der Ware, die in Deutschland verkauft wurde, war gar nicht verkehrsfähig."

    Die Umweltschutzorganisation gab daraufhin eigene Pestizid-Analysen in Auftrag. Wiederholt ließ sie Obst und Gemüse aus dem Angebot der großen Lebensmittelketten und –discounter untersuchen. Der öffentliche Hinweis auf anhaltende Höchstmengen-Überschreitungen zeigte Wirkung. Krautter:

    "Überschreitungsquoten beim Obst und Gemüse gehen deutlich zurück. Und was mich vor allem freut: bei richtigen Problemprodukten. Früherdbeeren, Paprika, Tafeltrauben, wo wir zum Teil 40, 50 Prozent der Ware am Markt hatten, die war nicht verkehrsfähig, die war zu stark belastet – muss man sich mal vorstellen. Da haben wir im Prinzip einen dramatischen Rückgang."

    Die Umweltschutzorganisation lässt aber weiterhin nicht locker. Aus ihrer Sicht sind Verbraucher noch immer nicht ausreichend vor Pestizidrückständen in Obst und Gemüse geschützt. Will man überprüfen, ob dieser Vorwurf berechtigt ist, muss man tiefer in die Materie eintauchen, in Details der Toxikologie, Risikobewertung und Messanalytik ...

    Lebensmittel-Kontrolleur Georg Cossini hat seine Weintrauben vom Großmarkt inzwischen abgeliefert. Im Chemischen und Veterinär-Untersuchungsamt oder kurz: CVUA - Stuttgart-Fellbach. Dort werden die Proben nach ihrem Eingang direkt ins Pestizid-Labor im 1. Stock hinaufbefördert. Auf Knopfdruck, mit einer Zahnradbahn, die sich "Telemat-Anlage" nennt. Christine Weikert, Chemisch-Technische Assistentin in der Pestizidanalytik, nimmt die Trauben in Empfang.

    "Die sind noch verpackt in der Entnahmetüte. Wir legen die da drüben auf den Tisch, und dann schauen wir uns die mal an."

    Ellen Scherbaum:

    "Wir nehmen von jedem dieser fünf Büschel, die entnommen wurden, zufällig verschiedene Beeren, so dass wir dann zum Schluss etwa 500 Gramm Laborprobe möglichst repräsentativ für die Gesamtprobe genommen haben."

    Auch Ellen Scherbaum trifft man regelmäßig im Pestizidlabor an. Die Lebensmittelchemikerin leitet die Abteilung für Schadstoff-Rückstände im Stuttgarter Untersuchungsamt.

    "Wir untersuchen im Normalfall auf mehr als 500 verschiedene Pestizide. Und im Einzelfall wird auch noch auf spezielle Analyten untersucht. Wenn beispielsweise Wachstumsregulatoren oder so eine Rolle spielen bei der entsprechenden Warengruppe, dann wird das zusätzlich noch gemacht."

    In Deutschland ist die Lebensmittelkontrolle Ländersache. Das Stuttgarter CVUA ist dabei nicht nur zentrales Pestizid-Labor für Baden-Württemberg, sondern auch noch Referenzlabor für Europa – und deshalb besonders gut ausgestattet. Die meisten anderen deutschen Untersuchungsämter arbeiten mit wesentlich kürzeren Prüflisten, was Manfred Krautter empört:

    "Es sind etwa, man weiß es nicht genau, zwischen 1100 und 1300 Stoffe, Pestizide, die weltweit eingesetzt werden. Der Durchschnitt der gemessenen Substanzen in Deutschland liegt bei etwa 230 Stoffen. Das ist eine Auskunft auf einer Tagung, auf der ich neulich war. Das ist natürlich erbärmlich! Deswegen sage ich: Wir unterschätzen unter Garantie das Problem, weil wir viele dieser Belastungen nicht sehen und deswegen gar nicht in unsere Bewertung mit reinnehmen können."

    Was Greenpeace an dieser Stelle nicht sagt: Unter den über 1000 Pflanzenschutzmitteln sind viele gar nicht "rückstandsrelevant", wie es offiziell heißt. Das bestätigt auch das BVL, das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, in einer Stellungnahme. Ein Zitat daraus:

    Nicht alles, was grundsätzlich analysierbar ist, hat eine praktische Bedeutung. Der Wirkstoff Rapsöl beispielsweise wird als Insektizid eingesetzt; das verwendete Rapsöl hat Lebensmittelqualität. Gegen Apfelwickler und andere Schmetterlingsarten werden Pheromone in Form von Verdunstern eingesetzt. Messbare Rückstände in den Früchten können dabei nicht entstehen.

    Das BVL sammelt die Untersuchungsergebnisse aus den Ländern. Gestützt auf ihre Daten, korrigiert die Berliner Bundesbehörde Greenpeace auch im zweiten Punkt. Im Jahr 2008 sind demnach 260 Pestizid-Wirkstoffe pro analysierter Probe gemeldet worden – und nicht 230. Doch das ist eher ein marginaler Unterschied. Und es ändert nichts an der Tatsache, dass Obst und Gemüse mal besonders - und mal weniger gründlich auf Spritzgifte hin untersucht werden. Je nach Standort und Untersuchungsamt. Das BVL widerspricht Greenpeace deshalb auch nicht grundsätzlich, im Gegenteil. Zitat:

    Es stimmt, dass die Laboratorien der Lebensmittelüberwachung nur einen Anteil der grundsätzlich zu überwachenden Wirkstoffe in ihr Untersuchungsprogramm aufgenommen haben. Als Ausweg aus diesem Problem kann insbesondere der konsequente Ausbau der Multimethoden dazu führen, dass die Zahl der routinemäßig analysierten Wirkstoffe steigt.

    Multimethoden stützen sich auf moderne Labor-Apparate. Zum Beispiel auf Flüssigchromatographen und Massenspektrometer. Mit ihnen können etliche Pestizid-Wirkstoffe simultan nachgewiesen werden, so wie es im Stuttgarter Referenzlabor geschieht. Allerdings verschlingen die Geräte hohe, sechsstellige Summen, und das aus Steuermitteln. Man wird sie nicht in jedem Untersuchungsamt aufstellen können. Aber das müsse auch gar nicht sein, sagt Ellen Scherbaum. Das baden-württembergische Modell zeige, wie sich das Problem lösen lasse: indem man Zentrallabore für die Pestizid-Analytik einrichte und diese optimal ausstatte. Scherbaum:

    "In den anderen Bundesländern findet diese Konzentrierung zum Teil erst noch statt. Prinzipiell denke ich, dass das der einzig gute Weg ist, um ordentlichen Verbraucherschutz zu garantieren für so schwierige Untersuchungsfelder wie Pestizidrückstände."

    "Also, wir haben hier jetzt die Traubenprobe und einen Mixer. Wir wollen die jetzt zerkleinern. Und dafür brauchen wir auch noch ein bisschen Trockeneis. Das müssen wir jetzt kleinklopfen."


    Auch die Weintrauben vom Stuttgarter Großmarkt landen am Ende in Flüssigchromatograph und Massenspektrometer. Zunächst allerdings müssen sie von Christine Weikert schrittweise aufbereitet werden ...

    "So, jetzt füllen wir also die Probe hier rein. Achtung!"

    In den zurückliegenden Jahren bewiesen die Stuttgarter mehrfach ihren analytischen Spürsinn, als sie auch illegale Spritzmittel entdeckten, mit denen niemand vorher gerechnet hatte. So etwa im Dezember 2006. Da stießen sie in spanischen Paprika auf einen Stoff namens Isofenphosmethyl, ein Mittel gegen Schadpilze. Anbauer machten rege Gebrauch von dem verbotenen Fungizid. Es kam zum Skandal. Die spanischen Behörden ließen tonnenweise Paprika vernichten. Das zeigte Wirkung. Danach gab es keine Beanstandungen mehr. Weikert:

    "Jetzt haben wir da zehn Gramm. Jetzt füllen wir da das Lösungsmittel dazu rein. Zehn Milliliter. Jetzt wird es geschüttelt, eine Minute lang. Und dann kommt es in die Zentrifuge."

    Im vergangenen Jahr fielen im Stuttgarter Amt Birnen aus der Türkei auf, die stark mit Amitraz belastet waren, einem besonders giftigen und deshalb heute EU-weit verbotenen Insektizid. Die Rückstände waren so hoch, dass sogar die Gefahr einer akuten Gesundheitsgefährdung für Kleinkinder nicht ausgeschlossen wurde. Eberhard Schüle, der Leiter des Rückstandslabors im Stuttgarter CVUA:

    "Die Ware wurde gesperrt und direkt im Großhandel noch vernichtet. Das sind zum Glück Ausnahmefälle. So extreme Überschreitungen hatten wir in keinem anderen Fall in den letzten Jahren."

    Ellen Scherbaum:

    "Also, wir haben durch die Zugabe von Salz und das Zentrifugieren erreicht, dass sich die wässrige Phase, also das, was an Wasser von den Trauben kommt, von der organischen Phase getrennt hat. Uns interessiert jetzt die organische Phase, die die Pestizide enthält."

    Ellen Scherbaum und Eberhard Schüle verbringen naturgemäß viel Zeit im Labor. Doch sie belassen es nicht bei der Analyse der Obst- und Gemüse-Proben. Von den Experten der Untersuchungsämter wird auch verlangt, dass sie die Ergebnisse einordnen. Schüle:

    "Wir bewerten die Rückstandsbefunde hinsichtlich Einhaltung der Höchstmengen. Wenn die Höchstmengen eingehalten werden, dann sind auch keine toxikologischen Bedenken zu erwarten. Denn die Höchstmengen werden unterhalb toxikologisch relevanter Schwellen festgesetzt."

    Wobei die Giftigkeit oder Toxizität von Pflanzenschutzmitteln aus Tierversuchen abgeleitet wird. Und die Belastung des Menschen aus Studien über gängige Verzehrgewohnheiten. Beide Werte – erlaubte Höchstmenge und Schwelle der Giftwirkung - trennt ein Sicherheitsabstand. Im allgemeinen beträgt der Faktor 100, das heißt: Die Höchstmenge müsste hundertfach überschritten sein, um überhaupt die toxische Dosis eines Pestizid-Wirkstoffs zu erreichen. Rudolf Pfeil, Leiter der Fachgruppe "Toxikologie der Pestizide" im Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin:

    "Man kann es damit begründen, dass man mit diesem Faktor einmal die Unsicherheit bei der Extrapolation von Erkenntnissen im Tierversuch auf den Menschen abdecken möchte. Und der andere Aspekt der Unsicherheit ist, dass die menschliche Population eben nicht gleich empfindlich ist. Und diese Unterschiede, die möchte man durch diesen Faktor abdecken. So dass man dann mit den heutigen Erkenntnissen sagen kann: Der Faktor 100 ist für die Stoffe, die hier überhaupt als Pflanzenschutzmittel angewendet werden dürfen in der EU, in aller Regel ausreichend."

    Auch in diesem Punkt hat die Umweltschutzorganisation Greenpeace allerdings eine abweichende Meinung. Manfred Krautter behauptet, ...

    "... dass bei der Festlegung von Grenzwerten viele Fehler gemacht wurden, dass selbst nach den EU-Maßstäben Grenzwerte zu hoch angesetzt wurden."

    Dazu muss man wissen: Im September 2008 traten in der Europäischen Union harmonisierte Grenzwerte für Pestizid-Rückstände in Kraft. Es geht hier um etwa 170.000 Einzelwerte. Diese enorme Zahl ergibt sich aus der Kombination von rund 400 verschiedenen Wirkstoffen und Lebensmitteln. Krautter:

    "Wir haben das untersuchen lassen, das war ’ne Riesenarbeit, und haben festgestellt, dass 700 davon nicht sicher sind."

    Die Greenpeace-Studie erregte großes Aufsehen. Vor allem Äpfel, Birnen und Weintrauben seien betroffen, hieß es darin. Bei ihnen seien die Obergrenzen von rund 120 verschiedenen Pestizid-Wirkstoffen zu großzügig bemessen worden. Fast zehn Prozent der festgesetzten Höchstmengen müssten als potentiell gesundheitsschädlich für Kinder betrachtet werden. Die Studie kam zu diesem Schluss, weil sie kurzerhand einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor von 10 einführte. Krautter:

    "Wir haben letztendlich die gleichen toxikologischen Basisgrößen, aber größere Unsicherheitsfaktoren eingezogen. Das heißt, bei Greenpeace springt der Zeiger schneller auf Rot, als wenn ein Gesetzgeber seine eigenen Höchstmengen anwendet. Das, denke ich, ist aber auch recht und billig, dass wir da ein bisschen kritischer hinsehen."

    Die Studie stößt auf starken Widerspruch. Sie halte wissenschaftlichen Kriterien nicht stand, lässt das BfR verlauten, das Bundesinstitut für Risikobewertung. Die Fachbehörde mag bei der Hälfte der von Greenpeace benannten 120 Problemstoffe "weder ein chronisches noch ein akutes Gesundheitsrisiko" erkennen. Zur anderen Hälfte äußert sie sich nicht. Denn diese Pestizide würden derzeit sowieso noch einmal kritisch unter die Lupe genommen, in einem umfassenden Projekt der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit EFSA. Manfred Krautter aber ficht das nicht an. Der Greenpeace-Aktivist fühlt sich inzwischen sogar bestätigt – ausgerechnet durch die Europäische Lebensmittel-Sicherheitsbehörde:

    "Die EFSA hat inzwischen selber eine Stellungnahme abgegeben, dass etwa 300 der in der EU jetzt geltenden neuen Höchstmengen aus deren Sicht auch nicht sicher sind."

    Konkret schlägt die EFSA vor, Höchstmengen für die Rückstände von 15 verschiedenen Pestiziden abzusenken. Von "A" wie Azo-oxystrobin bis "V" wie Vinclozolin. Es sind Stoffe, die im Anhang I der entsprechenden EU-Verordnung stehen. In der Liste von Pestiziden, die schon seit längerem zugelassen sind und mit der auch BfR-Toxikologe Rudolf Pfeil vertraut ist:

    "Diese Überprüfung dieser 15 Wirkstoffe hat vor allem den Grund, dass hier neue Erkenntnisse im Laufe der Jahre vorgelegt wurden, die bei der damaligen Bewertung für die Anhang-I-Aufnahme noch nicht vorlagen."

    Nach aktuellem Wissensstand sind die bisherigen Höchstmengen dieser Pflanzenschutzmittel also doch zu riskant. Und das nicht bloß nach den überstrengen Kriterien von Greenpeace, sondern nach heutigen Bewertungsmaßstäben, wie sie die EFSA und auch das BfR anwenden. Man sollte zwar das Verhältnis nicht aus den Augen verlieren: Wenn rund 300 von insgesamt 170.000 Höchstmengen in der EU revisionsbedürftig sind, dann entspricht das nicht einmal einem Anteil von 0,2 Prozent. Doch das ist eine Momentaufnahme. Neue toxikologische Studien werden auch in Zukunft neue Erkenntnisse über Pestizide liefern, und dazu führen, dass Risikobewertungen in Einzelfällen noch einmal auf den Prüfstand müssen. Weil sich herausstellt, dass ein Wirkstoff doch unterschätzt wurde. Vor besonders gefährlichen Substanzen werden europäische Verbraucher aber künftig besser geschützt sein. Dafür sorgen die kürzlich verabschiedeten, neuen Zulassungsregelungen in der EU, die sogar Manfred Krautter dafür lobt, ...

    "... dass zum Beispiel Pestizide, die krebserregende Eigenschaften haben, in Zukunft nicht mehr zulassungsfähig sind. Dass Pestizide, die das Erbgut verändern können, nicht mehr zulassungsfähig sind. Dass Pestizide, die in die Fortpflanzung eingreifen können, nicht mehr zulassungsfähig sind. Sie haben nicht gesagt: Wir wollen die in irgendwelchen Belastungsgrenzen doch noch tolerieren, sondern die haben gesagt: Nein! Es ist Schluss! Cut off!"

    "... die wird man dann hier einstellen. Also, es sind hier 40 verschiedene Proben, die dann über Nacht analysiert werden. Die Weintrauben sind jetzt dabei. Die laufen hier auf Position 10. Das heißt, die werden in ungefähr fünf Stunden dran sein."

    Die Tafeltrauben vom Großmarkt sind am Ende im Gerätelabor des Stuttgarter Untersuchungsamtes gelandet, als 10-Milliliter-Probe unter vielen in der Warteschlange des Flüssigchromatographen. Ellen Scherbaum würde sich nicht wundern, wenn sie Spuren von diversen Pestiziden aufwiesen:

    "Vor allem die so gerne gegessenen süßen Sultanas aus der Türkei haben sich bei unseren Untersuchungen als häufig mit sehr vielen verschiedenen Pestiziden belastet herausgestellt."

    Ganz ähnliche Erfahrungen macht auch Manfred Krautter bei den Untersuchungen, die Greenpeace in Auftrag gibt:

    "Wir finden im Schnitt in jeder Probe drei bis vier Pestizide. Manchmal über 20."

    Auch sie wecken das Misstrauen der Verbraucher: Mehrfachrückstände. Krautter zitiert Studien, die zeigten, ...

    "... dass zum Beispiel ein Wirkstoff, der alleine überhaupt keine Auswirkungen hat, zum Beispiel auf die Fortpflanzung, dass der in Kombination mit einem anderen Pestizid plötzlich eine Wirkung hat."

    Rudolf Pfeil vom Bundesinstitut für Risikobewertung bestätigt, dass es solche Studienergebnisse gibt. Doch sie seien mit weit höheren Stoff-Konzentrationen erzielt worden, als sie bei Obst und Gemüse auftreten. Pfeil:

    "Und hier kann man unserer Auffassung nach – und das ist auch international so gesehen worden – nicht die Erkenntnisse, die man mit sehr hohen Dosierungen gewonnen hat, auf einen Bereich übertragen, der für den Verbraucher relevant ist. Also, der Dosisbereich, der um das Hundert- oder Tausendfache unter diesen Dosierungen liegt, die im Tierversuch gar keinen Effekt mehr hervorgerufen haben."

    Man könne Mehrfach-Rückstände zum Teil sogar durch das Bemühen um einen besseren Gesundheits- und Umweltschutz erklären, sagt der Berliner Toxikologe. Und verweist auf Pestizide wie Parathion und E-605. Wegen ihrer Gefährlichkeit seien diese Nervengifte heute verboten. Pfeil:

    "Das sind aber die Stoffe mit dem breiten Wirkungsspektrum gewesen. Und stattdessen verwendet man heute Insektizide, die eine geringere Toxizität für den Menschen, aufweisen. Man muss dann eben mehr[ere] von diesen Stoffen anwenden, weil sie eben selektiver wirken. Das heißt also: Ein sehr gefährlicher Stoff wird durch mehrere weniger gefährliche Stoffe ersetzt. Das führt dann natürlich dazu, dass man auch mehr Rückstände findet."

    Dennoch bleibt die Frage, wie das Risiko von Mehrfach-Rückständen nun tatsächlich zu bewerten ist. Die Toxikologie hat das Problem tatsächlich lange vernachlässigt. Inzwischen werden Tierversuche aber auch mit Pestizid-Cocktails durchgeführt, wobei die Zahl der Untersuchungen noch überschaubar ist. Der wissenschaftliche Ausschuss für Pflanzenschutzmittel bei der EFSA hat sich diese Studien genauer angesehen. In diesem Gremium sitzt auch Bernadette Ossendorp, Biochemikerin am RIVM, dem Nationalen Institut für Öffentliche Gesundheit und Umwelt in den Niederlanden:

    "Wir wollten wissen, ob es Belege für Wechselwirkungen zwischen Pestiziden im Spurenbereich gibt. Und da zeigen die vorliegenden Fachstudien: Solche Wirkungen treten bei niedrigen Konzentrationen, in denen schon die Einzelstoffe praktisch keine Effekte haben, nicht auf."

    Doch letztlich können auch Expertinnen wie Bernadette Ossendorp keine wirkliche Entwarnung geben. Nach Lage der Dinge scheine der Verbraucher zwar geschützt zu sein, so formuliert es die holländische Biochemikerin. Doch weitere Untersuchungen zum Cocktail-Effekt könnten ergeben, dassdass diese Sicherheit trügt:

    "Auch ich bin nicht glücklich über 20 verschiedene Substanzen auf einer Paprika. Wenn bisherige Studien keine Wechselwirkungen zwischen Pestiziden gezeigt haben, heißt das nicht, das sie für immer ausgeschlossen sind."

    Rückkehr ins Geräte-Labor des Stuttgarter Untersuchungsamtes. Ein letztes Mal. Ellen Scherbaum blättert in einem zehnseitigen Papierausdruck. Sie weiß jetzt, wie stark die Weintrauben vom Großmarkt belastet sind.

    "Also, es ist eher ein günstiges Ergebnis für Tafeltrauben. Wir haben sechs verschiedene Stoffe nachgewiesen, allerdings durchgängig in sehr kleiner Konzentration. Also, diese Probe könnte man mit gutem Gewissen essen."

    Zwei Wochen lang hat die Lebensmittelchemikerin auf alle Werte warten müssen. Die übliche Zeitspanne für ein Mammut-Messprogramm mit über 500 einzelnen Pestiziden. Das ruft den früher schon angeklungenen Vorwurf in Erinnerung: Wenn die Belastung von Obst und Gemüse über der erlaubten Höchstmenge liegt, kommt das Gutachten aus dem Untersuchungsamt zu spät. Die Ware ist längst beim Verbraucher gelandet und verzehrt. Das ärgert auch Thomas Stegmanns, den Chef der Stuttgarter Lebensmittelüberwachung:

    "Ich würde mir wünschen, dass wir uns eventuell mal auf drei oder vier verdächtige konzentrieren, also von den Stoffgruppen her. Und sagen: OK, wenn morgens um zwei oder morgens um drei Uhr die Ware im Labor ist, habt Ihr nachmittags um 16 Uhr ein vorläufiges Ergebnis. Dann kann ich die Ware schon mal sicherstellen."

    Ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Kollegin im Untersuchungsamt. Doch die sagt:

    "Wenn wir praktisch die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal einsetzen wollen, dann ist nicht die Geschwindigkeit der entscheidende Faktor, sondern einfach die Qualität und der Umfang der Untersuchungen. Was nützt ein schnelles Ergebnis, wenn ich nur die Hälfte der Stoffe erfassen kann?"

    Außerdem sind da ja noch die Vollzugsbehörden. Sie können Verstöße gegen das Lebensmittelrecht in jedem Fall ahnden, auch nachträglich. Indem sie etwa Bußgelder verhängen oder schärfere Eigenkontrollen vorschreiben. Scherbaum:

    "Also, ich vergleiche es immer mit dem Verkehr. Wenn es keine Geschwindigkeitskontrollen gäbe auf unseren Straßen, dann würde jeder rasen."

    Doch erklärt das auch die rückläufigen Höchstmengen-Überschreitungen der letzten Jahre? Nein, sagt Manfred Krautter von Greenpeace. Bußgelder hätten so etwas nicht bewirkt:

    "Da werden allenfalls mal Ordnungsgelder verhängt. Das sind dann ein paar 100 Euro. Das steckt ein Unternehmen aus der Portokasse weg."

    Tatsächlich waren es die Messkampagnen von Greenpeace, die die großen Supermarktketten dazu brachten, ihre Lieferanten stärker in die Pflicht zu nehmen. Deshalb, so Krautter, liege heute Obst und Gemüse in den Auslagen, das bedeutend weniger Pestizid-Rückstände aufweise.

    "Wenn Greenpeace hier nicht eingegriffen hätte, hätten wir nicht diesen Positivtrend."

    Und noch etwas sollte nicht unerwähnt bleiben: der Nutzen für Umwelt und Arbeiter in den Anbauregionen. Zum Beispiel in der Gegend um Almeria in Südspanien, wo tonnenweise Paprika aus dem Verkehr gezogen wurden. Wegen der Sache mit dem illegalen Fungizid, das die Stuttgarter Lebensmittelchemiker aufspürten und das auch Greenpeace zum Thema seiner Kampagnen machte. In Almeria geht man inzwischen bevorzugt mit natürlichen Feinden gegen Blattläuse, Fruchtfliegen und andere Schadinsekten vor. Ein Erfolg, den sich – zumindest in diesem Fall - beide anheften können: Umweltschützer und Gesundheitsbehörden. Krautter:

    "Da gibt es inzwischen richtige Fabriken, auch eine vom größten Pestizidhersteller der Welt, der Firma Syngenta. Auch die scheinen zu merken, dass man Pflanzenschutz nicht nur mit Chemie betreiben muss. Und diese Alternative, die funktioniert inzwischen auch sehr gut bei Trauben. Sie wird bei Melonen eingesetzt und bei Zucchini. Und man hat nicht mehr die Spritzerei, die ja vor allem erstmal die Leute massiv beeinträchtigt, die dort die Spritzarbeit machen."

    "Tüte Champignons ein Euro hier! Blumenkohl hier für nur 2,50! Sonst noch was?"

    Krautter:

    "Das Angebot an Obst und Gemüse ist nach wie vor da. Niemand muss auf Paprika verzichten. Und es ist bessere Ware da."

    "Erdbeeren heute hier, Schale Erdbeeren hier für nur 1,99!"

    Krautter:

    "Eigentlich dürfte sich da niemand beschweren."

    "Klementinen heute hier 15 Stück 2,50."

    Scherbaum:

    "Es besteht auch für Menschen, die ein größeres Sicherheitsbedürfnis haben, die Möglichkeit, dann auch auf entsprechende Ware auszuweichen."

    "Was ist mit einem Tütchen Champignons für ein Euro? Nix?"

    Scherbaum:

    "Für diesen Verbraucherkreis gibt’s dann die biologisch erzeugte Ware."

    "Sonst noch was?"