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Ungesühntes SS-Verbrechen
Grausamer Mord an zwanzig jüdischen Kindern

Die Jüngste war fünf, der Älteste zwölf Jahre alt: Am 20. April 1945, kurz vor Kriegsende, erhängte die SS im Keller der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm zwanzig jüdische Kinder. Zuvor hatte man sie für medizinische Versuche missbraucht. Die Haupttäter - ein SS-Arzt und ein Histologe - wurden nie angeklagt.

Von Martin Tschechne |
    Gedenktafel in einer Hamburger Schule, die an die Ermordung von 20 jüdischen Kindern erinnert.
    Gedenktafel für 20 ermordete jüdische Kinder in der Schule am Bullenhuser Damm (picture alliance / dpa / Markus Beck)
    Ein Verbrechen wie Mord entzieht sich dem Vergleich. Und doch zeichnet sich das, was am 20. April 1945 im Keller der ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort geschah, durch ein ganz besonderes Maß an Grausamkeit aus. Was der Journalist Günther Schwarberg Jahrzehnte später rekonstruierte und 1979 unter dem Titel "Der SS-Arzt und die Kinder" als Serie im Stern und als Buch publik machte, belegt ganze Kaskaden von menschenverachtender Hybris.
    "Man hat sie erhängt in dem Keller. Die SS-Leute, die das tun sollten, haben eine Diskussion geführt mit dem Offizier, der das Kommando hatte. Haben gesagt: Muss das jetzt wirklich noch sein? Es sind doch nur noch wenige Tage, und dann wird man uns vielleicht zur Verantwortung ziehen. Er hat ihnen gedroht mit dem Kriegsgericht und dass man sie selbst bestrafen würde. Und dann haben sie's gemacht."
    Opfer des Wahnsinns
    Die Opfer waren 20 jüdische Kinder, Jungen und Mädchen, die jüngste fünf, der älteste zwölf Jahre alt. Opfer waren sie schon, als sie aus Marseille, Neapel, Eindhoven oder Lodz nach Auschwitz verschleppt wurden; Opfer wurden sie, als man sie dort ihren Familien entriss und Mütter, Väter, Schwestern und Brüder in die Gaskammern trieb. Die 20 Kinder kamen nach Hamburg, ins KZ Neuengamme, wo der SS-Arzt Kurt Heißmeyer und der Histologe Hans Klein Material für Menschenversuche erwarteten.
    Und als sie mit Tuberkulose-Bakterien infiziert dahinvegetierten, als Heißmeyer ihnen die Lymphdrüsen unter den Armen herausgeschnitten hatte, als sich nicht mehr leugnen ließ, dass die ganze Quälerei auch wissenschaftlich keinerlei Sinn ergab, und als schließlich klar war, dass englische Truppen schon vor der Stadt standen und die Schande der Tat sich nicht würde vertuschen lassen – da wurden die Kinder ein letztes Mal zu Opfern des Wahnsinns.
    "Man wollte die Spuren beseitigen, die diese Experimente an ihnen hinterlassen hatten, und Spuren beseitigen ging bei den Nazis immer am besten, indem man die Menschen umbrachte."
    Fritz Bringmann erfuhr von dem Verbrechen, als die englischen Besatzer den Mördern ein Jahr nach Kriegsende in Hamburg den Prozess machten. Und obwohl er als Kommunist im KZ gesessen hatte und also selbst ein Opfer war, ließ ihn das, was er dort gehört hatte, bis an sein Lebensende nicht los:
    "Und diese viehische Art, ja, stellt euch vor: Ein achtjähriges Kind, ja, legten sie die Schlinge um, und zog sich nicht zu. Das Kind erstickte nicht und kam nicht zum Tode. Und dann musste sich ein SS-Mann an den Körper des Kindes hängen, ja. Wenn du dann solche Dinge hörtest, ne, das ging echt unter die Haut."
    Justiz legte Hände in den Schoß
    Die Mörder wurden zum Tode verurteilt, doch die Haupttäter konnten sich absetzen – und für Schwarberg beginnt genau hier die Fortsetzung der Schande: durch eine Justiz nämlich, die nur allzu bereitwillig die Hände in den Schoß legte. Heißmeyer ordinierte 20 Jahre lang unbehelligt in der DDR, Klein starb 1984 als geachteter Arzt in Heidelberg, und der Lagerführer der SS, Arnold Strippel, wurde für verhandlungsunfähig erklärt, als ihm endlich wegen der Kinder der Prozess gemacht werden sollte.
    Das Verfahren wurde eingestellt. Schwarberg und seine Frau, die Rechtsanwältin Barbara Hüsing, taten, was Staatsanwaltschaft und Gerichte jahrzehntelang versäumt hatten: Machten überlebende Angehörige ausfindig, richteten am Tatort der Morde eine Gedenkstätte ein und riefen im April 1986 Zeugen, Vertreter der Opfer und vor allem die Öffentlichkeit zu einem internationalen Tribunal. Als Resümée der zweitägigen Verhandlung formulierte der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch:
    "Aufgrund dieses Beweismaterials hätten bereits vor Jahrzehnten die damals nicht anwesenden Tatbeteiligten Arnold Strippel, Kurt Heißmeyer und Hans Klein angeklagt werden müssen. Die Verzögerung des Verfahrens ist durch nichts gerechtfertigt. Das Tribunal fordert die Justiz auf, aus diesem Versagen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ein Staat, der die Verbrechen des Nazi-Regimes unbestraft lässt, ist anfällig für neuen Faschismus."
    Im Keller der ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm erinnern 20 Holzköfferchen an das Verbrechen. Unter ihren geöffneten Deckeln das, was von den Kindern geblieben ist: ein Familienfoto, ein Schriftstück, bei manchen nicht einmal der volle Name.