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Demirem: Republikgründer vor etwa 80 Jahren - der Herr Atatürk - hat immer gesagt: ‚Schaut immer zum Westen’ und daran haben wir uns all die Jahrzehnte auch immer orientiert.

Von Theo Geers |
    Semiha Öztürk: Der normale Mensch denkt, die Türkei hat so vieles geleistet, hat die Hausaufgaben in der ersten Etappe gemacht, sie hat alles gemacht. Die Türkei verdient damit einen Lohn, ein Dankeschön, ein ‚Ey-das-habt-ihr-gut-gemacht’. Und am 17. Dezember erwartet das Volk einfach: Wir fangen mit den Beitrittsverhandlungen an.

    Demirem: Wenn sie heute die Bevölkerung fragen in der Türkei dann sind 70 bis 75 % für den Beitritt

    Aufbruchstimmung in der Türkei...
    Unbehagen in der heutigen EU
    Die Türkei: Zu groß - zu anders - zu arm!

    Quaisser: Sie wird vielleicht ungefähr 30 - 35 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens der EU haben. Das ist deutlich weniger als die jetzigen Beitrittsländer und sie wird damit noch mit Regionen zu kämpfen haben, deren Einkommensschnitt vielleicht bei 10 % des EU-Durchschnitts liegt. In aktuellen Wechselkursen kann das Niveau sogar noch niedriger sein.

    Wolfgang Quaisser wagt einen Blick auf die Türkei - und zwar auf die Türkei des Jahres 2014. Dann könnte - manche sagen auch dann soll - es soweit sein: Die Türkei - so arm wie sie auch dann noch sein mag - ist als erstes islamisches Land Mitglied der Europäischen Union. Mit allen Rechten und Pflichten - und allen Ansprüchen. Und genau mit diesem Szenario beschäftigt sich der Wissenschaftler am Osteuropainstitut in München seit langem: Wo steht die Türkei heute, wie weit kommt sie in ihrer Entwicklung bis 2014 und was bedeutet das alles für die EU, die in 10 Jahren ebenfalls eine andere sein wird als heute.

    Wolfgang Quaisser steht für das Lager der Skeptiker. Würde die Türkei heute der Union beitreten, wüchse die Bevölkerung der EU um 15 % und ihre Fläche um 18%; das Bruttoinlandsprodukt stiege jedoch nur um 2,2 % und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der EU würde durch einen Türkei-Beitritt sogar um 9 % sinken. Das - vor allem aber die in der Tendenz auch noch steigende Zahl von 70 Millionen Einwohnern - weckt Unbehagen im westeuropäischen Kernland der EU:

    Zu groß zu anders zu arm

    Ganz anders das Bild in der Türkei selbst. Dort ist ein Ruck durch das Land gegangen. Das Bild vom kranken Mann am Bosporus, der es sowieso nie schafft, stimmt nicht mehr. Seit zwei/drei Jahren macht die Türkei vielmehr genau das, was in der EU lange Zeit niemand für möglich hielt: Die Türkei nimmt die EU beim Wort und ihre Beitrittskriterien plötzlich ernst. Gebannt schaut das ganze Land auf den EU-Gipfel in der nächsten Woche in Brüssel: Aus Sicht der 70 Mio. Türken kann dort nur ein Beschluss gefällt werden: Im kommenden Jahr mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Der Beitritt selbst soll - übrigens auch aus Sicht Ankaras - frühestens in 10 Jahren, also ab 2014, vollzogen werden.

    Das hat auch finanzielle Gründe. Denn im kommenden Jahr müssen sich die jetzigen 25 EU-Staaten zunächst auf eine neue Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013 einigen. Und zwar einstimmig. Bei diesem Hauen und Stechen zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern, zu denen vor allem die zehn im Mai neu hinzugekommenen Länder zählen, würde die Türkei das ohnehin schon große Problem nur noch vergrößern.

    Die EU hat es also nicht eilig - und die Türkei auch nicht. Aber die Ende 2002 ins Amt gekommene konservativ-islamische Regierung unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan lässt gleichzeitig keine Zweifel aufkommen: Sie will die Türkei in die EU führen, und zwar weil sie dort - und nur dort! - hingehöre. Diesem einen Ziel dient die Rosskur, die Erdogan dem Land 2002 verordnete...

    Mehr als 250 Gesetze wurden geändert: das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung, das Gesetz über den nationalen Sicherheitsrat, das Vereinsrecht, das Demonstrationsrecht, alles was einem in den Sinn kommt in punkto Menschenrechte und Demokratie. Wir haben es macht! Und da sind noch weitere Überraschungen drin. Viele Länder waren geschockt, dass wir bei den politischen Kriterien so gut waren. Und wir denken, dass wir das bei den wirtschaftlichen Kriterien genau so gut hinkriegen.

    Ahmet Acet personifiziert das neue türkische Selbstbewusstsein. Der langjährige Diplomat und heutige Generalsekretär für EU-Angelegenheiten weiß genau, was in Brüssel von seinem Land erwartet wird. Ahmet Acet ist derjenige, der in der türkischen Regierung das berühmte Häkchen hinter jede abgeschlossene Reform macht und dann Vollzug nach Brüssel meldet. Und die 250 Häkchen der letzten drei Jahre machen selbstbewusst. Denn ohne diese Reformen wäre der Wirtschaftsboom undenkbar, der vor drei Jahren in der Türkei begann.

    Vergessen sind die schweren Wirtschaftskrisen von 1999 und 2001, als das Land nur durch den Internationalen Währungsfonds vor dem ökonomischen Kollaps bewahrt werden konnte. 18,6 Mrd. Dollar pumpte der IWF an Krediten in das Land.
    Seitdem wurden die Zentralbank in die Unabhängigkeit entlassen...
    ... der Wechselkurs der türkische Lira frei gegeben....
    ... und die Bankenaufsicht verstärkt - um nur die wichtigsten Wirtschaftsreformen zu nennen.

    Parallel dazu senkte die Regierung das Defizit im Staatshaushalt von fast 30 % des Bruttoinlandsprodukts im Krisenjahr 2001 auf unter 9 % im vergangenen Jahr...

    ... Die Zentralbank drückte die Inflationsrate von 65 % vor fünf Jahren auf heute rund 10 %.

    ... und 2005 lautet die Zielmarke auf 8 %. 2008 soll in der Türkei Preisstabilität herrschen.

    Für Türken wie für jeden Besucher werden diese Erfolge am 1. Januar sichtbar: Durch einen Währungsschnitt werden bei der türkischen Lira sechs Nullen gestrichen. Ein Euro ist dann nicht mehr knapp 1,9 Millionen Lira wert, sondern nur noch 1 Lira und 90 Kurus. Überall im Land hängen bereits die Plakate mit den Vorder- und Rückseiten der neuen Scheine und der neuen Münzen, Münzen übrigens, an deren Gebrauch sich nach 30 Jahren Dauerinflation nur noch ältere Türken vage erinnern können. Angesichts solcher Erfolge trommeln derzeit viele Lobbyisten für einen EU-Beitritt der Türkei, auch der Unternehmer Ömer Sabanci:

    Wir glauben, die Krisen sind überstanden. Zu ihrer Information: 2002 und 2003 hatten wir ein Wachstum von 6 _ % pro Jahr. Im ersten Halbjahr 2004 lag das Wachstum bei 13 _ Prozent! Die Türkei ist also eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in der Welt.

    Ömer Sabanci ist Präsident des Verbandes türkischer Industrieller und Unternehmer - kurz Tüsiad, dem Gegenstück zum deutschen BDI. Als oberster Repräsentant der türkischen Wirtschaft vergleicht Sabanci die Entwicklung in seinem Land bereits mit dem Wirtschaftswunder im Deutschland der Nachkriegszeit. Ähnlich die Einschätzung von Wirtschaftsminister Ali Babacan: Auch er sieht die Türkei in einer total neuen Ära:

    Die türkische Wirtschaft hat viel mitgemacht, weil es jahrelang keine politische Stabilität gab. Denn das ständige Auf und Ab, ein Jahr Wachstum, im nächsten wieder eine Krise, das war sehr typisch für uns. Deshalb sind die gemachten Schritte bei der Bekämpfung der Inflation, der Verringerung unserer Staatsschulden oder die Entscheidungen in der Wechselkurspolitik der Schlüssel für die Erfolge der letzten zwei Jahre. Aber noch wichtiger waren vielleicht die strukturellen Reformen, die wir auch noch fortsetzen werden, etwa im Finanzsektor, im öffentlichen Sektor, wie und wofür staatliche Gelder ausgegeben werden und auch die Steuerreform - das waren die Hauptfelder bisher und da werden wir auch in der Zukunft dran bleiben.

    Das war nicht immer so. Im Gegenteil: Typisch für die Türkei war jahrzehntelang die so genannte "Achterbahn-Ökonomie". Boom und Krise - das wechselte bis vor zwei Jahren in atemberaubenden Sprüngen, ablesbar an den Wachstumsraten der türkischen Wirtschaft....

    1999:
    minus 4,7 Prozent

    2000
    plus 7,4 Prozent

    2001
    minus 7,5 Prozent

    2002
    plus 7,8 Prozent.
    kurzum: ein ständiges Auf und Ab...

    Das ist nicht mehr Fall. Definitiv! Wir haben jetzt Jahr für Jahr stolze Wachstumsraten, aber - und das ist sehr sehr wichtig - wir haben noch kein nachhaltiges Wachstum. Die Tatsache, dass wir in diesem Jahr ein Wachstum von 10 % haben, heißt nicht, dass wir nachhaltiges Wachstum haben.

    Sürreyya Serdengecti ist einer der wenigen aus der türkischen Führungselite, der dem aktuellen Boom im Lande noch nicht so recht traut und - kraft Amtes - zur Vorsicht mahnt.
    Sürreyya Serdengecti ist Präsident der türkischen Zentralbank, die erst vor 3 Jahren unabhängig wurde. Serdengecti verweist nicht nur auf die Rückzahlungsverpflichtungen für die vom Weltwährungsfonds gewährten Kredite, welche auf der Türkei lasten. Sorge bereitet ihm vor allem das hohe Defizit in der Leistungsbilanz: Das Land lebt über seine Verhältnisse. Und die Frage ist, wie lange das noch gut geht, unterstreicht auch Wolfgang Quaisser vom Münchener Osteuropainstitut:

    Das Problem der türkischen Wirtschaft ist, dass ihr doch hohes Leistungsbilanz-Defizit, was sich verstärkt hat, sehr stark durch kurzfristige Kapitalzuflüsse gedeckt werden muss und der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen viel zu gering ist, d.h. jede Vertrauenskrise in die türkische Wirtschaftspolitik hat gleich Auswirkungen auf die Kapitalbewegungen und dann kann eine negative Spirale einsetzen, wenn diese Vertrauenskrise anhält.

    Doch von derartigen Szenarien will man in Ankara derzeit nichts wissen. Auch nicht davon, dass die ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei seit Jahren bei nur rund 1 Mrd. Dollar im Jahr stagnieren, was eher ein Misstrauensbeweis ist. Denn damit fließt in die große Türkei gerade einmal genau so viel wie in das kleinere Rumänien oder das noch kleinere Bulgarien. Das kratzt an dem Bild, das die türkische Regierung ebenso wie türkische Unternehmer derzeit am liebsten zeichnen - das Bild vom boomenden Tigerstaat, glücklicherweise auch noch vor der Haustür der EU!

    Tatsächlich wären die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Türkei-Beitritts in der EU kaum zu spüren. Im vergangenen Jahr kamen gerade einmal 2,5 % ihrer Importe aus der Türkei und 3 Prozent ihrer Exporte gingen in die Türkei. Ungleich wichtiger ist dieser Handel aus Sicht der Türken, die von der 1995 eingerichteten Zollunion profitieren: Aus ihrer Sicht gehen 58 % der Ausfuhren in die EU und 52 % der Einfuhren kommen aus der EU.

    Sprich: Für die Türkei ist die Union viel wichtiger als umgekehrt.

    Der aktuelle Wirtschaftsboom in der Türkei spiegelt sich auch in der deutschen Handelsbilanz: Die deutschen Exporte in die Türkei stiegen im ersten Halbjahr um fast 50 % auf 5,9 Mrd. €, die Importe dagegen nur um knapp 5 Prozent auf 3,7 Mrd. €.

    Deutschland profitiert also deutlich vom Exportgeschäft mit der Türkei, was auch erklärt, warum die deutsche Industrie den EU-Beitritt des Landes genau so vorbehaltlos unterstützt wie die rot-grüne Bundesregierung. Allerdings wird auch dort inzwischen spitz gerechnet, unterstreicht Bundesfinanzminister Hans Eichel:

    Wenn ich mir die heutige Agrarpolitik vorstelle und dann nach dem weiteren Beitritt von Bulgarien und Rumänien den der Türkei vorstelle, dann sage ich: Das wird so nicht funktionieren. Und das muss man ehrlicherweise sagen, weil wir als Deutsche gerade vor dem Hintergrund des Haushalts für die Periode 2007 bis 2013 ganz entschieden dafür eintreten, dass der Haushalt der Union bei einem Prozent des Bruttonationalprodukts bleibt, was kein Einfrieren des Haushalts ist, sondern was bedeutet, dass der Haushalt der EU von jetzt 100 auf 150 Mrd. € ansteigen wird. Eine Steigerung, die kein deutscher Haushalt haben wird. Nicht ansatzweise! Und der deutsche Beitrag wird in dieser Zeit immer stärker wachsen als Anteil an unserem Haushalt.

    Das kann auch so nicht funktionieren. Beispiel Landwirtschaft. Nach einem Beitritt der Türkei würde die landwirtschaftlich genutzte Fläche in der EU um fast ein Viertel zunehmen oder zusätzliche 39 Mio. ha. Zwar geht auch in der Türkei die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft stetig zurück. Doch immer noch arbeitet über ein Drittel der Türken in diesem Sektor, der aber nur 12,2 % zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Zum Vergleich:

    In der jetzigen 25er-Gemeinschaft arbeiten 5 % der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft und erwirtschaften 2,2 % Wirtschaftsleistung. Das zeigt:

    Der agrarpolitische Anpassungsprozess wird für die Türkei lang und schwierig und für die EU vor allem teuer. Würde die bereits reformierte EU-Agrarpolitik in ihrer jetzigen Fassung auf die Türkei übertragen, könnten die türkischen Bauern ab 2014 jährliche Zahlungen aus dem EU-Agrarhaushalt von 11,3 Mrd. Euro beanspruchen.

    Dabei ist die Landwirtschaft noch nicht einmal das größte Problem! Viel größer ist die Herausforderung in der Struktur- und Regionalpolitik. Selbst die reichste Region Kocaeli, also der Speckgürtel rund um Istanbul, kommt heute gerade einmal auf ein Pro-Kopf-Einkommen, das mit 46 % weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts erreicht. Richtung Osten wird das Wohlstandsgefälle immer größer. Die ärmsten Regionen Agri und Van in Ostanatolien kommen nur auf 8 % des EU-Durchschnitts und liegen damit praktisch auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Die Aufholjagd wird lang dauern. Da ist sich Wolfgang Quaisser vom Osteuropainstitut in München sicher:

    Das wird mehrere Jahrzehnte brauchen, wenn wir die Kaufkraft pro Kopf nehmen, dann denke ich es wird mindestens 3 - bis vier Jahrzehnte brauchen, bis wir eine Annäherung an einen Schwellenwert von 75 % des EU-Niveaus haben. Diese Annahmen beruhen darauf, dass dieser Prozess nicht wieder durch eine Krise unterbrochen wird, denn in der Vergangenheit waren es gerade diese Krisen, die das durchschnittliche Wachstum vermindert haben.

    Nach derzeitiger Datenlage und gemäß den heute geltenden Vergabekriterien für die EU-Regionalbeihilfen käme das gesamte türkische Staatsgebiet für die Höchstförderung in Frage.

    Daraus ergäben sich Transferzahlungen zwischen 22,1 und 33,5 Mrd. € pro Jahr. Selbst bei einer Begrenzung dieser Zahlungen auf maximal zwei Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts flössen immer noch jährlich netto 16,5 Mrd. € - und das möglicherweise auf Jahrzehnte.

    Davon abzuziehen wäre der Beitrag, den die Türkei an die EU-Kasse abführt.

    Die EU-Kommission kalkuliert hier 5,6 Mrd. Euro ein - das allerdings erst im Jahr 2025. Unterm Strich würde ein EU-Beitritt der Türkei dann Jahr für Jahr netto bis zu 27,9 Mrd. € kosten. Doch an derartige Summen glaubt selbst der Türkei-Skeptiker Wolfgang Quaisser nicht. Er errechnete 21 Mrd. €, schränkt aber selbst ein:

    Natürlich sind das hypothetische Berechnungen. Ich glaube nicht, dass die Türkei jemals 21 Mrd. Euro im Jahr 2014 bekommen würde. Das zeigt aber, dass die jetzigen Regelungen nicht gelten können für die Türkei, um uns nicht selber zu sprengen. D.h. wir müssten andere neue Regelungen für die Türkei finden oder wir müssten unsere jetzigen EU-Politikbereiche Agrar und Struktur so ändern, d.h. aushöhlen, dass sie auch mit der Türkei funktionieren können.
    Allerdings hat die jetzige EU und damit auch ein Nettozahler wie Deutschland, der in absoluten Zahlen den größten Anteil für zukünftigen Zahlungen an die Türkei schultert, auch ein großes Interesse daran, dass der Türkei finanziell geholfen wird. Das Wohlstandsgefälle zur EU soll so schnell wie möglich sinken. Denn davon hängt zum Beispiel ab, wie viele Türken nach einem EU-Beitritt zu den bereits in Deutschland lebenden 2,3 Millionen hinzukommen könnten. Manche Experten erwarten eine Zuwanderung von 1,5 Millionen....:

    Ich liege mit meiner Schätzung von etwa 4 Millionen an der oberen Grenze bei den jetzigen Einkommensdifferenzen. Ich sage aber, wenn sich diese Differenzen halbieren, wird dieses Potential, was ja nicht heißt, dass die Leute wirklich wandern, auf 1,3 Millionen vermindern.

    Ganz anders wird das Problem von türkischer Seite eingeschätzt. Dort wird sogar eine Rückkehr vor allem der Türken nicht ausgeschlossen, die in der 60er Jahren als Gastarbeiter kamen und sich bis heute nicht richtig integriert haben. Ein Eu-Beitritt könnte ihnen Anreize für die Rückkehr geben: wirtschaftliche Stabilität, vielleicht einen Arbeitsplatz, auf jeden Fall aber eine sichere Rente und funktionierende Sozialsysteme. Denn in einem sind sich deutsche wie türkische Experten sicher: Je stabiler die Türkei wirtschaftlich wie politisch wird, desto kleiner ist der Wanderungsdruck aus der Türkei nach Deutschland. Und türkische Politiker wie Ahmet Acet können sich hier auch folgenden Hinweis nicht verkneifen:

    Wenn Europa in 20 oder 25 Jahren eine gealterte Gesellschaft hat, dann dürfte es offenkundig ein Vorteil sein, wenn Europa von den jungen türkischen Arbeitskräften profitieren kann. Ich weis aber gar nicht, ob diese dann überhaupt verfügbar sind. Vielleicht brauchen wir sie selbst. Das ist einfach etwas, über das man letztlich nur spekulieren kann.

    Selbstbewusste Aufbruchstimmung in der Türkei...

    skeptisches Unbehagen in der heutigen EU
    Beides steht sich wenige Tage vor dem wahrscheinlichen Beschluss, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, unverändert gegenüber. Es geht in den nächsten zehn Jahren um die spannende Frage, ob eine islamisch geprägte Gesellschaft den Weg in eine offene Demokratie findet und in eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung - und ob dafür ein EU-Beitritt nötig ist - oder nicht. Der wahrscheinliche Beschluss, mit der Türkei in Beitrittsverhandlungen einzutreten, ist damit zunächst ein rein politischer. Die Wirtschaft kommt später.