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Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat
Verfestigte Armut trotz Sozialleistungen

In Deutschland stagniert die soziale Ungleichheit, so ein Ergebnis der Kölner Tagung über Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat. Trotz Umverteilung werden immer weniger Nicht- oder Geringverdiener aus der Armutsfalle befreit. In anderen Ländern gelingt das besser - aus vielfältigen Gründen.

Von Ingeborg Breuer |
    Eine Seniorin zieht einen 20 Euro Schein aus ihrem Portemonnaie.
    Um zu beurteilen, wer in Deutschland arm ist, könnte Armut an der Kaufkraft festgemacht werden - die aber ist regional unterschiedlich (imago / imagebroker)
    "In Deutschland ist es definitiv so, dass es einen Anstieg der Ungleichheit gegeben hat, aber das hat einen relativen Halt ab 2005 ergeben."
    Zwischen 1995 und 2005 hat die Ungleichheit in Deutschland zugenommen. Seither stagniert sie, geht aber auch nicht zurück, erläuterte die Trierer Soziologin, Professor Ursula Dallinger. Welche Folgen das hat und wie Deutschland im internationalen Vergleich da steht, war Thema der Kölner Tagung über Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat, die von der Sektion Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie organisiert wurde. Inwieweit der Staat die Spreizung zwischen Arm und Reich zu mildern vermag, untersuchte die Politikwissenschaftlerin Dr. Laura Seelkopf anhand ausgewählter OECD-Staaten. Sie verglich dafür den Gini, den Ungleichheitsindex eines Landes bei den Brutto-Einkommen mit dem Gini der Netto-Einkommen, also dem, was nach Umverteilung durch Steuern und Sozialabgaben übrig bleibt.
    "Der Flop ist die USA, die USA sind schon sehr ungleich, verteilen dann aber auch wenig um, weswegen dann auch die Netto-Ungleichheit sehr stark ist. Deutschland ist in vielen Dingen ähnlich ungleich wie die USA, wenn man sich die Markteinkommen anschaut, verteilt aber deutlich stärker um, so dass es im Mittelfeld steht. Der Top ist vermutlich Dänemark, die sind schon sehr gleich, verteilen noch mal viel um und das ist dann eines der gleichsten Länder vermutlich der Welt."
    Umverteilung trotz Globalisierung möglich
    Die verbreitete Ansicht, dass globalisierte Märkte die Wohlfahrtsstaaten unter Druck setzen, weil diese sich marktgerecht verhalten müssen, kann die Ungleichheitsforscherin an der Uni Bremen nicht bestätigen. Nationale Umverteilungspolitik ist trotz Globalisierung - wenn auch in Grenzen - möglich.
    "Die Globalisierungspanik, dass alles ruiniert ist und der Nationalstaat nichts mehr tun kann, ist übertrieben. Im Durchschnitt reagieren OECD-Länder auf die gestiegene Marktungleichheit, indem sie auch automatisch mehr umverteilen. Allerdings steigt diese Umverteilung nicht so stark, dass sie die steigende Marktungleichheit vollkommen ausgleicht."
    Laura Seelkopf hob hervor, dass etwa die skandinavischen Länder einen hohen Grad an gewerkschaftlicher Organisation haben - und folgerte:
    "Länder die starke Gewerkschaften haben, sind die, die mehr umverteilen."
    Wirksame Sozialleistungen in Skandinavien
    Auch Dr. René Lehwess-Litzmann, Sozialwissenschaftler an der Uni Göttingen, wählte eine internationale Perspektive auf sozialpolitische Interventionen. Er untersuchte, inwieweit es europäischen Ländern seit der Wirtschafts- und Bankenkrise gelungen ist, Menschen mit Einkünften unter der Armutsschwelle durch - umverteilende - Sozialleistungen über die Armutsschwelle zu heben. Und es verwundert wohl wenig,
    "Dass die skandinavischen Wohlfahrtstaaten die höchste Wirksamkeit ihrer Sozialleistungen aufweisen. Also die meisten der armutsgefährdeten Haushalte im Vergleich werden dort über die Armutsschwelle gehoben in ihrem Haushaltseinkommen und Griechenland ist nach wie vor das Schlusslicht."
    In Deutschland allerdings gelang es zunehmend weniger, Menschen durch Sozialleistungen aus der Armutsfalle zu befreien.
    "Wenn im Jahr 2006 ungefähr 38 Prozent der Haushalte, die vor Sozialleistung armutsgefährdet waren, nach Sozialleistung nicht mehr armutsgefährdet waren, waren es im Jahr 2014 nur noch 32 Prozent der Haushalte, die der Wohlfahrtsstaat über die Armutsschwelle gehoben hat. In Deutschland liegt das zu einem geringen Anteil an einer Verschlechterung der Gesamtsituation. Es ist wohl eher so, dass die Sozialleistungen nicht mit der Entwicklung der Einkommen Schritt gehalten haben."
    Verfestigte Armut in Deutschland
    Die Ungleichheit steigt also seit 2006 in Deutschland kaum noch an, die Armutsgefährdung aber doch. Vor allem die Nicht- oder nur geringfügig Erwerbstätigen verharren oft an der Armutsgrenze. Das heißt. dass sie nur 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung haben. Prof. Ursula Dallinger, Veranstalterin der Kölner Tagung:
    "Warum hat man so eine verfestigte Armut trotz einem Arbeitsmarkt, der ja angeblich sehr aufnahmefähig ist? Es sind bestimmte Personengruppen, die offensichtlich so vielfältige Vermittlungshindernisse haben, dass sie auf den Arbeitsmarkt nicht einsteigen. Da muss man immer noch die Sondersituation der starken Zunahme der Migration sehen, die natürlich sich auf die Armutspopulation auswirkt. Weil es sind Menschen, die sind neu angekommen und es wird dauern, bis die in den Arbeitsmarkt integriert sind."
    Es sind vor allem Alleinerziehende und ihre Kinder, Arbeitslose und auch migrantische Familien, die in Deutschland armutsgefährdet sind. Allerdings, darauf wies Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft hin, um wirklich beurteilen zu können, wer in Deutschland arm sei, dürfe man Armut nicht an einem einheitlichen Maßstab für das Einkommen, sondern müsse sie an der Kaufkraft festmachen. Daran also, was Menschen sich von ihrem Einkommen leisten können. Und dies sei regional unterschiedlich. So gerechnet sei die Armutsgefährdung in Ostdeutschland keineswegs so hoch, wie sie mit dem Parameter der Einkommensarmut gemessen würde. Andererseits aber verschärfe sich das Stadt-Land-Gefälle.
    "Wir sehen, dass die Gruppen, die ohnehin hohe Armutsgefährdungsquoten haben, in Städten besonders betroffen sind. Das sind Personengruppen, wo die Arbeitsmarktbeteiligung irgendwie eingeschränkt ist. Wir haben auch sehr wirtschaftsstarke Städte wie Frankfurt, die eine hohe Kaufkraftsarmutsquote haben, wir haben noch etwas höhere Werte bei den Städten in den abgehängten Regionen, also Gelsenkirchen und Bremerhaven."
    Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit gering
    Ob der Sozialstaat der gewachsenen Ungleichheit und Armutsgefährdung eher durch mehr Umverteilung - etwa durch Vermögens- oder höhere Erbschaftssteuer - oder durch bessere Förderung armutsbedrohter Menschen - etwa den Ausbau der Kinderbetreuung für Alleinerziehende - begegnen soll, ist eine Frage der politischen Couleur. Allerdings wies der Vorsitzende des DGB-Stadtverbands Köln, Dr. Witich Roßmann, darauf hin, dass zurzeit der Widerstand der Bevölkerung gegen soziale Ungerechtigkeiten ohnehin relativ niedrig sei. Das liegt vielleicht daran, dass aufgrund der langandauernden ökonomischen Stabilität die Lebenszufriedenheit in Deutschland aktuell sehr hoch ist. Und das, obwohl die Deutschen durchaus meinen, dass es in ihrem Land nicht gerecht zugeht. Dr. Patrick Sachweh, Soziologe an der Uni Frankfurt:
    "Die eigene wirtschaftliche Lage wird im Durchschnitt als positiv bewertet. Da gibt es sicher auch noch mal schichtspezifische Differenzierungen, aber im Großen kann man dem zustimmen. Auf der anderen Seite finden wir zwischen 1994 und 2014 einen Anstieg des Ungerechtigkeitsempfindens, der sich vor allem aus dem Anstieg des Ungerechtigkeitsempfindens bei den oberen Einkommensgruppen speist. Im Grunde haben wir eine Diskrepanz zwischen ‚mir selbst geht’s gut‘ und ‚der Gesellschaft geht‘s schlecht‘."
    Eher kulturell abgehängt: AfD-Wähler
    Nicht zufrieden allerdings, so ergaben Untersuchungen von Patrick Sachweh, sei die Wählerschaft der AfD. Sie rekrutiere sich vor allem aus jenem Teil der Bevölkerung, der sich sozial und ökonomisch benachteiligt fühlt. Die Ostdeutschen hätten vor allem das Gefühl, "nicht das zu erhalten, was einem zusteht, also sich ungerecht behandelt zu fühlen. Ebenso spielt eine Rolle, sich Sorgen über die zukünftige Lage der Kinder zu machen, das ist vor allem im Westen ein wichtiger Grund. Und insoweit kann man sagen, dass subjektive Erwartungen einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage von einem selbst oder der Kinder oder auch eine aktuell erlebte als ungerecht empfundene wirtschaftliche Lage die Neigung erhöht, für die AfD zu stimmen.
    Aus dem Publikum kam allerdings der Einwand, ob das Erstarken der AfD nicht mehr mit der Flüchtlingskrise zu tun habe als mit der Angst vor der sozialen Deklassierung. Und dass eine Art kultureller Unzufriedenheit durchaus ein Grund für rechtspopulistische Sympathien ist, will auch Patrick Sachweh nicht ausschließen.
    "Ich würde vielleicht auch sagen, was die Leute umtreibt, ist eine Abwertung des eigenen Lebensmodells. Dass also eine sehr an traditionellen Werten orientierte Lebensführung, die sich ein ganz traditionelles Familienbild stützt, wo der Mann zum Beispiel arbeiten geht und die Frau die Familie versorgt, dass das etwas ist, was im Mainstream nicht mehr eine privilegierte Mehrheitsposition sichert."
    Andere Studien, wie die des Leipziger Soziologen Holger Lengfeld, kamen ohnehin zu dem Ergebnis, dass AfD-Sympathisanten eher kulturell als wirtschaftlich abgehängt seien. Insofern liegt hier möglicherweise ein Problem vor, dass den Ungleichheitsforschern zu wenig in den Blick gerät. Die letzten Bundestagswahlen jedenfalls wären wahrscheinlich anders ausgefallen, wenn wirtschaftliche Ungleichheitsproblematiken zu den drängendsten Problemen der Bevölkerung gehört hätten.