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Unglückliche Kombination

Hydrologie. - Obwohl die Niederschläge in diesem Jahr die Rekorde von 2002 wohl nicht erreichten, haben die Wasserstände an den großen Flüssen die damaligen übertroffen. Den Ausschlag gaben die Böden, durch das nasse und kalte Frühjahr vollgesogen waren, und die Pflanzen, die verspätet mit dem Wachstum begonnen hatten. So wurde nur ein geringer Teil der Regenflut zurückgehalten.

Von Volker Mrasek |
    Der Hafen Koblenz-Lützel am Rhein. Am Kai liegt ein rund sieben Meter langes Boot mit zwei Außenbordmotoren. Es gehört der BfG, der Bundesanstalt für Gewässerkunde. Bootsführer Rudolf Bertram ist zur Zeit fast ständig im Einsatz

    "Das ist das Messboot M1. M1 ist unser Referat. Und in dieses Referat gehört die Abflussmessung."

    Neben Bertram hockt noch Matthias Adler in der Kajüte. Vor sich hat der Ingenieur und Hydrologe seinen Laptop. Der Bildschirm zeigt den Rhein im Querschnittsdiagramm.

    "Die letzte Messung war jetzt in Andernach. Und da haben wir eine Wassermenge von 6000 Kubikmetern pro Sekunde gemessen. Eine normale Wasserführung sind etwa 2000 Kubikmeter pro Sekunde."

    Am Rhein ist das Hochwasser diesmal noch glimpflich verlaufen. Schlimmer getroffen hat es Städte und Ortschaften an der Donau, am Inn und an der Elbe. Der Hydrologe Jörg Uwe Belz, bei der BfG zuständig für gewässerkundliche Analysen:

    "Besonders extrem war es an der Donau. Wir haben gerade im Abschnitt zwischen Regensburg und Passau ganz extreme Wasserstände und Abflüsse, die teilweise seit Bestehen der jeweiligen Pegel noch niemals aufgetreten sind. Das Extremste war eigentlich in Passau, nach dem jetzigen Stand der Information, wo der Extrempegel, der bei 12,20 Meter lag, diesmal bei 12,89 gemessen wurde. Das ist natürlich schon auf dem hohen Niveau ein Aufsatteln, was fast verstört."

    Auch an der Elbe sprechen die bisher erreichten Wasserstände für ein Extremereignis. Belz:

    "Erwartet werden Abflüsse, die ungefähr bei 4350, 4400 liegen werden. Das heißt also, 4400 Kubikmeter pro Sekunde. Das sind Dinge, ganz grob, ganz grob, ohne daß jetzt da einem die Pistole auf die Brust gesetzt werden sollte – einmal in 100 Jahren passiert das, ..."

    … statistisch gesehen jedenfalls ...

    "Der Rekordwert liegt bei 4540, wenn ich das richtig im Kopf habe. Bei Dresden, von 2002. Wir sind knapp darunter."

    Hochwasser haben immer eine Vorgeschichte. Diesmal muss Andreas Becker besonders weit ausholen, wenn er sie erzählt. Der Meteorologe leitet das Referat für Niederschlagsüberwachung beim Deutschen Wetterdienst in Offenbach:

    "Der Mai und auch das gesamte Frühjahr war ja relativ kühl. Und sie waren vor allen Dingen zu nass. Und das hat in der Konsequenz, daß wir für den Mai sehr, sehr hohe Bodenfeuchten angetroffen haben, wie wir sie seit langer, langer Zeit nicht mehr gesehen haben."

    Böden besitzen sehr große Porenräume. Niederschlagswasser kann darin versickern. Normalerweise jedenfalls ...

    "Wenn Sie dann in der Tat den Boden völlig gesättigt haben, dann kann er natürlich auch nicht mehr infiltrieren. Er muss dann aber schon wirklich schon komplett voll sein. Und das hatten wir in der Tat in einigen Regionen jetzt."

    Auf etwa 40 Prozent der Landesfläche gab es in der letzten Maiwoche neue Allzeit-Rekorde für die Bodenfeuchte. Das meldete das Zentrum für Katastrophenmanagement und Technologien zur Risikoreduktion, eine gemeinsame Einrichtung des Geoforschungszentrums Potsdam und des Karlsruhe-Instituts für Technologie. Um bis zu 95 Prozent war die Wasseraufnahme-Kapazität der Böden demnach weiträumig reduziert. Der Regen, den sie nicht aufnahmen, floss direkt ab. Andreas Becker:

    "Das war sicherlich für dieses Jahr eine Besonderheit und hat dann eben auch zu einer Verschärfung der Hochwassersituation beigetragen. So daß also diese Niederschläge, die ja eben nicht die Rekorde der 2002-Flut brechen konnten und deutlich darunter gelegen haben, daß diese Niederschläge aber dennoch eben zu diesen schweren Hochwassern führen konnten."

    Es kam noch etwas hinzu.Die Vegetation trieb diesmal nicht so früh aus wie sonst. Peter Krahé, Meteorologe bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde:

    "Das beginnt ja quasi im Frühjahr. Und wir haben in diesem Frühjahr ja, eben durch diese ungünstige Witterung auch ein verspätetes Wachstum nicht nur der Laubwälder, sondern auch der landwirtschaftlichen Nutzflächen."

    Pflanzen entziehen dem Boden Wasser, das sie brauchen – gerade wenn sie wachsen. Dadurch kann der Untergrund mehr Niederschlag aufnehmen – was diesmal aber nicht der Fall war. Krahé:

    "Diese Wasserentnahme aus den Böden über das Wurzelwerk war halt eben gering."

    Der wolkenverhangene Himmel im Mai hatte noch eine Folge. Weil sich die Sonne nur selten blicken ließ, verdunstete auch wenig Bodenwasser durch solare Einstrahlung. Krahé

    "... und es konnte eben nicht wie sonst in einem normalen April, Mai ein großer Bodenspeicherraum freigehalten werden."

    Unterdessen begann es im Mai, fast pausenlos zu regnen. In den ersten drei Wochen fielen im Schnitt 64 Millimeter Niederschlag pro Tag in den Einzugsgebieten der großen Flüsse. Ab dem 25. Mai spitzte sich die Lage an den Strömen dann noch einmal zu. Die mittlere Regenmenge stieg nach Daten der BfG auf fast 90 Millimeter pro Tag. Andreas Becker und seine Kollegen beim Deutschen Wetterdienst haben zügig ihre jüngste Regenradar-Daten für ganz Deutschland ausgewertet:

    "In der Region um Dresden sind mehr als das Dreifache des Monatssolls für Mai gefallen. Und das ist schon eine erhebliche Menge."

    Für den Abfluss-Meßtrupp der Bundesanstalt für Gewässerkunde ist es Zeit umzuziehen. Die Arbeit am Rhein ist für Matthias Arndt erledigt ...

    "Wir werden das Boot gleich auf den Trailer laden und an die Elbe fahren. /Also, hier haben wir in etwa ein zehnjährliches Hochwasser, während wir an der Elbe Wasserstände haben – vor allem an der unteren Elbe erwarten wir das - wie sie noch nie da gewesen sind."

    Tatsächlich sollen die Pegel an der Unterelbe nach den Vorhersagen noch einige Tage weiter steigen – und neue Rekordstände erreichen. Kritisch könnte es aber auch an den anderen Flussläufen noch einmal werden. Falls es erneut kräftig regnet oder gewittert. Denn so schnell werden die durchnässten Böden nicht wieder trocken. Dafür müsse die Sonne jetzt gut und gerne zwei Wochen am Stück scheinen, die Temperaturen dürften nicht wieder unter 20 Grad Celsius fallen, sagt Peter Krahé. Nur dann werde es dazu kommen, daß viel Wasser in den Oberböden verdunstet – und wieder reichlich Stauraum für Niederschlag zur Verfügung stehe …

    "Das wird jetzt spannend! Wir müssen wirklich die nächsten zwei Wochen im Auge behalten. Danach, denke ich, würde sich dann die Lage deutlich entspannen."