Eine Studie des Unicef-Forschungszentrum Innocenti in Florenz hat das Wohlbefinden von Kindern in 41 Ländern der OECD und der Europäischen Union verglichen. Dabei ging es um mentale und körperliche Gesundheit sowie um soziale und intellektuelle Kompetenzen. Deutschland landete in der Gesamtbewertung dabei nur auf dem 14. Platz. Am besten wurde in der Studie das Wohlbefinden von Kindern in den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, der Schweiz und Finnland eingestuft. Am schlechtesten schnitten Chile, Bulgarien und die Vereinigten Staaten ab. Zudem gaben in Deutschland lediglich 72 Prozent der Mädchen und Jungen an, es falle ihnen leicht, Freundschaft zu schließen. Hier liegt Deutschland im unteren Bereich. Deshalb sei es wichtig in den Schulen, nicht nur intellektuelle Kompetenzen zu fördern, sondern auch das soziale Lernen zu unterstützen, betonte Rudi Tarne, Sprecher von Unicef Deutschland, im Gespräch mit dem Dlf. Zudem müssten benachteiligte Kinder unterstützt werden. Denn trotz einer langen Phase der Hochkonjunktur sei auch die Kinderarmut in Deutschland relativ konstant geblieben.
Friedbert Meurer: Was macht deutsche 15-Jährige unglücklich?
Rudi Tarneden: Das ist schwer zu sagen. Erst mal ist es wichtig: Wohlstand ist ja keine Garantie für Glück und für gutes Aufwachsen. Ich glaube, das muss man berücksichtigen. Es geht darum zu fragen, was brauchen eigentlich Kinder auch in Industrieländern, damit sie gut aufwachsen können, damit sie ihre Fähigkeiten entfalten, damit sie gut gebildet sind. UNICEF hat international Indikatoren verglichen, die auf ein gutes Aufwachsen hinweisen. Dabei schneiden die deutschen 15-Jährigen relativ im Mittelfeld ab. 75 Prozent sind zwar zufrieden, aber ein Viertel ist es nicht. In Holland sind es 90 Prozent, in Finnland 84, in Spanien 82.
Meurer: Ist das ein Zertifikat für die Schulen, oder wie müssen wir das interpretieren?
Tarneden: Möglicherweise – man muss vorsichtig sein: Spielt da eine Rolle, dass auch der öffentliche Diskurs oder auch die Art und Weise, wie Eltern mit Kindern umgehen, sehr stark von Angst und Sorgen getrieben sind? Unsere Gesellschaft und wir alle vermitteln jungen Menschen eigentlich nicht den Mut und die Zuversicht, die sie brauchen, um die Herausforderungen, die vor ihnen liegen, anzugehen. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.
Ich will noch auf ein zweites Ergebnis hinweisen. Da geht es um die Frage, wie zuversichtlich seid ihr eigentlich, gute Freunde zu finden. Da sagen bei den deutschen Jugendlichen nur 72 Prozent, fast ein Drittel sagt, ich bin gar nicht zuversichtlich, dass ich schnell Freunde finde.
"Nicht nur intellektuelle Kompetenzen fördern"
Meurer: Haben Sie eine Erklärung, woran das liegt, dass deutsche Jugendliche sich damit schwerer tun als andere?
Tarneden: Es ist schwer zu sagen. Was ein Punkt sein könnte ist: Wir haben in den letzten Jahren gerade in den Schulen sehr stark eine Entwicklung gehabt, wo wir das kognitive Lernen, Stichwort Pisa-Schock, gefördert haben, wo im Grunde genommen ja auch teilweise schon, durchaus häufig kritisiert, ein Trichterlernen wieder eingesetzt hat und dass für das soziale Lernen, durch Schulzeitverkürzung und so weiter, weniger Raum ist. Deswegen glauben wir, dass es wichtig ist, wenn es um Kompetenzen geht, nicht nur intellektuelle Kompetenzen zu fördern, sondern auch das soziale Lernen zu unterstützen, zum Beispiel indem man die Kinderrechte in Schulen unterstützt.
Meurer: Sie sagen "soziales Lernen". Da denkt man bei Schulen an Mobbing. Wird in Deutschland mehr gemobbt als in anderen Ländern?
Tarneden: In fast allen Industrieländern ist Mobbing mit dem Fortschreiten der Internet-Nutzung ein ganz großes Thema. Wir liegen da im Durchschnitt. Allerdings muss man darauf verweisen, dass zum Beispiel in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren die Zeit, die Kinder online verbringen, sich verdoppelt hat und heute wir fast davon ausgehen, dass die permanent online sind. Mit dieser Online-Verfügbarkeit ist nicht unbedingt die Kompetenz, mit diesen Möglichkeiten umzugehen, wirklich mitgewachsen. Auch das ist ein großes Thema für das soziale Lernen.
Corona-Pandemie könnte Probleme verstärken
Meurer: Der Appell an die Eltern, wenn ich Sie richtig verstehe, ist: Schaut, dass eure Kinder nicht zu viel am Handy und am Computer sind. Haben wir zugegebenermaßen schon oft gehört. Aber auch: Strahlt mehr Selbstvertrauen aus, mehr Optimismus, weil Sie sagen, die Deutschen sind offenbar ängstlich?
Tarneden: Ich glaube, es geht nicht nur darum, hier psychologische Faktoren in den Raum zu stellen. Es geht auch ganz handfest und ganz konkret darum, benachteiligte Kinder zu unterstützen. In Deutschland haben wir konstant seit vielen Jahren eine Kinderarmutsrate von 15 Prozent, wenn man 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zugrunde legt, also eine Armutsrisikoquote. Trotz sehr langer Hochkonjunktur ist die nicht wirklich gesunken und auch das ist eigentlich ein Punkt, auf den wir Acht geben müssen. Denn wir sehen ja alle, diese Probleme werden ja durch die Corona-Pandemie wie in einem Brennglas im Grunde genommen noch mal angeheizt.
Meurer: Diese Studie bezieht Corona noch nicht ein. Kurze Frage noch zum Schluss: Ist es mit Corona vermutlich eher noch schlimmer geworden?
Tarneden: Die Zahlen kennen wir nicht. Wir befürchten, dass die Corona-Herausforderungen, zum Beispiel Bildungsungleichheit, aber auch Isolation und psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen, stark befördert haben. Und wir sehen auch, dass das Risiko besteht, dass die Kinderarmut wieder steigt. Deswegen muss hier gegengesteuert werden, und zwar rechtzeitig.
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