Stefan Heinlein: In wenigen Tagen, im März geht der Bürgerkrieg in Syrien in sein achtes Jahr. Längst ist aus diesem Bürgerkrieg auch ein Stellvertreterkrieg geworden. Größere und kleinere Mächte erhoffen sich Vorteile - Russland und die USA, die Türkei und der Iran. Was die Menschen in den verschiedenen Kriegsgebieten jeden Tag erleiden müssen, übersteigt in den meisten Fällen das eigene Vorstellungsvermögen. Ein Massaker, das es zu verurteilen gilt - so die klaren Worte der Bundeskanzlerin im Bundestag.
Nun gibt es zumindest einen kleinen Funken Hoffnung. Die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates haben am Wochenende nach langer Debatte eine Resolution über eine sofortige Waffenruhe angenommen. Eine Chance für die internationalen Hilfsorganisationen, die notleidenden Menschen in Ost-Ghuta zumindest mit dem Notwendigsten zu versorgen.
Bei mir im Studio ist Ninja Charbonneau von Unicef Deutschland, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Guten Morgen, Frau Charbonneau.
Ninja Charbonneau: Guten Morgen.
"Der erste Hoffnungsschimmer"
Heinlein: Wie wichtig ist diese Resolution für Ihre Arbeit?
Charbonneau: Sie ist sehr wichtig, weil sie ein Signal ist. Es ist zumindest ein Hoffnungsschimmer, der erste Hoffnungsschimmer seit langem für die Menschen in Ost-Ghuta, vor allen Dingen für die Familien und Kinder. Aber dem müssen jetzt natürlich erst mal Taten folgen. Das heißt, wir müssen sehen, dass es wirklich auch eine Waffenruhe gibt, die diesen Namen verdient, damit die Helfer rein können und ihren Job machen können.
Heinlein: Wie rasch können Sie denn in die Stadt nach Ost-Ghuta, um dort dann Nahrung, Wasser und Medikamente zu verteilen? Gibt es da schon Indizien?
Charbonneau: Sobald wir Zugang haben, sind wir drin. Das geht, innerhalb von 24 Stunden wäre das kein Problem, denn Damaskus ist nur wenige Kilometer entfernt. Die Entfernungen sind ja… das ist ein Steinwurf sozusagen von Ost-Ghuta. Dort haben wir unsere Warenlager, dort haben wir unser Hauptbüro. Wir können jederzeit rein. Wir sind auf Standby und sobald sich die Möglichkeit bietet, werden wir den Familien helfen.
"Mindestens zwölf Prozent der Kinder mangelernährt"
Heinlein: Die Stadt war ja belagert von den Assad-Truppen. Das war eine fast mittelalterliche Strategie mit dem Versuch, die Menschen quasi auszuhungern und zum Aufgeben zu bewegen. Wer kontrolliert dann in Zukunft, was Sie in die Stadt bringen?
Charbonneau: Ja, es ist überall im Land so, dass wir natürlich darauf angewiesen sind, zu verhandeln mit denjenigen, die die Kontrolle haben über das jeweilige Gebiet. In letzter Zeit hat die Regierung mehr Gebiete zurückerobert und mehr Gebiete stehen deshalb unter Regierungskontrolle. Aber egal wo, wir unterscheiden nicht, sondern wir bringen Hilfe zu den Kindern, zu den Familien, egal wo sie sind, und haben das auch immer wieder von allen Konfliktparteien eingefordert.
Heinlein: Sie unterscheiden nicht, Frau Charbonneau, sagen Sie. Unicef unterscheidet nicht. Gehen Nahrung und Medikamente nicht nur an die Zivilbevölkerung, sondern möglicherweise auch an die islamistischen Kämpfer und Rebellen, die in Ost-Ghuta dort aktiv sind?
Charbonneau: Wir verteilen Hilfe an Kinder, an Familien. Die Kinder können nichts für diesen Krieg. Sie sind gefangen in diesem Konflikt. Sie leiden darunter. Wir wissen, dass in Ost-Ghuta mindestens zwölf Prozent der Kinder mittlerweile mangelernährt sind durch diese Abriegelung und durch diese, wie Sie es auch zurecht genannt haben, mittelalterliche Strategie, die Leute auszuhungern. Das ist sehr besorgniserregend und die Kinder – ich sage es noch mal -, sie können nichts für diesen Konflikt und brauchen dringend Hilfe.
"Lage ist nach dem Bombardement mit Sicherheit noch dramatischer"
Heinlein: Wird es denn auch die Möglichkeit geben, ist das absehbar, die Verwundeten, Kinder und andere Menschen aus der Stadt zu bringen? Die medizinische Infrastruktur, die Krankenhäuser, das war ja ein Ziel dieses Bombenhagels von Assad.
Charbonneau: Ja, genau. Zuletzt ist es am 14. Februar, vor knapp zwei Wochen, einem UN-Konvoi gelungen, nach Ost-Ghuta reinzukommen, und auch Unicef-Mitarbeiter waren bei diesem Konvoi dabei. Was sie geschildert haben, sind wirklich dramatische Szenen von Menschen, die völlig ausgehungert waren, die schwer verletzt waren, die mangelernährt waren, die völlig erschöpft waren. Es ist dringend Hilfe nötig.
Schon da sagten die Vereinten Nationen, sie rechnen damit, dass 700 Menschen evakuiert werden müssen aus medizinischen Gründen. Das war noch vor dem schweren Bombardement der letzten Tage, wo ja weitere Krankenhäuser offenbar zerstört worden sind. Das heißt, die Lage ist jetzt mit Sicherheit noch dramatischer geworden.
Wasserversorgung, Schulaufbau, psychosoziale Hilfe
Heinlein: Ist Ost-Ghuta die einzige Region, wo Unicef aktiv ist in Syrien, oder gibt es noch andere Regionen?
Charbonneau: Ja, wir sind in ganz Syrien aktiv. Ich bin selbst im November in Aleppo gewesen und habe mir dort die Programme ansehen können. Auch Aleppo stand ja vor etwas mehr als einem Jahr in den Schlagzeilen wegen der schweren Bombardements. Das Ergebnis kann man da jetzt sehen: Die Hälfte der Stadt, mehr oder weniger, liegt in Trümmern und die Menschen stehen vor dem Nichts. Sehr viele sind binnenvertrieben, haben aber auch keine Häuser, zu denen sie wieder zurückkehren können.
Dort leisten wir umfangreiche Hilfe durch Wasserversorgung, durch Schulaufbau, durch psychosoziale Hilfe für die Kinder. Aber auch zum Beispiel im Norden haben wir jetzt neu wieder Zugang zu den ehemals IS-Gebieten und auch dort ist der Bedarf gewaltig.
"UN-Sicherheitsrat nur so so stark wie seine Mitglieder es zulassen"
Heinlein: Frau Charbonneau, Unicef ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, eine Tochter der UN, der Vereinten Nationen. Wie haben Sie in Köln das tagelange Gezerre im UN-Sicherheitsrat in New York um eine Waffenruhe beobachtet?
Charbonneau: Ja, das ist natürlich schwer erträglich für alle, die wie wir mit leiden mit den Menschen in Syrien und die sich nichts sehnlicher wünschen, mit den Menschen dort, dass endlich Frieden herrscht oder dass zumindest eine Waffenruhe herrscht. Dass die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sich dort tagelang nicht einigen konnten, das war schon sehr schwer zu ertragen.
Heinlein: Schwer zu ertragen. - Ist man auch ein Stück weit wütend auf die Politik, auf den Weltsicherheitsrat, auf die Akteure dort, auf dieses Taktieren? Schämt man sich vielleicht sogar, dass Ihre Dachorganisation da nicht schneller reagiert?
Charbonneau: Ich finde, man muss da unterscheiden, denn wir reden hier von dem UN-Sicherheitsrat. Der ist immer nur so gut und so stark, wie seine Mitglieder es zulassen. Aber zu den Vereinten Nationen gehören auch wir als UN-Kinderhilfswerk. Zu den Vereinten Nationen gehört auch das Welternährungsprogramm, die Weltgesundheitsorganisation, das Flüchtlingshilfswerk und viele andere, die wirklich Enormes leisten, und das schon seit Beginn des Konfliktes, seit fast sieben Jahren, und ich finde, das darf man dabei auch nicht vergessen.
"Viele Kollegen riskieren Tag für Tag ihr eigenes Leben"
Heinlein: Wenn Sie sich, Frau Charbonneau, etwas wünschen könnten als Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, als Unicef, welche Reform der Vereinten Nationen, der UN wäre da aus Ihrer Sicht am notwendigsten?
Charbonneau: Da gibt es sicherlich auch einiges, was sich verbessern ließe. Das ist gar keine Frage. Effizienz - da kann man immer weiter dran arbeiten; Transparenz, da kann man weiter dran arbeiten. Da gibt es mit Sicherheit noch viel zu tun. Aber ich finde auch, jetzt immer auf den Vereinten Nationen herumzuhacken, während viele von unseren Kollegen gerade in Syrien auch ihren Kopf riskieren, Tag für Tag ihr eigenes Leben riskieren, um Menschen zu helfen, da tue ich mich dann auch schwer mit.
"Es ist immer blutiger, immer komplizierter geworden"
Heinlein: Dennoch die Frage. Sind die Vereinten Nationen in ihrer jetzigen Form überhaupt noch in der Lage, auf Konflikte wie in Syrien angemessen zu reagieren? Die UN wirkt ja an vielen Stellen recht hilflos und viele fordern andere Strukturen.
Charbonneau: Welche Strukturen sollen das denn sein, wenn Sie mir mal eine Gegenfrage erlauben? Denn wir haben keine Alternativen zu der Diplomatie. Wir haben gesehen, gerade in Syrien, dass die Lage nicht besser geworden ist für die Menschen vor Ort, je mehr Akteure sich einmischen. Im Gegenteil: Es ist immer blutiger, immer komplizierter geworden. Das heißt, es gibt keine Alternative zu den Vereinten Nationen. Es gibt keine Alternative zu Gesprächen und einem Friedensprozess, auch wenn der lange dauern wird.
Heinlein: Noch einmal zurück zur praktischen Ebene, Frau Charbonneau. Wie gut funktioniert denn die Zusammenarbeit dieser großen Hilfsorganisation, der Unicef, mit den kleineren privaten Organisationen?
Charbonneau: Wir arbeiten überall, so auch in Syrien, immer mit einem breiten Netzwerk von Partnern zusammen. Das sind einerseits unsere UN-Partnerorganisationen, aber eben immer auch ein sehr breites Netz aus Nichtregierungsorganisationen, nationalen und internationalen. Anders können wir unsere Arbeit gar nicht machen.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Ninja Charbonneau, Sprecherin von Unicef Deutschland. Ganz herzlichen Dank für den Besuch hier im Studio.
Charbonneau: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.