
Einen „Angriff auf die Zivilgesellschaft“ sehen die einen, die anderen einen „notwendigen“ parlamentarischen Vorgang - selten hat ein Papier aus den Niederungen der Arbeit im Deutschen Bundestag so hohe Wellen geschlagen wie die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur politischen Neutralität von staatlich geförderten Organisationen. In 551 Fragen wollen die Abgeordneten der Union mehr über deren Finanzierung, Unabhängigkeit und mögliche politischen Verbindungen erfahren. Zu den Organisationen, um die es geht, zählen das Recherchenetzwerk CORRECTIV, der Verein Omas gegen Rechts, die Deutsche Umwelthilfe oder Greenpeace.
Hintergrund der Anfrage: Die Organisationen hatten zu Protesten gegen die Union aufgerufen, als diese für Anträge im Bundestag auf Stimmen der AfD gesetzt hat. Gleichzeitig werden die zivilgesellschaftlichen Institutionen mit staatlichen Geldern unterstützt. Sind sie damit politischer Neutralität verpflichtet? Darüber wird gestritten.
Die Bundesregierung hat inzwischen auf die umstrittene Anfrage geantwortet und weist den Vorwurf angeblicher „Schattenstrukturen“ zurück. Sie sieht keine Anhaltspunkte für diese Behauptung und betont, dass gemeinnützige Organisationen politische Bildungsarbeit leisten dürfen, solange sie nicht gezielt parteiergreifend agieren. Dies habe auch der Bundesfinanzhof bestätigt.
Auf Anfrage des Deutschlandfunk Hauptstadtstudios hieß es von der Unionsfraktion nach Beantwortung ihrer Fragen lediglich, dass dort diese Antworten sorgfältig ausgewertet würden. Die Erkenntnisse daraus würden in die Arbeit der Fraktion einfließen.
Was versteht man unter Zivilgesellschaft?
Zivilgesellschaft ist „ein Tätigkeitsfeld eigener Art zwischen Staat, Wirtschaft und Familie“, so definiert die Enquetekommission des Bundestages den Begriff. Dessen Ursprünge lassen sich bis zur griechischen Antike zurückverfolgen. Der Philosoph Aristoteles sprach von einer „societas civilis“ als politische Gemeinschaft und idealer Lebensform freier Bürger.
Der italienische Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) fasste Anfang des 20. Jahrhunderts darunter die Gesamtheit aller nicht-staatlichen Organisationen, die auf den „Alltagsverstand und die öffentliche Meinung“ Einfluss haben. Darunter fallen heute selbstorganisierte, freiwillige Assoziationen wie Vereine und Verbände, NGOs, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, Stiftungen und Freiwilligendienste – insgesamt ein sehr vielfältiges Spektrum.
Welche Rolle spielt der Staat für die Zivilgesellschaft?
Der Staat setzt durch Gesetze die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft. Die Basis sind in Deutschland die Regelungen des Grundgesetzes. Damit sich alle Menschen beteiligen können, stärkt die Politik das Engagement der Bürger: Sei es durch Projektförderungen, Kostenübernahme, Bürokratieabbau oder Steuerfreibeträge für gemeinnützige Vereine. Zuletzt hat das Bundeskabinett eine entsprechende Engagementstrategie beschlossen. Dabei gilt: Die Bundesregierung ist zu staatlicher Neutralität verpflichtet und fördert keine Maßnahmen, die zielgerichtet für eine politische Partei werben oder zielgerichtet gegen eine politische Partei Einfluss nehmen.
CSU/CSU versus Zivilgesellschaft - wo liegen die Reibungspunkte?
Ein Knackpunkt im Verhältnis zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind die Finanzen, verbunden mit der Frage der Neutralität. Auf diesen Zusammenhang zielt auch die kleine Anfrage von CDU/CSU.
Verbände oder Initiativen können auf zwei Wegen finanziell unterstützt werden. Zum einen gibt es direkte Zahlungen von staatlichen Fördergeldern. Die werden auf Antrag meist für konkrete Projekte bewilligt und ausgezahlt. Eines der größten Programme ist beispielsweise „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums. Jährlich werden über 500 Einzelprojekte unterstützt, das Gesamtvolumen liegt bei derzeit 182 Millionen Euro.
Zum anderen gibt es indirekte finanzielle Vorteile durch den Status der Gemeinnützigkeit, der steuerliche Entlastungen bringt. Voraussetzung ist die Anerkennung, dass die Gruppe gemeinnützigen Zielen dient. Die Regeln sind in der sogenannten Abgabenordnung festgelegt.
Sie schließt politische Positionierungen von Verbänden und NGOs nicht aus, jedoch gibt es Grenzen: 2019 verloren die Globalisierungskritiker von Attac durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs den Status der Gemeinnützigkeit. Zur Begründung hieß es: "Die Einflussnahme auf politische Willensbildung und öffentliche Meinung ist kein eigenständiger gemeinnütziger Zweck (...)"
Welche Argumente werden ausgetauscht?
Die Kritik an der Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ist heftig. Betroffene Institutionen fühlen sich unter Generalverdacht gestellt, der Grünen-Politiker Sven Giegold sprach von einem „Einschüchterungsversuch“. In einem offenen Brief äußern einige der betroffenen Organisationen ihre Sorgen. Darin heißt es: „Gerade in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Spannungen sollten demokratische Parteien sich nicht an Versuchen beteiligen, zivilgesellschaftliches Engagement durch öffentliche Zweifel und potenzielle rechtliche Konsequenzen zu delegitimieren“.
Kritiker weisen darauf hin, dass sich die Anfrage allein auf Organisationen ausrichtet, die sich gegen rechtsradikale Positionen stellen und an den Demonstrationen gegen die Union beteiligt waren. Das sei eine „Retourkutsche“, meint der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder, der bis 2024 Mitglied der SPD-Grundwertekommission war. SPD-Partei- und Fraktionschef Lars Klingbeil sprach von einem „Foulspiel“.
Über 1.700 Wissenschaftler rügen in einem weiteren offenen Brief den „konfrontativen Unterton“ der Anfrage und die Tatsache, dass die Union das Narrativ eines „tiefen Staates“ aufgreife. Die Wissenschaftler kritisieren zudem die Rechtsauffassung der Union, weil die Neutralitätspflicht des Staates nicht auf geförderte Organisationen zu übertragen sei.
Die Union sieht dagegen ein rechtliches Spannungsfeld, wenn es eine „Schattenstruktur“ gäbe, „die mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreibt“, wie es in der parlamentarischen Anfrage heißt. Der implizierte Vorwurf: Unter den geförderten Institutionen finden sich auch sogenannte Vorfeldorganisationen, die Parteien wie der SPD, den Grünen oder den Linken nahestehen.
CDU-Chef Friedrich Merz sagte in einem Zeitungsinterview, es sei „ein Widerspruch in sich“, wenn eine Nichtregierungsorganisation von der Regierung gefördert würden. Zudem begegnete er der Kritik an der Anfrage mit einem betont formellen Argument: Es sei „nicht ungewöhnlich“ und „notwendig“, dass aus dem Parlament nach dem Umgang mit Steuergeldern gefragt werde.
Die Bundesregierung hat auf die umstrittene Anfrage der CDU/CSU-Fraktion reagiert und den Vorwurf sogenannter Schattenstrukturen zurückgewiesen. Sie sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass die geförderten NGOs eine solche Struktur bildeten.
Zudem betonte die Bundesregierung, dass es nicht ihre Aufgabe sei, „allgemeine Informationen über die Aktivitäten und Kontakte von Organisationen zu sammeln, zu überwachen oder zu bewerten“. Auf konkrete Fragen der Union zu einzelnen Organisationen antwortete sie oft mit: „Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“
Wer hat Interesse daran, die Zivilgesellschaft einzuschränken?
Die Wucht der Kritik am Vorgehen der Union ist im Kontext besser zu verstehen. In der Vergangenheit ist vor allem die in Teilen rechtsextreme AfD damit aufgefallen, Druck auf zivilgesellschaftliche Institutionen auszuüben.
Jura-Professor Maximilian Pichl von der Hochschule RheinMain in Wiesbaden ist alarmiert und hat aus diesem Grund den offenen Brief an die CDU mitinitiiert: „Aus unserer Forschung über autoritäre Mechanismen wissen wir, dass immer zuerst die demokratische Zivilgesellschaft unter Druck gesetzt wird.“ Gerade im Kampf gegen Rechtsextremismus brauche es aber Handlungsfähigkeit, deshalb sei ein Demokratiefördergesetz notwendig, das diesen Handlungsrahmen erlaubt. Anläufe für ein entsprechendes Gesetz hat es schon mehrmals gegeben, der jüngste Anlauf scheiterte wegen Unstimmigkeiten innerhalb der Ampel-Koalition.
jk