Jasper Barenberg: Vom Theaterdonner und den Drohgebärden aus München einmal ganz abgesehen: Auch in der Unions-Fraktion gärt und wächst die Unzufriedenheit mit dem Kurs der Kanzlerin und der Bundesregierung seit Wochen. In den letzten Tagen nun muss Angela Merkel zur Kenntnis nehmen, dass der Innenminister im Alleingang den Familiennachzug für syrische Flüchtlinge einschränken will, und aus der Zeitung erfährt sie, dass für sie auch wieder das sogenannte Dublin-Verfahren eingeführt wird. Höhepunkt der Absetzbewegung: Wolfgang Schäuble entwirft das Bild eines unvorsichtigen Skifahrers, der leichtfertig eine Katastrophe auslöst.
Am Telefon ist der Publizist und Buchautor Hugo Müller-Vogg. Schönen guten Tag.
Hugo Müller-Vogg: Guten Tag, Herr Barenberg!
Barenberg: Das Wort vom Putsch macht ja jetzt schon einige Tage die Runde. Wie viel ist da dran?
Müller-Vogg: Es gibt sicherlich einen großen Unmut in der Partei und in der Fraktion über den Kurs der Kanzlerin. Aber für einen Putsch brauche ich zweierlei. Ich brauche Putschisten, die bereit sind, ihre eigene Karriere für diese Sache notfalls zu opfern, und die Putschisten brauchen jemanden, den sie zum Anführer machen. Selbst wenn jemand gegen Merkel jetzt wirklich putschen wollte, braucht er erst mal jemand, wo er sagen kann, mit dem Mann oder der Frau ersetzen wir die Kanzlerin, und da sehe ich auf weiter Flur niemanden.
Schäubles Sorge ist, dass Europa auseinanderfällt
Barenberg: Was hat es denn dann zu bedeuten, wenn sich nach Thomas de Maizière nun auch Wolfgang Schäuble öffentlich einmal mehr und in diesem Fall ja wirklich besonders deutlich vom Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik absetzt?
Müller-Vogg: Wolfgang Schäuble ist ja sehr loyal zur CDU. Er hat ja auch manche persönliche Kränkung, Demütigung und alles hingenommen und der Partei sozusagen nie das negativ zurückgezahlt. Wolfgang Schäuble sorgt sich, glaube ich, sehr stark, dass die Entwicklung, so wie sie ist, die Union an Zustimmung kostet und dass es Wasser ist auf die Mühlen der rechtspopulistischen AfD. Seine zweite große Sorge ist, dass Europa auseinanderfällt, denn er ist ja gewiss ein glühender Europäer. Deshalb möchte er, dass die Union den Kurs ändert, und er unterstützt die, die auch für die Kursänderung sind. Aber er möchte, glaube ich, nicht Merkel stürzen, weil Schäuble ist viel zu erfahren, um nicht zu wissen, dass Angela Merkel im Wahlkampf 2017 aus heutiger Sicht stärker wäre als alle vergleichbaren Spitzenkandidaten. Insofern möchte er, dass der Kurs in der Flüchtlingspolitik geändert wird, damit die CDU/CSU 2017 die Wahl gewinnt, und zwar mit Angela Merkel an der Spitze.
Er würde es nicht mit der Brechstange versuchen
Barenberg: Es gibt ja schon vor dieser jüngsten Äußerung von Wolfgang Schäuble seit einiger Zeit Mutmaßungen und Überlegungen, jedenfalls in der veröffentlichten Meinung, über Wolfgang Schäuble als möglicher Ersatzkanzler, als Kanzlerkandidat im Wartestand. Es gibt den Verweis auf seine Bemerkung, dass Adenauer schließlich auch nicht älter als er gewesen sei, als seine Kanzlerschaft begann. Welche Interessen verfolgt er? Sie haben gesagt, er will eine Kursänderung erzwingen. Aber man hat ja langsam den Eindruck, es steckt doch mehr dahinter.
Müller-Vogg: Ich habe nicht den Eindruck, dass Wolfgang Schäuble Merkel stürzen möchte. Eines ist, glaube ich, unbestritten: Wenn die Kanzlerin morgen aus welchen Gründen auch immer nicht mehr zur Verfügung stünde, wäre er der, der von der CDU/CSU-Fraktion als Kanzler vorgeschlagen würde und dann auch wohl zum Kanzler gewählt würde. Das ist, glaube ich, unbestritten. Aber dass man Merkel stürzt, um Schäuble ins Amt zu hieven, dafür sehe ich keinen Anhaltspunkt, und er ist auch nicht der, der so etwas mit der Brechstange versucht. Er hat ja auch schon mal in der Endphase Kohl beispielsweise, wo es viele gab, auch in der Partei, die gesagt haben, das muss jetzt der Schäuble endlich übernehmen, hat er zwar das nicht unterbunden, dass darüber spekuliert wurde, er hat das auch in gewisser Weise genossen, aber er ist nie zum Sprung angesetzt.
Barenberg: Ich verstehe Sie so: Sie haben uns ja erklärt, dass Putschisten zweierlei brauchen, nämlich erst mal Rückhalt dafür und zweitens eine personelle Option. Kann man also sagen, es fehlt im Moment diese Möglichkeit, aber wir nähern uns dem Willen, diesen Schritt zu gehen? Oder anders gefragt: Wie stark ist die Kanzlerschaft von Angela Merkel in dieser Flüchtlingskrise, durch diese Flüchtlingskrise in Gefahr?
CDU/CSU ist an Wahlergebnissen orientiert
Müller-Vogg: Die Kanzlerschaft von Angela Merkel ist im Moment sicherlich nicht in Gefahr, denn in einem Punkt kann man sich auf die CDU/CSU immer sehr verlassen. Die Union ist extrem orientiert an Wahlergebnissen und es gibt drei Landtagswahlen im Frühjahr, wobei Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg für die CDU von ganz besonderer Bedeutung sind, und die CDU weiß ganz genau, dass wenn sie jetzt intern putscht und es ein Durcheinander gibt und Grabenkämpfe und man weiß auch gar nicht, wie das ausgeht, dass das die Wahlchancen im Frühjahr nicht befördert. Also, wenn die Union bei den Landtagswahlen dort gut abschneidet - und es spricht ja einiges dafür, dass sie sogar - das klingt jetzt grotesk - dank der Hilfe der AfD den Ministerpräsidenten stellen kann; denn wenn die AfD in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg den Sprung ins Parlament schafft, wird es für Rot-Grün oder Grün-Rot nicht mehr reichen, sodass dann die CDU als mit Abstand stärkste Fraktion zum Zuge käme. Also, es kann nach der Wahl durchaus so aussehen, dass trotz aller Turbulenzen die Union eher noch ihre Machtposition insgesamt ausgebaut hat. Sollte es allerdings bei den Landtagswahlen drastische Einbrüche für die Union geben, dann allerdings würde ich dann auch nicht mehr allzu hoch wetten, dass Angela Merkel das noch bis 2017 durchhält.
Barenberg: Sie haben ja vermutlich völlig recht, dass vor allem die Union eine Partei ist, die auf ihre Wahlchancen schaut, und da liegt es natürlich auf der Hand, dass sie eigentlich mit Angela Merkel die besten Aussichten hat für beispielsweise die Bundestagswahl 2017. Umso mehr wundert man sich ja jetzt über die Schärfe im Tonfall inzwischen, und daher kommt ja die Frage, ob mehr dahinter steckt als nur die berechtigte Sorge, was in der Sache den Kurs in der Flüchtlingspolitik angeht.
Die Abgeordneten spüren in den Wahlkreisen die Probleme
Müller-Vogg: Ja gut, man merkt das natürlich schon deutlich. Die Abgeordneten merken das natürlich in den Wahlkreisen. Wir haben einerseits eine große Bereitschaft der Menschen, Flüchtlingen zu helfen, und wir haben auf der anderen Seite aber auch eine weitverbreitete Sorge, dass wir das nicht schaffen, nicht im Sinne, ob wir 100.000 mehr oder weniger unterbringen können, sondern ob wir es schaffen, auf Dauer einen solchen Zustrom zu bewältigen und auch die Menschen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn mit der Ankunft und der Registrierung der Flüchtlinge ist ja die Arbeit nicht erledigt, sondern dann geht es erst mal los. Insofern spüren die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, dass sie auch gerade bei der eigenen Wählerschaft Probleme haben. Allerdings wenn man jetzt mal die CDU/CSU-Fraktion vergleicht mit der SPD: Dass es Widerworte gibt gegen das, was die Führung sagt, und nicht nur Beifall, das ist in der SPD- oder der Grünen-Fraktion oder bei den Linken gang und gäbe.
Barenberg: Darauf wollte ich gerade hinaus. Wenn man nämlich vergleicht, die Unions-Fraktion auf der einen Seite und die SPD auf der anderen Seite, dann fällt doch wirklich ins Auge, dass die Union sich zerreißt im Moment an dieser Frage, während es in der SPD natürlich auch Kommunalpolitiker gibt, die ihre Sorgen artikulieren und ihre Ängste und die für eine Reduktion der Flüchtlinge plädieren, und doch bleibt die SPD im Vergleich geschlossener als die Union. Wie erklären Sie sich das?
Die SPD macht das nicht ungeschickt
Müller-Vogg: Die SPD erscheint geschlossener, weil die Hauptverantwortung in diesem Fall liegt beim Innenminister (CDU) und bei der Kanzlerin (CDU), sodass die SPD da ein bisschen mitschwimmen kann. Ich meine, die SPD macht es nicht ungeschickt. Die SPD sagt, wir können nicht alle aufnehmen, aber wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu beschließen, wie man den Zustrom zumindest abmildern kann, dann ist die SPD plötzlich wiederum sehr hart und sagt, beispielsweise Transitzonen werden dann verglichen mit Haftanstalten oder gar Konzentrationslagern. Die SPD schlängelt sich da durch. Sie nutzt die Position, die sie hat, nämlich als der kleinere Koalitionspartner, und duckt sich auch ein bisschen weg, was aus ihrer Sicht ganz verständlich ist angesichts der Tatsache, dass es in der Union selbst jetzt einen Streit über den Kurs gibt.
Barenberg: Ob es gelingen wird, die Kanzlerin zu einer Kurskorrektur zu erzwingen, das werden wir dann möglicherweise schon heute Abend erleben, wenn die Kanzlerin dem ZDF ein Interview gibt und sich rechtfertigen muss für ihre Politik. Vielen Dank für den Augenblick an den Publizisten und Buchautor Hugo Müller-Vogg. Danke für das Gespräch heute Mittag.
Müller-Vogg: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.